MONITOR vom 10.02.2022

Hungerkatastrophe in Afghanistan: Vom Westen im Stich gelassen

Bericht: Andreas Maus, Martin Suckow

Hungerkatastrophe in Afghanistan: Vom Westen im Stich gelassen Monitor 10.02.2022 07:56 Min. Verfügbar bis 30.12.2099 Das Erste Von Andreas Maus, Martin Suckow

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Georg Restle: "Solche Bilder können niemanden kalt lassen. Bilder einer sich dramatisch zuspitzenden Hungersnot in Afghanistan. Das Land, das vom Westen jetzt zum dritten Mal im Stich gelassen wird: Erst durch einen Krieg, der nichts von dem gehalten hat, was er versprochen hat. Dann durch einen abrupten Rückzug, der selbst diejenigen schutzlos zurückließ, die für westliche Truppen Kopf und Kragen riskiert hatten. Und jetzt zum dritten Mal durch Sanktionen, die verhindern, dass dringend benötigte Hilfen ins Land kommen. Hilfsorganisationen sprechen mittlerweile von einer der schlimmsten Hungersnöte, die Afghanistan je erlebt hat. Betroffen davon vor allem Kinder, denen das Nötigste zum Überleben fehlt. Andreas Maus und Martin Suckow."

Unser Team ist in der Altstadt von Kabul unterwegs, mit einer Hilfsorganisation, die mit der Caritas zusammenarbeitet. Taj Khanom weiß kaum noch, wie sie ihre sieben Kinder vor der Kälte schützen soll. In diesen Säcken sammeln die Kinder Papier und Pappe. Für ein Feuer, um sich wenigstens ein wenig aufzuwärmen. Etwas anderes zum Heizen haben sie nicht.

Taj Khanom (Übersetzung Monitor): "Wir haben keine Schuhe, keine Socken, und das in diesem kalten Winter. Wenn etwas Verkaufbares im Haus ist, dann verkaufen wir es, damit wir wenigstens Brot kaufen können."

Die jüngste Tochter hat eine Wunde am Rücken. Aber einen Arztbesuch können sie sich nicht leisten. Und auch die Miete für die kleine Wohnung können sie nicht mehr bezahlen, denn es gibt keine Arbeit für sie in Kabul. Weitgehend unbemerkt von der Weltöffentlichkeit vollzieht sich am Hindukusch seit der Machtübernahme der Taliban eine humanitäre Katastrophe.

Mary-Ellen McGroarty, World Food Program (Übersetzung Monitor): "Ich habe noch nie eine Krise erlebt, die so schnell und in einem solchen Ausmaß eskaliert ist wie die in Afghanistan. Viele, viele Männer, viele, viele Frauen, die noch nie in ihrem Leben humanitäre Hilfe benötigt haben, stehen jetzt Schlange, versuchen irgendwie ihre Kinder zu ernähren. Sie haben schreckliche Angst, wissen nicht, wie sie den Winter überstehen sollen, wie sie ihre Kinder ernähren sollen. Das betrifft 23 Millionen Menschen, mehr als 50 Prozent der Bevölkerung Afghanistans. Was wir hier erleben, ist eine Hungersnot."

Hunger und Perspektivlosigkeit. Knapp sechs Monate nach Abzug der westlichen Truppen sind Millionen Menschen in Afghanistan dringend auf Hilfe angewiesen – unter Ihnen viele Kinder. Viele Staaten aber haben ihre Entwicklungszusammenarbeit nach der Machtübernahme der Taliban eingestellt. Und viele westliche Banken weigern sich, dringend benötigtes Geld nach Afghanistan überweisen, berichten Hilfsorganisationen.

Stefan Recker, Caritas-Büro Afghanistan: "Es ist für uns schwierig, Geld ins Land zu bringen, um a) unser Büro halt laufen zu lassen, Gehälter zu zahlen und b), was wichtiger ist, Programme, Hilfsprogramme laufen zu lassen. Und das ist das große Problem. In dem Moment, wo auf dem Überweisungsschein Afghanistan steht, dass dann die eigenen Banken in Europa, dass die dann ein Problem damit haben, weil sie natürlich die die Sanktionen nicht verletzen möchten und dann auf irgendeiner einer Blacklist landen wollen. Also das sind die Probleme, die wir haben."

