Bootsunglücke im Mittelmeer: Europas tödliches Kalkül Monitor 23.03.2023 09:38 Min. UT Verfügbar bis 30.12.2099 Das Erste Von Andreas Maus, Tim Frehler, Julia Regis

MONITOR vom 23.03.2023

Bootsunglücke im Mittelmeer: Europas tödliches Kalkül

Von Andreas Maus, Tim Frehler, Julia Regis

Georg Restle: "Und jetzt zur Geschichte dieses Jungen, Farhad, 16 Jahre alt, ertrunken am Morgen des 26. Februar unmittelbar vor der italienischen Küste. Wir erzählen Ihnen diese Geschichte, weil sie sonst kaum noch erzählt wird. Die Geschichte vom massenhaften Sterben im Mittelmeer, von Menschen, die selbst in größter Seenot keine Hilfe erhalten, und von einem geradezu tödlichen Kalkül, wonach Menschenleben offenbar weniger wichtig sind als die Sicherung der europäischen Außengrenzen. Und nein, das alles hat nicht aufgehört, nur weil darüber kaum noch berichtet wird – es ist sogar noch schlimmer geworden. Und das hat durchaus auch mit der Politik der deutschen Bundesregierung zu tun. Andreas Maus, Tim Frehler und Julia Regis."

Eine Fahrt über das Mittelmeer. Ein Gruß von Farhad – auf dem Weg nach Europa, voller Hoffnung. Farhad hat die Flucht nicht überlebt. Am Strand von Cutro, die Überreste des Bootes, das am 26. Februar an der süditalienischen Küste zerschellte. Über 80 Menschen, die auf der Flucht nach Europa waren, starben, darunter 25 Kinder. In München treffen wir Farhads Schwager. Wais Safi ist 2015 aus Afghanistan hierher geflüchtet. Auch seine Frau Mina ist bei dem Unglück ums Leben gekommen.

Wais Safi (Übersetzung Monitor): "Als ich von dem Unglück hörte, nahm ich das Auto eines Freundes und fuhr 16 Stunden zum Unglücksort. Ich suchte in den Krankenhäusern, dann schickte mich die Polizei in eine Halle – dort waren die toten Körper, auch meine Frau und mein Schwager. Es war schrecklich, all die Leichen. Nicht nur ich, alle schrien und weinten um ihre Liebsten."

Wais Safi am Sarg seiner Frau. Bis heute findet er keine Ruhe: wie konnte es dazu kommen? Was ist genau passiert in dieser Februarnacht? Das Boot befand sich hier in der Nähe der Küste der süditalienischen Region Kalabrien. Am späten Abend wird ein Flugzeug der EU-Grenzschutzagentur Frontex auf das Schiff aufmerksam und dokumentiert es mit einem Foto. Frontex informiert italienische Behörden über das Schiff, auch, dass darauf Flüchtende vermutet werden. Zwei Boote der Finanzpolizei werden nach Mitternacht rausgeschickt. Doch wegen eines Sturms müssen sie umkehren. Spätestens jetzt hätte klar sein müssen, dass Menschen auf dem Schiff in Lebensgefahr sind. Doch hochseetaugliche Rettungsschiffe fahren lange nicht los. Die Einsatzkräfte morgens am Strand – da ist das Boot schon zerschellt.

Wais Safi (Übersetzung Monitor): "Ich frage mich, warum haben sie meine Frau nicht gerettet. Warum nicht das Schiff? War das vielleicht sogar Absicht? Denn wie kann man dabei zuschauen, wie Menschen ertrinken? Einfach nur zuschauen?"

Absichtlich keine Rettung? Tote billigend in Kauf genommen? Die italienische Regierung weist das strikt zurück. Doch auch Fachleute sagen, die italienischen Behörden hätten mehr tun müssen, um die Menschen zu retten.

Constantin Hruschka, Max-Planck-Institut für Sozialrecht und Sozialpolitik: "Die Rechtsprechung dazu ist sehr eindeutig. Ich muss geeignete Maßnahmen ergreifen und was geeignete Maßnahmen sind, bestimmt sich eigentlich nach einem sehr einfachen Maßstab. Geeignet sind die Maßnahmen, die die Personen tatsächlich retten; was hier nicht der Fall war. Und damit gibt es eine Rechtsverletzung, und zwar unabhängig davon, wer jetzt wem berichtet hat. Es ist Italiens Verantwortung, weil es ist Italiens Seenotrettungszone gewesen."

Und während die Menschen in Crotone noch trauern, geht das Sterben weiter. Wieder unter den Augen von europäischen Behörden, die wieder nicht retten. 11. März: Ein Boot treibt im Mittelmeer. Die zivilen Seenotretter der Sea-Watch setzen aus dem Flugzeug einen Notruf ab.

