"Alle erschießen": Rassismus im Wahlkampf

Monitor 23.05.2024 07:58 Min. Verfügbar bis 30.12.2099 Das Erste Von Andreas Maus, Julius Baumeister

MONITOR vom 23.05.2024

„Alle erschießen“: Rassismus im Wahlkampf

Anfeindungen und Gewalt auf offener Straße, Hass im Netz – wenige Wochen vor den Europa- und Kommunalwahlen werden Politiker in ganz Deutschland zur Zielscheibe. Für Politiker mit Migrationshintergrund ist das keine neue Situation. Sie kämpfen seit Jahren gegen Hass, Rassismus und Ausgrenzung. Wie erleben sie den Wahlkampf? MONITOR hat mehrere Kandidaten begleitet, die sich nicht einschüchtern lassen wollen.

Von Andreas Maus, Julius Baumeister

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Georg Restle: "Ja, Politik ist ein schweres Geschäft. Das gilt nicht nur für Europa, sondern auch für die vielen Kommunalpolitiker und -politikerinnen, die gerade im Wahlkampf unterwegs sind. Und da ist Kampf schon fast wörtlich zu verstehen – vor allem für Kandidaten und Kandidatinnen, die eine Migrationsgeschichte haben. Da kommt zum Hass auf Politiker dann noch blanker Rassismus dazu – und man wundert sich schon darüber, warum sich diese Menschen das überhaupt noch antun. Andreas Maus und Julius Baumeister haben in Rostock und Chemnitz sehr engagierte Menschen getroffen, die ihnen erklärten, warum sie das tun – trotz aller Anfeindungen."

Nurgül Senli (Die Linke): "Mein Name ist Nurgül Senli, ich bin ursprünglich aus Wuppertal und kandidiere jetzt für die Rostocker Bürgerschaft für die Partei die Linke."

Nurgül Senli kämpft für ihre Wiederwahl. Seit fünf Jahren sitzt die Kommunalpolitikerin mit türkisch-kurdischen Wurzeln in der Rostocker Bürgerschaft. In Deutschland geboren, ist es ihr wichtig, sich in ihrer Heimat politisch zu engagieren.

Nurgül Senli (Die Linke): "Darf ich Ihnen vielleicht eine Postkarte von mir mitgeben. Ich kandidiere für die Linke für die Kommunalwahl am 9.6. – Auf der Rückseite steht ein bisschen was über mich. Vielleicht interessiert euch das ja."

Dieser Tag heute ist für sie ein besonderer. Es ist das erste Mal, dass sie wieder Straßenwahlkampf macht, seit sie Anfang Mai Opfer einer Attacke wurde. Auf dem Heimweg, als sie sah, wie ein Mann ihr Wahlplakat zerstört.

Nurgül Senli (Die Linke): "Ich habe gerufen, hey, lass das, das ist Sachbeschädigung! Und daraufhin ist er auch ein paar Meter zurück in die Richtung, wo wir jetzt derzeit stehen, und hat Verstärkung dazu geholt, zwei weitere Männer. Und dann sind die zu dritt auf uns los. Und als sie uns wirklich ganz bedrohlich nahegekommen sind, wurde dann gesagt, geht doch zu euren Kanacken und macht doch Kinder mit denen. Und dann hat er auf mich gezeigt und hat gesagt, hier, du siehst doch auch schon aus wie eine Kanackin. Euch muss man doch alle an die Wand stellen.“

Anfeindungen, die nicht nur auf ihr politisches Engagement zielen, sondern auch auf ihren Namen, ihr Aussehen.

Nurgül Senli (Die Linke): "Man denkt immer, dass man damit schon umgehen kann, aber in Wirklichkeit ist das nicht ganz so. Natürlich geht man dann schon nach Hause und fragt sich; was passiert, wenn diese Menschen wirklich mal irgendwann so mächtig sind, wenn die wirklich an die Macht kommen, stellen die uns dann wirklich vor eine Wand? Oder bin ich hier noch sicher?"

Auch er kennt diese Angst.

Seyhmus Atay-Lichtermann (SPD): "Ich heiße Seyhmus Atay-Lichtermann, ich bin 40 Jahre alt, dreifacher Vater. Ich lebe seit 1999 in Rostock und ich kandidiere für die Bürgerschaftswahlen für Juni."