Die Sorge der Banken: Die Taliban gelten als Terrororganisation. Seit 2001 sind entsprechende UN-Sanktionen in Kraft. Wer die Taliban finanziell unterstützt, muss mit hohen Strafen rechnen. 75 Prozent des afghanischen Staatshaushalts kamen aus dem Westen. Seit der Machtübernahme floss kein Geld mehr. Banken mussten schließen. Der Westen bestrafte die Taliban. Es leidet die Zivilbevölkerung. Erst fünf Monate nach der Machtübernahme beschloss der UN-Sicherheitsrat im Dezember endlich Ausnahmen von den Sanktionen.

Zitat: "Der Sicherheitsrat (…) beschließt, dass humanitäre Hilfe und andere Aktivitäten zur Unterstützung der menschlichen Grundbedürfnisse in Afghanistan kein Verstoß (…) sind."

Also alles geregelt? Beim afghanischen Frauenverein in Hamburg spüren sie bislang kaum Verbesserungen. Seit Jahrzehnten organisieren und unterstützen sie hier Kliniken, Schulen und Bildungsprojekte – vor allem für Frauen und Kinder.

Christina Ihle, Afghanischer Frauenverein e. V.: "Es ist einfach unglaublich kompliziert. Wenn wir Geld transferieren wollen, dann müssen wir – in unsere Projekte – dann müssen wir zunächst einen riesigen Bericht machen und aufführen, wer alles dann mit diesem Geld versorgt wird, welche Dienstleister wir damit versorgen. Wir haben einen unglaublichen Berichtsaufwand. Dann gibt es 52 Menschen in der Bank, die das prüfen, ob dieser Geldtransfer berechtigt ist und ob er sicher ist, ob er den Sanktionsbestimmungen gerecht wird. Und erst dann wird dieses Geld transferiert und das kann mitunter Wochen dauern und kostet in dieser Zeit unendlich viele Menschenleben."

Hier, mitten in den Bergen Afghanistans – 50 Kilometer von Kabul entfernt – unterstützt der Afghanische Frauenverein eine medizinische Nothilfestation. Heute bringen Helfer dringend benötigte Medikamente. Die Medizin kommt aus dem Ausland. Ohne ausländische Hilfe wäre es kaum möglich die Patientinnen und Patienten zu versorgen. Viele Menschen sind mit ihren Kindern hier, sie haben stundenlange Fußmärsche durch den Schnee hinter sich. Die Nothilfestation ist die einzige Chance auf medizinische Versorgung weit und breit. Die Not ist groß.

Mutter (Übersetzung Monitor): "Wir hatten Ziegen, wir hatten ein Haus, das haben wir alles verkauft, um für unsere Kinder etwas zu essen zu haben. Sonst hätten wir nicht überlebt. Bisher habe ich keins meiner Kinder verloren. Aber ich habe nichts mehr zu verkaufen. Ich weiß nicht, was ich anderes tun soll, als zwei meiner Kinder zu verkaufen, um zwei vor dem Tod zu retten."

Die staatliche medizinische Versorgung im Land ist weitgehend zusammengebrochen. Viele Kliniken haben dicht gemacht, seit die internationale Gemeinschaft das Land verlassen hat. Umso mehr sind die Menschen in Afghanistan auf ausländische Hilfsorganisationen angewiesen. Wie kann es aber sein, dass Hilfsorganisationen von Deutschland aus kaum Geld nach Afghanistan transferieren können? Wir fragen beim Bankenverband nach. Hier heißt es, die Banken müssten auch weiterhin…

Zitat: "Ihre Sorgfaltspflichten zur Prävention von Terrorismusfinanzierung, Geldwäsche und sonstiger Straftaten erfüllen und Sanktionen umsetzen."

