Bericht: Jan Schmitt, Jochen Taßler
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Georg Restle: „Eine einsame Ente vor den Stufen des Kölner Doms. Still ruhen die Innenstädte nachts in Deutschland. Seit dem Wochenende gelten sie fast überall im Land, die Ausgangssperren. Ob sie was nützen? Guten Abend und willkommen bei MONITOR! Ja, glaubt man der Bundeskanzlerin und der Großen Koalition geht es gar nicht mehr ohne. Das sei schließlich wissenschaftlich belegt, dass Ausgangssperren die Corona-Infektionsraten deutlich senken würden. Aber ist das wirklich so? Immer wieder ist da von einer Studie aus Oxford die Rede, die die Wirksamkeit von nächtlichen Ausgangssperren exakt berechnet habe. Erstaunlich, mit den Autoren dieser Studie hat offenbar keiner der Regierungspolitiker gesprochen – wir dagegen schon. Und plötzlich ist da vieles gar nicht mehr so eindeutig. Jan Schmitt und Jochen Taßler über wissenschaftliche Erkenntnisse – und was die Politik draus macht.“
Köln, am späten Freitagabend, gespenstische Stille – Ausgangssperre. Fast ganz Deutschland wird bald so aussehen. Denn seit Montag gilt sie bundesweit – von 22:00 bis 5:00 Uhr, in Kreisen mit einer Inzidenz über 100. Einer der größten Grundrechtseingriffe seit Bestehen der Bundesrepublik, sagen Juristen. Unbedingt nötig, sagt die Politik. Den wissenschaftlichen Beleg dafür, dass Ausgangssperren wirken, leitet die Große Koalition maßgeblich aus der sogenannten „Oxford-Studie” ab. Gesundheitsexperte Karl Lauterbach von der SPD sagt dazu:
Karl Lauterbach, SPD: „Diese Studien zeigen – insbesondere von der Oxford Universität gemacht – dass wir hier einen Effekt haben werden von etwa 15 Prozent Senkung der Reproduktionsrate.“
Und auf der Internetseite der CDU/CSU-Bundestagsfraktion heißt es:
Zitat: „Britische Forscher halten Ausgangsbeschränkungen für geeignet, um den R-Wert – also die Reproduktionsrate – (...) um 13 Prozent zu senken.”
Mit einer Ausgangssperre sinkt die Reproduktionsrate also automatisch um 13 oder 15 Prozent? Nein. Das ließe sich so für die in Deutschland nun geltende Ausgangssperre nicht sagen, betonen die Autoren der Oxford-Studie.
Sören Mindermann, Co-Autor Oxford-Studie: „Wenn man unsere Studie so interpretiert, dass eine Ausgangssperre in Deutschland einen 13-prozentigen Effekt auf den R-Wert haben würde, dann fühle ich mich da sicherlich nicht richtig interpretiert, weil das einfach nur in dem Kontext, in dem Durchschnitt in der zweiten Welle in ganz bestimmten Ländern gegolten hat und dann auch noch sehr viel … mit sehr viel Unsicherheit.“
Auf Deutschland ließe sich das auch deswegen nicht eins zu eins übertragen, weil Corona-Maßnahmen aus sieben Ländern untersucht wurden. Besonders die night time curfews – die nächtlichen Ausgangssperren – wirkten mal kaum, mal recht gut. Denn die Regeln waren in jedem Land sehr unterschiedlich. In England fingen Ausgangssperren früher an, in den Niederlanden galten sie nachts und in Frankreich teils ab 18:00 Uhr. Meist gab es ganze Maßnahmenkataloge; welche Wirkung Ausgangssperren für sich genommen hatten, ließe sich so gar nicht feststellen. Und noch wichtiger, die Studie hat Maßnahmen in der zweiten Corona-Welle im Winter ausgewertet. Hier konnte sie einen gewissen Effekt feststellen. Aber gilt der auch für die dritte Welle, jetzt?
Reporter: „Kann man diese Zahlen, die Sie in der zweiten Welle erhoben haben, nun einfach übertragen als Maßnahme für die dritte Welle?“
Sören Mindermann, Co-Autor Oxford-Studie: „Man sollte die Ergebnisse nicht eins zu eins übertragen. Also, es gibt da viele Sachen, die sich verändert haben könnten, zum Beispiel, dass wir jetzt eine neue Variante B.1.1.7 haben.“
90 Prozent der Infizierten in Deutschland tragen diese Variante. Sie verbreitet sich offenbar besonders schnell unter Kindern und Jugendlichen. Schulschließungen könnten da also plötzlich effektiver sein, Ausgangssperren weniger effektiv. Wichtig sei auch, wann sich wie viele Menschen treffen. Die Oxford-Studie allerdings hat die Mobilitätsdaten, die dazu Hinweise liefern, nicht untersucht. Die aber deuten darauf hin, dass der Nutzen von nächtlichen Ausgangssperren begrenzt sein könnte. Denn während in den Stunden zwischen 5:00 Uhr morgens und 22:00 Uhr abends 92,5 Prozent der Mobilität in Deutschland stattfindet, sind es in den Stunden, in denen ab jetzt die Ausgangssperre gilt, also von 22:00 Uhr bis 5:00 Uhr, bislang nur 7,4 Prozent.
