MONITOR vom 08.12.2016

Das Märchen vom sicheren Afghanistan

Bericht: Marc Thörner, Nikolaus Steiner

Das Märchen vom sicheren Afghanistan Monitor 08.12.2016 07:55 Min. Verfügbar bis 30.12.2099 Das Erste

Georg Restle: „Eine sehr ernsthafte Frage. Vor allem für tausende afghanische Flüchtlinge, die schon in den nächsten Monaten das Land verlassen sollen. Als eine der sichersten Regionen gilt der Norden Afghanistans rund um die afghanische Stadt Masar-i-Scharif, wo auch die Bundeswehr stationiert ist. Eine Region, in die unser Autor Marc Thörner gereist ist - dorthin, wo afghanische Flüchtlinge angeblich sicher leben können - sagt die Bundesregierung. Urteilen Sie selbst!“

Hier soll es laut Bundesregierung also sicher sein, für Flüchtlinge, für uns nicht. Alleine können wir uns hier nicht bewegen. Um zu recherchieren, sind wir auf schwer bewaffnete lokale Milizen angewiesen. Afghanische Armee und die reguläre Polizei trauen sich schon lange nicht mehr in diesen Teil des Distriktes Scholgara, etwa 30 Minuten südwestlich von Masar-i-Scharif entfernt. Hier haben die Taliban jetzt das Sagen. Die etwa 30 Milizionäre sind Söldner. Sie kämpfen für den, der sie gerade bezahlt. Im Moment ist das die afghanische Regierung. Das Feld markiert die Grenze, dahinter beginne Taliban-Land, sagen sie uns. Dass jemand behauptet, der Norden Afghanistans sei sicher, können diese Kämpfer nicht verstehen.

Milizenführer (Übersetzung Monitor): „Manche Leute behaupten, dass es hier keine Taliban gäbe. Aber das ist eine Lüge. Die Taliban foltern die Bewohner hier, nehmen sie gefangen. Sie haben eigene Strukturen, Bürgermeister, Richter - sie haben einfach alles.“

Wir wollen mehr erfahren über diese angeblich friedliche Provinz Balkh im Norden. Die immer wieder genannt wird, wenn es darum geht, wohin afghanische Flüchtlinge zurückkehren könnten. Es ist bitter kalt, minus sieben Grad. Unsere Begleiter sind angespannt. Die Taliban könnten jederzeit zuschlagen, meinen sie. Über weite Strecken sehen wir niemanden auf der Straße. Am Rand stehen dutzende verlassene Lehmhäuser. Täglich gäbe es hier Gefechte mit den Taliban, sagt der Milizenführer. Wegen der Kämpfe seien tausende Menschen von hier geflohen. Die Lehmhäuser sind mittlerweile verfallen. Die Ruinen zu betreten sei zu gefährlich. Die Taliban hätten überall Minen gelegt, sagen uns die Kämpfer.

Milizenführer (Übersetzung Monitor): „Diese Häuser stehen leer, weil die Menschen vor dem Krieg geflohen sind. Heute ist von zehn Häusern nur noch eines bewohnt. Und das auch nur, weil diese Menschen kein Geld haben, um zu fliehen. Alle anderen sind schon weg.“

An einem Bach, wenige Kilometer weiter, treffen wir ein paar Dorfbewohner, die noch geblieben sind. Sie holen Wasser für die Familie. Auch sie berichten uns, dass es hier regelmäßig zu Überfällen und Angriffen durch die Taliban kommt.

Dorfbewohner (Übersetzung Monitor): „Die Lage ist sehr schlecht. Die Taliban bedrohen uns. Sie verlangen Steuern und misshandeln die Bewohner. Sie demonstrieren ihre Macht. Viele unserer Dorfbewohner mussten sterben. Wir haben kein Geld. Wo sollen wir denn hin? Wir müssen hierbleiben.“

Die Fronten hier im Norden können sich jederzeit verschieben. Ein Dorf, das heute noch als sicher gilt, kann morgen Kriegsschauplatz sein. Wir fahren weiter in einen Vorort von Masar-i-Scharif. Dort sind wir mit dem Paschtunen Abdessalam verabredet. Vor drei Monaten ist er mit seiner Familie aus dem Distrikt geflohen, in dem wir am Tag zuvor mit den Milizen unterwegs waren. Sein Bruder war als Soldat in der afghanischen Armee im Süden Afghanistans im Einsatz und wurde von den Taliban getötet. Die Familie wurde bedroht, sowohl von den Taliban als auch von lokalen Milizen, erzählen sie uns.