Und die Politik? Das Bundesfinanzministerium verweist auf eine EU-Verordnung, mit der die Ausnahmen von den UN-Sanktionen seit dieser Woche umgesetzt worden seien. Expertinnen und Experten befürchten jedoch, dass das nicht ausreicht – und fordern ein grundsätzliches Umdenken.

Alena Douhan, UN-Sonderberichterstatterin für Sanktionen (Übersetzung Monitor): "Staaten müssen ein Umfeld schaffen, in dem Banken nicht Gefahr laufen, gegen Sanktionen zu verstoßen. Gleichzeitig müssen aber auch die Banken aufhören, nur an eine Null-Risiko-Politik zu denken. Sie sollten an ihre Verpflichtung denken, Menschenrechte einzuhalten, und an die Menschen in Afghanistan, die an Hunger sterben oder weil es keine medizinische Versorgung mehr gibt."

Taj Khanom und ihre Kinder haben Hilfe aus dem Ausland bitter nötig, Millionen andere auch. Sie fühlen sich vom Westen erneut im Stich gelassen. 20 Jahre nach Beginn des NATO-Einsatzes, sechs Monate nach Abzug der westlichen Truppen aus Afghanistan.

Georg Restle: "Afghanistan nicht vergessen, das gilt nicht nur für die Politik, sondern ganz sicher auch für uns Journalisten und Journalistinnen. Wir bei MONITOR werden auch weiterhin auf dieses Land schauen – versprochen!"

Kommentare zum Thema

  • Anonym 21.02.2022, 06:03 Uhr

    Dieser Kommentar wurde gesperrt, weil er beleidigend ist. (die Redaktion)

  • Stefan Meyer 12.02.2022, 21:04 Uhr

    Eigentlich müssten wir am besten wissen was Krieg bedeutet! Deutschland war 1945 ähnlich zerstört wie Afghanistan Heute. Dann kam das Wirtschaftswunder (Marshallplan). Nun kann man sicher sagen Sorry die Taliban (Söhne der Mudschaheddin) unterstützen wir keinesfalls. Dies hat zur Folge, dass ein Land ein Stk. zurückfällt ins Mittelalter. Mali, Burkina Faso, Jemen, Südsudan, Eritrea. Ander Grenze Mali , Libyen wurden neue Uranvorkommen entdeckt. Frankreich ist nicht nur mit ihrer Fremdenlegion ()Légion étrangère) zugange! EUTM Mali z.B. Deutschland - Operation Takuba - ob das Ganze endet wie in Afghanistan, dies wollen wir gar nicht wissen. Denn auch gegen Mali gibt es massive Sanktionen! In Mali wurde Januar 2021 eine Hochzeitsgesellschaft bombardiert (Operation Barkhane) laut der (Misusma (Militärkoalition FR/DE usw. ) versehentlich. Ob die Kinder der Toten auch so ...? die Zahl der Anschläge in Burkina Faso, Mali und Niger seit 2016 verfünffacht. 700 Millionen Euro /Jahr.

  • Gerd 12.02.2022, 18:35 Uhr

    Jahrtausendelang haben Stämme und Völker der Welt existiert, stemmten in aller Regel regional Unstimmigkeiten mit Nachbarn ohne abartig auszurasten: Dann kamen die klugen westlichen Machthaber mit der "unantastbaren Würde des Menschen" in ihre Länder: Erst alles klauen, unterdrücken, auslutschen – um sich danach bitterlich, schluchzend und wehleidig selbst zu bemitleiden. Mehr Schwachsinn geht nicht ! Mit Klumbumbus 1492 seit nun mehr als 500 Jahren nur "Willst Du nicht mein Freund sein, dann schlage ich Dir den Schädel ein!"- Ab und an knallte es auch mal zurück, also nicht zum Schaden der Verursacher, nein, zur Demütigung von deren geduldigen Untertanen natürlich. Und schon geht´s auf, auf ein Neues - Fiasko.