Notruf der Sea-Watch (Übersetzung Monitor): "Mayday Relay, alle Stationen. Ein graues Holzboot mit 50 Personen an Bord."

Das Boot befindet sich zu diesem Zeitpunkt in internationalen Gewässern. Die Seenotrettungsorganisationen Alarmphone und Sea-Watch alarmieren die Seenotleitstellen in Italien, Malta und auch in Libyen. Denn das Boot treibt in der sogenannten libyschen Such- und Rettungszone, die fast bis nach Europa reicht. Die libysche Küstenwache soll hier retten – winkt aber ab.

Kommunikation Seabird mit Libyan Authorities (Übersetzung Monitor): "Sir, können sie mir sagen, was für ein Patrouillenboot Sie aus Benghazi schicken werden? – Wir haben kein Patrouillenboot in Benghazi. – Sie haben kein Patrouillenboot in Benghazi?"

Felix Weiss, Sea-Watch: "Wir haben über Stunden versucht, mit unserem Einsatzflugzeug "Seabird" Mayday Relays abzusenden, das heißt, auch umliegende Akteur*innen zu involvieren, das hat nicht funktioniert. Wir haben die Seenotrettungs-Leitstellen in Rom und Malta mehrfach angerufen, mehrfach E-Mails geschrieben mit der Bitte, diesen Fall zu koordinieren."

Auch der Kontakt mit der Seenotleitstelle in Rom bleibt erfolglos.

Kommunikation mit Rom (Übersetzung Monitor): "Ich wollte mit Ihnen darüber sprechen: Wer ist jetzt verantwortlich für diesen Fall, da das JRCC Libyen nicht in der Lage ist, auf diese Notsituation zu reagieren, da es in Benghazi keine Befugnisse hat? – Okay, danke für die Information, tschüss."

Die römische Leitstelle legt einfach auf.

Felix Weiss, Sea-Watch: "Unsere Anrufe und unsere Mails wurden komplett ignoriert, es gab keinerlei Koordinierungsversuche mit den Seenot-Rettungsleitstellen und unserem Einsatzflugzeug, was dann später zu dieser Tragödie geführt hatte."

Über dreißig Stunden treibt das Boot auf dem Meer – dann sinkt es. Siebzehn Menschen können noch von einem Handelsschiff gerettet werden, dreißig sterben. Schauen europäische Behörden bewusst weg, wenn Menschen wie hier ertrinken? Die EU weist das von sich und verweist gerne auf ihre Zusammenarbeit mit Libyen. Hier der zuständige EU-Kommissar Anfang Februar mit der libyschen Außenministerin. Mit etlichen Millionen wurde die libysche Küstenwache von der EU aufgerüstet, obwohl deren Menschenrechtsverletzungen an Flüchtlingen gut dokumentiert sind. Trotzdem gab es jetzt wieder neue Boote von der EU.

Olivér Várhelyi, EU-Kommissar für Nachbarschaft und Erweiterung, 06.02.2023 (Übersetzung Monitor): "Es soll Leben retten, und zwar unter voller Achtung der Menschenrechte und der Einhaltung strenger Auflagen und Schutzmaßnahmen."

Schutzmaßnahmen, Menschenrechte? Keines dieser Versprechen hat den Menschen hier geholfen. Auch die neuen Boote nicht.

Libysche Küstenwache: "Ich habe keine Patrouillenboote!"

Zwei Unglücke, über einhundert Tote in nur zwei Wochen; alles nur tragische Einzelfälle?

Judith Kohlenberger, Migrationsforscherin, Wirtschaftsuniversität Wien: "Das ist eine unmittelbare Konsequenz aus der europäischen Politik der Abschottung und Abschreckung. Das heißt, ich würde schon konstatieren, es ist eine europäische Verantwortung aufgrund der Art und Weise, wie Migrationspolitik betrieben wird. Vor allem aber auch, wie man ein systematisches Wegschauen betreibt, wenn Flüchtlingsboote in Seenot geraten."

Die Kritik zielt auf eine EU-Politik, die nicht nur auf dem Mittelmeer auf Abschottung setzt. Die Außengrenze der EU gleicht längst einer Hochsicherheitszone. Immer mehr Mitgliedsländer bauen immer mehr Zäune. 2014 gab es sie auf einer Länge von 315 Kilometern, 2022 waren es schon 2.048 Kilometer.