Seyhmus Atay-Lichtermann ist vor zwei Jahren in die SPD eingetreten. In Rostock setzt er sich vor allem für mehr politische Teilhabe von Migranten ein. Er selbst kam als Vierzehnjähriger mit seinen Eltern und seinen Geschwistern aus der Türkei hier in dieses Viertel – nach Rostock Lichtenhagen. Er ist nur wenige Meter neben dem Haus aufgewachsen, vor dem 1992 ein rechter Mob wütete. Hunderte Gewalttäter belagerten damals den Wohnblock, warfen Molotowcocktails. Polizisten ließen den Mob gewähren, während drinnen vor allem Migranten in Todesangst ausharrten. Rechte Gewalt, die auch später den Alltag von Atay-Lichtermann prägte.

Seyhmus Atay-Lichtermann (SPD): "Das war ein Kriegsgebiet für uns. Ich habe es so aufgefasst, weil ich immer der Betroffene war. Also ich wurde … es gab keinen Tag, wo ich nicht rassistisch angegriffen wurde von den Skinheads."

Angriffe, Ausgrenzung, Rassismus, die Erinnerungen von damals lassen ihn nicht los. Erst recht während seines Wahlkampfes. In den Kommentaren unter seinen Videos auf Social-Media wird er beleidigt. So einer wie er solle verschwinden.

Seyhmus Atay Lichtermann (SPD): "Ich wähle rechts, weil ich nicht will, dass Ausländer in unserem Deutschland Politik machen. – „Wenn ich die wählen muss, um dich loszuwerden, wähle ich die so oft es geht.“ Das macht schon was aus. Also, auch nicht nur mit mir, sondern auch mit meiner Frau. Also sie hat mir zum ersten Mal gesagt, dass sie sich Sorgen macht, ich soll aufpassen. Dann habe ich sie angeschaut, ob sie das ernst meint. Sie meinte das wirklich ernst. Das war zum ersten Mal, dass sie mir gesagt hat – du, pass auf dich auf!"

Wunden, die wieder aufreißen – auch bei ihm.

Ahmed Bejaoui (B'90/Grüne): "Ich bin Ahmet Bejaoui, ich komme ursprünglich aus Tunesien, ich lebe in Chemnitz und ich kandidiere für den Stadtrat."

Vor zehn Jahren kam der 32-Jährige zum Studium nach Deutschland. Er tritt für Bündnis 90/die Grünen im Chemnitzer Süden an. Hier machen rechtsextreme Parteien wie die AfD und die Freien Sachsen Stimmung – auch mit rassistischen Parolen. Hetze, die offenbar Wirkung zeigt. Gegenüber Bejaoui lässt eine Frau ihrem Hass freien Lauf.

Frau: "Alle weg. Alle erschießen."

Ahmed Bejaoui: "Alles gut. Alles … erschießen? Ui!"

Frau: "Dich zuerst!"

Ahmed Bejaoui (B'90/Grüne): "Ja … mich zuerst? Die Frau, die meinte halt so, weg mit dem ganzen Gesindel. Und sie würde gerne uns alle erschießen. Und mich zuerst – sage ich mal – sie wird sie erschießen, sage ich mal. Ja, ich kann nur darüber lachen, weil wenn ich jetzt darüber nachdenken würde, dann, … Da sind wir ja 1933, also in einem Lager reinstecken und ja …"

Hetze einfach weglachen? Dafür hat Ahmet Bejaoui zu viel Schlimmes erlebt – so wie damals im September 2018. Rechtsextreme rotteten sich in Chemnitz zusammen und machten Jagd auf Menschen, beherrschten tagelang die Straßen. Auch Ahmet Bejaoui wurde damals gejagt, wie er erzählt.

Ahmed Bejaoui (B'90/Grüne): "Es war erschreckend, weil, sobald du dich drehst, dann siehst du fünf, sechs Leute, die hinter dir rennen – sage ich mal – und du musst auf einmal rennen. Aber trotzdem, du bist am Boden. Deine Hände – sage ich mal so – Knie, alles blutet. Aber trotzdem, du musst rennen, weil du weißt ja, sondern hinter dir, ist halt so dann mit einem Baseballschläger."