Sind darunter wirklich die wesentlichen Kontakte, wie private Besuche, die die Inzidenzen nach oben treiben? Ja, sagt die die Bundesregierung. In Hamburg und Köln sind die Zahlen nach Ausgangssperren tatsächlich gesunken. Aber es gibt auch andere Beispiele, wie Fulda. Hier galt während der zweiten Corona-Welle eine wochenlange, nächtliche Ausgangssperre. Die Inzidenz blieb trotzdem lange hoch. Dort, wo Menschen auf engstem Raum zusammenleben – wie hier auf dem Aschenberg – sind die Inzidenzen oft besonders hoch. Hier könnten Ausgangssperren sogar kontraproduktiv sein, glauben Kritiker. In den Hochhäusern leben oft große Familien in kleinen Wohnungen, mit hohem Ansteckungsrisiko. Und statt nach draußen zu gehen, besuchen sich die Menschen im Haus oft gegenseitig.
Lisa Mistretta, Anwohnerin: „Wenn die sich ruhig verhalten und nett sich unterhalten, kann das keiner kontrollieren.“
Reporter: „Kommt das denn vor?“
Lisa Mistretta: „Ja, das kommt vor.“
Was bringen Ausgangssperren also wirklich? In der zweiten Welle galten in Hessen überall praktisch dieselben Corona-Maßnahmen. Aber es gab Kreise mit und ohne Ausgangssperren. Zum ersten Mal konnten Forscher aus Gießen und Paris die Wirksamkeit von Ausgangssperren dadurch isoliert untersuchen – mit erstaunlichen Ergebnissen. In Landkreisen mit Ausgangssperre ist das Infektionsgeschehen zwischen Dezember 2020 und März 2021 klar zurückgegangen. Ein Beleg für ihre Wirksamkeit? Nein, denn in Landkreisen ohne Ausgangssperre ist es genauso zurückgegangen. Der Verlauf, fast identisch.
Prof. Georg Götz, Universität Gießen: „Wir finden in unseren Analysen keinen Unterschied in der Inzidenz-Entwicklung in den Kreisen mit und ohne nächtliche Ausgangssperre, zumindest keinen statistisch signifikanten.“
Doch diese Studie wird kaum zitiert. Insgesamt scheint die Studienlage für die Maßnahme „Ausgangssperre” widersprüchlich. Bei einem so massiven Grundrechtseingriff, müsse die Regierung aber belegen, dass es das am besten geeignete Mittel ist, um die Inzidenz zu senken. Weil sie das nicht könne, seien Ausgangssperren verfassungswidrig, sagen Verfassungsrechtler*innen.
Prof. Anna Katharina Mangold, Universität Flensburg: „Ausgangssperren sind verfassungsrechtlich unzulässig, weil sie nur als ultima ratio, als letztes Mittel angeordnet werden dürfen und in dem aktuellen Konzept diese Bedingung nicht erfüllt ist.“
Ungeeignet, unverhältnismäßig, verfassungswidrig? Am Ende wird es auf die Wissenschaft ankommen – wie so oft in dieser Pandemie.
Kommentare zum Thema
Die unterschiedliche Auslegung und Verfolgung der Hygieneregeln und sonstigen Anordnungen sind nicht erst seit heute bekannt.Die Widersprüche sind gewollt.So wird der Ärger von jeder Seite erhalten und gemeinsamer Erfolg vermieden.Es ist die Hochkonjunktur des Lobbyismus.Der Diskussionsnebel soll verhindern,unfähiges Regierungsmanagment zu ersetzen, was dringend notwendig ist-seit 15 Jahren auf jeden Fall.Es ist der Kapitalismus,der von Jahr zu Jahr für immer mehr Skandale,Affären,Lügen,Ausgrenzungen,Kriege,Not und Elend sorgt.Der ganze Schein ist sogar selbstentlarvent, denn seit mehr als 30 Jahren kann alles Dilemma nicht mehr auf den alten "Klassenfeind" abgewälzt werden-hat dessen Unzulänglichkeiten in jeder Position astronomisch übertroffen.Ja klar, unsere großen und kleinen Friedensapostel von Walter bis Greta stört dies nicht:Der einfache Bürger hat zu reparieren und zu parieren.
Von Ministerium Ausgangssperre?. Man soll zum Flughafen BER kommen und schauen wie "gut" es funktioniert. Jede menge Studenten und billig Flieger Touristen unterwegs schon ab 3Uhr. Teilweise auch ohne negativen Corona Test. Ich als Mitarbeiter des Flughafens habe echt keine Lust mehr auf diesen Chaos.
Nachdem ich nun über ein Jahr fast alle sinn- und unsinnigen Maßnahmen mitgegangen bin, die Politik immer wieder in meinem Umfeld gerechtfertigt habe, ist mein Vertrauen in die Regierung vergangene Woche in den Keller gestürzt. Warum setzt man nicht schon lange bestehende Regeln durch? Warum treibt man nicht, die die sich tagsüber „versammeln“ auseinander, sondern führt sie bei #Panorama vor? Warum sorgt man nicht dafür, dass die neue Home-Office-Regelung auch durchgesetzt wird? Ich kann mich nicht erinnern, wann ich das letzte Mal nach 22 Uhr vor der Türe war, aber diesen Grundrechtseingriff empfinde ich persönlich als katastrophal. Danke #Monitor, danke Georg Restle für Ihre Kommentare!