Operation "Sophia" – Wie sich Europa militärisch abschottet

Stellungnahme des Bundesministeriums der Verteidigung vom 14.10.2015

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Stellungnahme ARD-Magazin MONITOR

1.) Aus einer Antwort der Bundesregierung vom 18.09.2015 (Frage Nr. 9-67) an die Abgeordnete Agnieszka Brugger (Bündnis90/Die Grünen) geht hervor, dass Schiffe der Deutschen Marine vom 07.05.2015 bis 30.06.2015 5844 Menschen aus Seenot im Mittelmeer gerettet haben. Vom 30.06.2015 bis 18.09.2015, als die deutschen Schiffe im Rahmen der Mission EUNAVFOR MED eingesetzt wurden, wurden lediglich 1419 Menschen aus Seenot gerettet (1590 von allen EUNAVFOR MED-Kräften).

Wie erklärt das Bundesministerium der Verteidigung (BMVg) diesen Rückgang?

Vom 7. Mai 2015 bis zum 13. Oktober 2015 haben die Besatzungen der deutschen Marineschiffe 8829 Menschen aus Seenot gerettet.

Wie viele Menschen ein Schiff zu welchem Zeitpunkt rettet, ist nicht vorhersagbar und hängt von zahlreichen Faktoren ab: Anzahl tatsächlich in Seenot geratener Menschen, Anzahl im Seegebiet befindlicher Boote und Schiffe (die sich seit Beginn des Engagements im Mittelmeer wesentlich vergrößert hat), sowie der Grad der Eignung bzw. Kapazität zur Seenotrettung bei mehreren in Frage kommenden Schiffen. Zudem ist nach FRONTEX Angaben ein Rückgang bei den „unerlaubten Grenzübertritten“ im Bereich Zentrales Mittelmeer von 25.031 im Monat August 2014 auf 12.705 im Monat August 2015 zu verzeichnen.

Flüchtlingsorganisationen werfen EUNAVFOR MED vor, dass die Marine im Rahmen der Mission seit dem 30.06.2015 die Seenotrettung vernachlässige, um sich stattdessen der Aufklärung von Schleppernetzwerken zu widmen. Wie bewerten Sie diesen Vorwurf?

Die Einheiten von EUNAVFOR MED setzen die Rettung Schiffbrüchiger auch im Rahmen der Operation ohne Einschränkungen fort. Neben den 7 Schiffen, drei Seefernaufklärungsflugzeugen und vier Helikoptern der Operation EUNAVFOR MED patrouillieren 18 Einheiten (12 Schiffe, vier Flugzeuge, zwei Helikopter) der Frontex-Operation TRITON, 4 Schiffe der italienischen nationalen Operation MARE SICURO, 1 Schiff (EIR) unter nationaler Führung sowie 4 Schiffe von Internationalen oder privaten Organisationen im Seegebiet.

Die Organisation „Sea Watch“ berichtet (www.sueddeutsche.de/politik/aussenansicht-kanonenboot-politik-1.2669881), dass sie mehrfach europäische Marineschiffe um Hilfe zur Seenotrettung angefunkt habe. In den wenigsten Fällen sei die Hilfe auch erteilt worden. Wie bewerten Sie diese Kritik?

Das auf Grundlage der SAR-Konvention für Seenotrettungsfälle zuständige Koordinationszentrum (MRCC) für Notfälle in Rom weist dem jeweils am besten geeigneten Schiff (auch EUNAVFOR MED) Rettungseinsätze zu. Hierbei werden u.a. Aufnahmekapazität des Schiffes und die Entfernung zu den in Seenot geratenen Menschen als Entscheidungsgrundlage genommen. Dabei ist es unerheblich, welches Schiff zunächst „angefunkt“ wurde. Aufgrund der deutlich höheren Anzahl an zivilen Schiffen gegenüber den zur Verfügung stehenden militärischen Einheiten ist die Zuweisung der Rettung an ein ziviles Schiff statistisch erheblich wahrscheinlicher.

Was unterscheidet das nationale Seenotrettungsprogramm der Bundeswehr vom Mai 2015 bis 30.06.2015 vom Auftrag im Rahmen von EUNAVFOR MED/SOPHIA?