Mehrfach wurde er in den letzten Jahren verprügelt, wie er uns sagt. Und die Angst, dass es jeden Tag wieder passieren könnte, begleitet ihn. Beim Flyer-Verteilen mit zwei Kandidatinnen überkommt ihn diese Angst plötzlich, ganz unvermittelt.

Ahmed Bejaoui (B'90/Grüne): "Ähm, ja, also wenn ich sage, ich kann, ja so … ich habe Tränen in den Augen irgendwie … Genau, ja, ich würde lügen, wenn ich sage, ich sehe nicht anders … ich habe keine Angst und keine Ahnung und so weiter und so fort. Ich motiviere immer die Leute und ich motiviere mich auch selber usw. und so fort. Aber ich glaube, der erste, der Angst hat, das bin ich, glaube ich."

Und dann – plötzlich – ist ihm offenbar alles viel zu viel.

Ahmed Bejaoui will sich nicht einschüchtern lassen. Heute arbeitet er als Projektleiter mit Jugendlichen, kümmert sich um ihre Integration. Und er zeigt Gesicht in der Politik – als Mensch mit Migrationsgeschichte.

Ahmed Bejaoui (B'90/Grüne): "Angst ist auch überwindbar – und wenn man Angst überwinden will, dann hat man Motivation. Und bei mir ist die Motivation halt so um – sag ich mal – etwas zu verändern, etwas für … für die Leute auch zu machen. Und ich sag es ja ehrlich, naja, so in Chemnitz wir leben zusammen. Wir dürfen uns nicht spalten lassen."

Sichtbar sein, mitgestalten, politisch etwas bewirken – nicht aus Trotz, sondern als elementares Grundrecht der Demokratie.

Georg Restle: "Die Grundrechte der Demokratie, die feiern wir heute ganz besonders – zum 75. Geburtstag des Grundgesetzes. Dazu haben wir einen Film gemacht, der zeigt, warum es sich lohnt, für die Grundrechte dieser Verfassung zu kämpfen. Können Sie sich gerne anschauen, ab jetzt auf unserem YouTube-Kanal."

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Stand: 23.05.2024, 21:45 Uhr

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15 Kommentare

  • 15 Aga Bellwald 23.05.2024, 23:06 Uhr

    Ich wünsche allen, die so angefeindet werden, einzig, weil sie sich für eine lebendige, friedfertige und bunte Gesellschaft stark machen, viel Kraft, Solidarität und aktive Unterstützung, wenn sie erneut angegriffen werden, ob verbal oder tätlich. Trotzdem weitermachen, das ist megawichtig.

  • 14 Brigitte 23.05.2024, 22:36 Uhr

    Ich bin geschockt als ich eben den o.g. Beitrag gesehen habe. Leider weiß ich, dass Politik Kandidaten rassistisch attackiert werden. Aber in diesem Beitrag sind die Schilderungen und Gefühle der Kandidaten mit Migrationshintergrund kaum auszuhalten. Alle Achtung welchen Mut diese jungen Menschen haben und nicht aufgeben politisch zu arbeiten und an ihre emotionalen Grenzen gehen. Für diesen schäbigen, dummen und unmenschlichen Mob empfinde ich nur Verachtung und schäme mich für diese Deutschen. Was wäre Deutschland für ein langweiliges und uninteressantes Land ohne die Vielfalt der Menschen unterschiedlicher Herkunft und anderer diverser Menschen?! Nicht zu vergessen, dass unser Wohlstand auch durch die Arbeit Nichtdeutscher gewachsen und entstanden ist. Ich habe große Sorgen bzgl. der Zukunft.

  • 13 Wiegand Eilers 23.05.2024, 22:26 Uhr

    Ich schäme mich für die, die Menschen mit "Migrationshintergrund" so mies behandeln, ja sogar körperlich angreifen und beleidigen!

  • 12 Hans Hermann 23.05.2024, 22:23 Uhr

    Ich bin enttäuscht , das es so schlimme Reden , von Erwachsenen , in Chemnitz gibt ! Es kann doch nicht sein , das erwachsene , deutsche Leute , solche Reden pflegen , ich bin sehr traurig und schockiert !