Judith Kohlenberger, Migrationsforscherin, Wirtschaftsuniversität Wien: "Dadurch verlagert sich das Migrationsgeschehen auf noch gefährlichere Zugangswege. Das ist vor allem der Seeweg, das Mittelmeer. Und deshalb ist das eine unmittelbare europäische Verantwortung. Weil würde man legale Zugangswege schaffen, würde man andere Einreisekategorien ermöglichen, dann müssten sich die Menschen gar nicht auf diesen irregulären Weg machen."

Vor allem die italienische Regierungschefin Meloni, aber auch die Bundesregierung sorgen dafür, dass der Weg über das Mittelmeer immer gefährlicher wird. In Italien zwingt ein neues Dekret zivile Rettungsschiffe, nach einer Rettungsaktion einen vorgegebenen Hafen anzusteuern. Oft hunderte Kilometer weit entfernt. So werden die Seenotretter für Tage oder Wochen faktisch aus dem Verkehr gezogen. Und ausgerechnet ein Vorhaben der deutschen Bundesregierung wird die Arbeit ziviler Retter noch weiter erschweren. Durch eine geplante Verschärfung der Schiffsicherheitsverordnung, über die MONITOR exklusiv berichtet hat. Demnach müssten auch kleinere Schiffe unter deutscher Flagge bei "humanitären Aktivitäten oder vergleichbaren ideellen Zwecken" neue, höhere Auflagen erfüllen. Das Verkehrsministerium erklärt auf Anfrage, es gehe hier nur um die Sicherheit. Doch Rettungsorganisationen warnen. Die Rise Above etwa würde durch die neuen Auflagen quasi stillgelegt. Auch der Betrieb von fünf anderen Schiffen, wie der Aurora, wäre gefährdet.

Felix Weiss, Sea-Watch: "Das führt zu einem riesigen Rettungsvakuum, was das zentrale Mittelmeer aktuell gerade nicht verkraften kann. Wenn wir uns die Unglücke eben angucken, ist klar zu sehen, dass kein Seenotrettungsschiff im Einsatz war. Das heißt, ohne Seenotrettungsschiffe finden auch keinerlei Rettungen eben mehr statt und das führt ganz klar zu mehr Toten im Mittelmeer."

Die Opfer am Strand von Cutro. Vier Tage zuvor waren sie aus der Türkei aufgebrochen – über Tausend Kilometer vom Unglücksort entfernt. Farhad bezahlte diese lange, riskante Flucht nach Europa mit seinem Leben.

Georg Restle: "Natürlich könnte man etwas dagegen tun, legale Fluchtwege für Menschen zum Beispiel, die ein Recht auf Asyl haben oder hier arbeiten wollen. All das haben Politiker der Bundesregierung immer und immer wieder versprochen. Ein modernes Einwanderungsgesetz, eine humanere Flüchtlingspolitik. Nichts davon ist bisher Realität geworden."

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Kommentare zum Thema

  • Berber 24.03.2023, 15:30 Uhr

    Dieser Kommentar wurde gesperrt, weil er gegen unsere Netiquette verstößt. (die Redaktion)

  • Frank Zimmerling 24.03.2023, 00:31 Uhr

    Das tödliche Kalkül des Kapitalismus ist, dass 1% der Weltbevölkerung mehr besitzt als die anderen 99% und über 80% des Vermögenszuwachses bekommt. Was das Kalkül von MONITOR ist, regelmäßig von den Folgen zu erzählen, und demokratische Sozialisten zu diffamieren, die Mehrheiten dafür gewinnen wollen, den Kapitalismus zu überwinden, bleibt im Dunkeln.

  • Aga Bellwald 23.03.2023, 22:36 Uhr

    Eine Katastrophe, wie die EU glaubt, sich vor Geflüchteten schützen zu müssen. Doch die Herkunftsländer ausplündern oder mit Waffen einzudecken, Diktatoren unterstützen, dass passt. Und diejenigen, die glauben, die Menschen sollen doch in ihren Ländern an ihrer Situation etwas ändern, denen sag ich klar: Ihr seid naiv, sonst geht doch selber hin, um zu helfen. Werdet bald auf die Welt kommen und sehen, dass das kaum mehr möglich ist.

    • Neumann 23.03.2023, 23:21 Uhr

      Die Herkunftsländer müssen nicht mit uns Handel treiben (ausplündern), sie müssen bei uns keine Waffen kaufen und wenn sie ihre Diktatoren loswerden wollen und ihre Länder aufbauen wollen, dann sollen sie es machen und zwar selbst. Ich bin nicht der Daddy der das für sie erledigt.

    • Hof 24.03.2023, 11:16 Uhr

      So wird es praktiziert. Kaum zählbare Politiker sowie Politjournalisten, ganz stark die unserer sogenannten sich selbst lobenden „Westlichen Wertegemeinschaft“ empfinde ich als Heuchler.