Bis zum 30. Juni 2015 bestand der Auftrag der Deutschen Marine-Schiffe darin, im Seegebiet im zentralen Mittelmeer zu patrouillieren und in Seenot geratene Menschen in Abstimmung mit dem zuständigen MRCC zu retten (vgl. vorherige Antwort). Seit Beginn von EUNAVFOR MED beteiligt sich die Bundeswehr zusätzlich im Rahmen eines umfassenden europäischen Ansatzes daran, gegen skrupellose Schleuser und Menschenhändler, die Menschen zu Tausenden in Lebensgefahr bringen, vorzugehen und damit zu verhindern, dass noch mehr Flüchtlinge in Seenot geraten. Die Verpflichtung zur Rettung von in Seenot Geratenen bleibt unberührt.

II.

Laut dem Missionsmandat, das vergangene Woche im Bundestag verabschiedet wurde (Drucksache 18/6013), ergibt sich nun unter anderem folgender Auftrag für die deutschen Marineschiffe: „Auf Hoher See Schiffe anhalten und durchsuchen, beschlagnahmen und umleiten, bei denen der Verdacht besteht, dass sie für Menschenschmuggel oder Menschenhandel benutzt werden.“

Was ist mit „Umleiten“ gemeint?

Umleiten bedeutet, dass der Besatzung des betroffenen Schiffes die Anweisung gegeben wird, eine vorgegebene Kursänderung vorzunehmen bzw. einen bestimmten Hafen oder eine bestimmte Position anzusteuern.

Wohin sollen diese Schiffe ggf. umgeleitet werden?

Bei Seenotfällen werden die Boote grundsätzlich nicht umgeleitet, sondern die in Seenotgeratenen von diesen Booten geborgen.
Für Schleuserboote ohne Flüchtlinge kann dies auch die Anweisung beinhalten, eine vorgegebene Position in See anzusteuern, damit es dort ggf. durch weitere Kräfte überprüft werden kann.

Im Operationsplan steht, dass die Schiffe in „sichere Häfen“ umgeleitet werden sollen. Was ist mit „sichere Häfen“ gemeint?

Nach den völkerrechtlichen Bestimmungen zu Seenotfällen sind in Seenot geratene Personen an einen sicheren Ort zu verbringen (Art 3.1.9 Annex zur SAR-Konvention). Sicher ist in diesem Zusammenhang ein Ort, an dem den Geretteten keine Gefahr für Leib und Leben droht.

Mutmaßliche Straftäter, wie z.B. verdächtige Schleuser, dürfen von Unterzeichnerstaaten der Europäischen Menschenrechtskonvention nur an Staaten übergeben werden, in denen ein rechtsstaatliches Strafverfahren ohne unangemessene Behandlung (z.B. Folter) und ohne unzulässige Strafen (z.B. Todesstrafe) sichergestellt ist.

Zählen dazu auch Häfen in Libyen, Tunesien oder Ägypten? (Falls ja: bitte aufschlüsseln, welche Häfen an der nordafrikanischen Küste als „sicher“ eingestuft werden)

Im Einsatzgebiet sind alle Voraussetzungen, die an einen sicheren Hafen gestellt werden, bei EU-Staaten (Malta, Italien) erfüllt. Ein Verbringen sowohl von Flüchtlingen als auch von mutmaßlichen Schleusern in afrikanische Häfen ist nicht vorgesehen.

Warum wurde im Operationsplan und im Mandat nicht eindeutig festgelegt, dass Flüchtlingsboote lediglich in europäische Häfen, bzw. Häfen von EU-Staaten umgeleitet werden dürfen?

Die Einhaltung des Non-Refoulement-Prinzips (Grundsatz der Nichtzurückweisung gem. Völkerrecht) und der Genfer Flüchtlingskonvention wird im Legal Annex des Operationsplans eindeutig angewiesen und das Mandat nimmt das operative Regelwerk der Mission in Bezug. Weitere Festlegungen wurden nicht für notwendig erachtet.

III.

3.) Nach Angaben von Flüchtlingen, zivilen Seenotrettern und Augenzeugen in Libyen gehen die Schlepper gar nicht mit an Bord der Flüchtlingsboote, sondern bleiben in libyschen Hoheitsgewässern bzw. an der Küste.

Ist das dem BMVg bekannt?