  • 11 Sebastian Müller 23.05.2024, 22:16 Uhr

    Wieder mal wunderbare Sendung. Vielen Dank an das traditionsreiche und verlässliche Team von Monitor.

  • 10 Ideologiefreier Grüner 23.05.2024, 19:40 Uhr

    Warum merken grün-68er gesinnte Politjournalisten nicht dass sie selbst diskriminieren, ausgrenzen und Menschen gegeneinander aufhetzen? Sind sie ideologisch so arg verblendet dass sie nur noch die „Splitter im Auge anderer sehen doch den Balken im eigenen Auge nicht erkennen“. Mehrfach in der Woche gibt es die für mich offensichtlich grün-68er ideologischen „Umerziehungsversuche“ in TV-Talksendungen. Dort werden fast nur noch Gäste aus eigenem ideologischen Grün-68er Chorgesang zugelassen. Wird mal jemand eingeladen der den Krieg in der Ukraine durch diplomatisch geführte Gespräche/Verhandlungen beendet haben will anstatt durch Waffenlieferungen, Finanzierung des Krieges ist diese Person offensichtlich nur eingeladen um sie uns „vorzuführen“. Darin sehe ich eine Diskreditierung/Anprangerung ähnlich wie in früheren Jahrhunderten Ketzer noch an Säulen auf Marktplätze für jedermann zum Beschimpfen/Anspucken gebunden wurden. Grün-68er sollten sich für Frieden einsetzen, nicht für Krieg!

  • 8 Ideologiefreier Grüner 23.05.2024, 13:23 Uhr

    Dieser Kommentar wurde gesperrt, weil er diskriminierend ist. (die Redaktion)

  • 7 RegDam 23.05.2024, 08:09 Uhr

    … das denke ich mir auch schon, wenn ich diese Berichterstattung sehe. Das Schwarze Menschen dies tagtäglich erleben und Schwarze Politiker noch mehr und das dies bisher wenig kein Raum gefunden hat und Aufmerksamkeit erregt hat. Seit so vielen Jahrzehnten geht das so und mit zunehmender Tendenz und unser weiß privilegiertes Auge ist immer noch blind. Unsere Demokratie, welche vom Grundgesetz einfach einer der besten ist, ist schon so lange gefährdet und es wurde zu wenig gemacht. Jetzt schwappt der Hass, die Übergriffe und Verbrechen auch auf weiße Menschen/Politiker. Da hört man auf einmal hin und berichtet .... seltsam.

  • 6 Anonym 23.05.2024, 07:12 Uhr

    Dieser Kommentar wurde gesperrt, weil er diskriminierend ist. (die Redaktion)

  • 4 Killt die WDR-Laber-Mafia 22.05.2024, 14:12 Uhr

    Dieser Kommentar wurde gesperrt, weil er gegen unsere Netiquette verstößt. (die Redaktion)

  • 1 Wahrer Grüner 22.05.2024, 13:46 Uhr

    Irgendwie leben viele unserer Politiker sowie Politjournalisten auf einer anderen Welt. Sie diskreditieren, hetzen, sähen Gewalt, Grenzen aus, beschuldigen jedoch diejenigen im Volk welche ihre negativen Eigenschaften kopieren. Zusätzlich gefährden viele Politiker der Parteien Grüne, FDP, SPD, CDU, CSU mit ihrem Hass, mit ihrer Hetze gegen Putin, Russen, Russland, Aussiedler, Ostdeutsche, CSU, Trump, China, mit ihren penetranten Forderungen nach mehr Waffen, mehr Geld für den Krieg in der Ukraine unser Leben. Das ist tausendfach schlimmer als dass Politiker der AfD fordern dass illegal hier lebende Ausländer in ihre Heimatländer zurück müssen, welches inzwischen selbst Politiker - außer grüne Politiker - auch fordern. Die neben den USA stärkste Atommacht Russische Föderation lässt sich nicht kriegerisch zur bedingungslosen Kapitulation zwingen, da können unsere Strategen die ukrainische Armee noch stark mit NATO-Waffen ausrüsten. Es müssen Gespräche geführt werden, anstatt Krieg!