Nach hier vorliegenden Erkenntnissen verfahren die Schlepper tatsächlich sehr unterschiedlich. Sie befinden sich entweder an Bord des Flüchtlingsbootes, begleiten das Schlepperboot in separaten Booten oder unterstützen den Menschenschmuggel anderweitig von See aus.

Wie viele Schlepper wurden seit Missionsbeginn in internationalen Gewässern identifiziert?

Über die in Phase 1 der Operation gewonnenen Erkenntnisse kann an dieser Stelle keine detaillierte Auskunft gegeben werden.

Wie bewertet das BMVg die Situation der Flüchtlinge in Libyen?

Auch mit Blick auf die internationalen Menschenrechts-Standards nicht entsprechender Umstände der Behandlung von Flüchtlingen und Migranten in Libyen unterstützt Deutschland das vom VN Sondergesandten Bernardino Leon vermittelte Friedensabkommen.

IV.

4.) Im Beschluss (GASP) 2015/778 des Rates über die Militäroperation EUNAVFOR MED wird auch die dritte Operationsphase beschrieben. Dabei geht es um Maßnahmen „im Hoheitsgebiet“ der betroffenen Küstenstaaten, also vor allem Libyen, zu Lande, zu Wasser und in der Luft.

Welche Maßnahmen können das sein?

Die Operation EUNAVFOR MED sieht aufeinander aufbauende Phasen vor.

Phase 1 sieht das Sammeln von Informationen zur Aufdeckung und Beobachtung von Migrationsnetzwerken vor und beinhaltet keinen bewaffneten Einsatz deutscher Streitkräfte.

Artikel 2 Absatz 2 b), Unterpunkt (i) des Beschlusses (GASP) 2015/778 sieht in Phase 2 i) auf Hoher See das Anhalten und Durchsuchen sowie ggfs. die Beschlagnahme und das Umleiten von Schiffen vor, bei denen der Verdacht besteht, dass sie für Menschenschmuggel oder Menschenhandel benutzt werden. Dadurch kann die Bewegungsfreiheit der Schleusernetzwerke eingeschränkt und dem kriminellen Geschäftsmodell ein Abschreckungseffekt entgegengesetzt werden.

In Einklang mit etwaigen Resolutionen des VN-Sicherheitsrates und/oder mit Zustimmung des betroffenen Küstenstaats kann dies in Phase 2 ii) auch in dessen Hoheitsgewässern und inneren Gewässern erfolgen.

Die Voraussetzungen für einen Übergang der Operation in Phase 2 ii) liegen derzeit nicht vor. Dies gilt auch für Phase 3.

Ist ein Einsatz deutscher Soldaten in lybischem Hoheitsgebiet angesichts der Sicherheitslage aus Sicht des BMVg zu verantworten?

Derzeit liegen keine völkerrechtlichen Grundlagen für einen Einsatz in Libyen vor.

V.

5.) Die Opposition im Bundestag hatte schon im Juli darauf gedrängt, dass der Operationsplan zu EUNAVFOR MED für bestimmte Abgeordnete zur Einsicht in der Geheimschutzstelle des Bundestages hinterlegt wird. Am 8. September schrieb der Parlamentarische Staatssekretär Markus Grübel (-1880004-V66), dass sich in diesem Fall „keine Übermittlungspflicht“ an den Deutschen Bundestag ableiten lasse.

Warum hat sich das BMVg zunächst geweigert, den Abgeordneten den Operationsplan zur Verfügung zu stellen?

Der Operationsplan wurde im Rahmen der Mandatierung der Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte an der Phase 2 i) der Operation EUNAVFOR MED durch den Deutschen Bundestag im üblichen Verfahren hinterlegt.

Warum wurde der Operationsplan dann schließlich doch hinterlegt?

Der Operationsplan wurde im Rahmen der Mandatierung der Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte an der Phase 2 i) der Operation EUNAVFOR MED durch den Deutschen Bundestag im üblichen Verfahren hinterlegt.

Warum wurde der Operationsplan erst sechs Tage vor der Abstimmung hinterlegt?

Der Rat der EU hat auf seiner Tagung vom 14. September 2015 festgestellt, dass alle Bedingungen erfüllt waren, damit die Operation EUNAVFOR MED in die Phase 2 i) eintreten konnte. Daraufhin wurde der Deutsche Bundestag am 14. September darüber informiert, dass die Bundesregierung beabsichtigt einen Antrag auf Zustimmung zur Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte in den Bundestag einzubringen.

Am 16. September 2015 beschloss die Bundesregierung die Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte an der Phase 2 i) der EU Operation EUNAVFOR MED.

Die Entscheidung, dass die Operation in Phase 2 i) eintritt, hat das Politische und Sicherheitspolitische Komitee der EU am 28. September 2015 entschieden.

Vor dem Hintergrund dieser knappen Zeitlinien erfolgte die Bereitstellung des Operationsplanes am 25. September 2015.

Nicht alle Abgeordneten sprechen Englisch. Warum wurde der Operationsplan (ca. 700 Seiten) nur in englischer Sprache zur Verfügung gestellt?

Der Operationsplan richtet sich an internationale EU-Streitkräfte und liegt ausschließlich in englischer Sprache vor.

Abgeordnete beklagen sich, dass sie nur 30 Minuten Zeit hatten, die etwa 700 Seiten zu lesen. Hält das BMVg diese Zeitspanne für ausreichend, um sich umfassend über die Operation zu informieren?

Auf die Art und Weise, den Zugang und die Dauer der Einsichtnahme innerhalb des Deutschen Bundestages hat das BMVg keinen Einfluss. Dies liegt in der Zuständigkeit der Bundestagsverwaltung. Die Bundesregierung hat den Bundestag laufend schriftlich und mündlich über die Planungen informiert.

Trifft es zu, dass nur Bundestagsabgeordnete aus dem Auswärtigen Ausschuss und dem Verteidigungsausschuss das Recht auf Einsicht in den Operationsplan haben? Wenn ja, warum?

Dies liegt in der Zuständigkeit der Bundestagsverwaltung.

Das Referat PE3 des Deutschen Bundestages (Analyse, Prioritätensetzung und Beratung in EU-Angelegenheiten) stellte am 28.09.2015 in seinen „Hintergrundinformationen GSVP-Mission EUNAVFOR MED“ fest, dass am 14.September 2015 der (EU-) Rat für Allgemeine Angelegenheiten eine Bewertung angenommen hat, dass die Phase 2i) der Operation eingeleitet wird. Wörtlich heißt es:

„Im vorliegenden Fall ist die Befassung im Rat für Allgemeine Angelegenheiten dem Bundestag seitens der Bundesregierung weder im Vor- noch im Nachbericht zur Ratssitzung mitgeteilt worden.“

Warum ist dies nicht geschehen?

Der in der Hintergrundinformation des Referats PE3 des Deutschen Bundestages angesprochene Beschluss des Rates für Allgemeine Angelegenheiten wurde als sogenannter prozeduraler A-Punkt ohne weitere Beratung angenommen. A-Punkte sind grundsätzlich nicht Bestandteil der ordentlichen Vor- und Nachberichterstattung zu Ratssitzungen, da eine Unterrichtung nur zu Beratungsgegenständen vorgesehen ist. Der Bundestag war zudem über die vor einem Ratsbeschluss notwendige Billigung dieses Punktes im Ausschuss der Ständigen Vertreter am 10. September 2015 durch einen am 11. September versandten Einzelbericht informiert worden.

Ist das BMVg der Ansicht, dass die Abgeordneten des Deutschen Bundestags ausreichend informiert worden sind, um auf dieser Faktenbasis über einen bewaffneten Militäreinsatz der Bundeswehr abzustimmen?

Sowohl die Befassung im Plenum als auch in den Fachausschüssen des Deutschen Bundestages erfolgten im für die Mandatierung von Auslandseinsätzen der Bundeswehr üblichen Rahmen.

Im Rahmen unserer Recherche hat sich noch eine weitere Frage ergeben, um deren schriftliche Beantwortung wir Sie ebenfalls bitten:

Im Annex des Operationsplans heißt es bezüglich des Umgangs mit Schiffen, bei denen der Verdacht besteht, dass sie für Menschenschmuggel benutzt werden, laute der Auftrag unter anderem: "The diversion of their vessels toward the next consenting costal state".

Was ist mit dieser Formulierung konkret gemeint? Was heißt in diesem Zusammenhang "consenting"?

Formulierungen und Inhalte des eingestuften Operationsplanes werden hier nicht weiter kommentiert. Zudem verweise ich auf die Beantwortung der Fragen unter Para II.

Stand: 15.10.2015, 17:59 Uhr

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