Abdessalam (Übersetzung Monitor): „Die Sicherheitslage ist im Vergleich zu vorigem Jahr schlechter geworden. Früher gab es hier keine Bombenanschläge. Seit letztem Jahr gibt es immer Explosionen.“

Abdessalam schlägt sich als Tagelöhner durch. Es reicht gerade mal für das Essen der Familie, meint er. Aber sicher fühlen sie sich auch hier in der Stadt nicht mehr.

Abdessalam (Übersetzung Monitor): „Man kann nicht sagen, dass es hier sicher ist. Es gibt in der ganzen Provinz Balkh keinen einzigen Ort, der wirklich sicher ist. Alle Distrikte haben Probleme.“

Keinen sicheren Ort? Dabei galt doch Masar-i-Scharif lange als Vorzeigestadt. Seit zehn Jahren ist die Bundeswehr hier stationiert. Doch auch hier hat sich die Lage verändert. Am 10. November explodierte ein LKW voller Sprengstoff vor dem schwer geschützten deutschen Generalkonsulat im Zentrum der Stadt. Von großen Teilen des Gebäudes sind heute nur noch Trümmer übrig. Die Druckwelle hinterließ im Umkreis hunderter Meter ihre Spuren. Hillal el Din arbeitet als Kellner in einem Restaurant gegenüber dem Konsulat. Bei der Explosion trafen ihn Splitter in den Hinterkopf. Seitdem ist für ihn klar: so etwas kann jederzeit wieder passieren.

OT Hillal el Din (Übersetzung MONITOR): "In Masar-i-Scharif lebten die Menschen früher im Frieden. Keiner hatte je geglaubt, dass solche Anschläge hier passieren können. Es ist sehr erschreckend. Die Situation hat sich in den letzten zwei Jahren enorm verschlechtert."

Der Polizeichef von Masar möchte vor allem über die Erfolge seiner Leute sprechen. Aber auch er räumt schließlich ein: Die Taliban sind auf dem Vormarsch.

Sayed Kamal Sadat, Polizeichef Masar-i-Scharif (Übersetzung Monitor): „Es gibt Taliban-Bewegungen auf dem Land - sie greifen aus den Nachbarprovinzen an. Regelmäßig attackieren sie unsere Wachposten. Wir töten viele Angreifer, verletzen sie oder nehmen sie fest. Die Taliban sind in den meisten Provinzen Afghanistans aktiv. Also natürlich auch hier, in Balkh. Sie versuchen die Provinz zu destabilisieren. Wir versuchen die Taliban daran zu hindern, dass sie weiter erstarken.“

Und es ist nicht nur der Anschlag auf das deutsche Konsulat, der zeigt, dass der Terror in die Stadt einzieht: April 2015 - die Taliban greifen ein Gericht an, elf Tote, 66 Verletzte. Januar 2016 - Angriff auf das indische Konsulat, vier Tote, sechs Verletzte. August 2016 - Selbstmordanschlag auf einem Markt, zwei Tote, 15 Verletzte. Insgesamt 27 solcher sogenannter „Sicherheitsereignisse“ gab es laut der EU-Agentur EASO in Masar-Stadt in wenigen Monaten. Trotzdem möchte die Bundesregierung Afghanen auch hierhin zurückschicken. Die würden dann wohl hier landen. Im Flüchtlingsviertel Hyattabad, in einem Vorort von Masar-i-Scharif. Etwa 500 Familien leben hier. Die meisten sind vor den Kämpfen auf dem Land in die Stadt geflohen. Abdelasis ist der Sprecher der rund 4.000 Binnenflüchtlinge. Die Angst sei mit ihnen vom Land in die Stadt gewandert, sagt er.

Abdelasis, Sprecher der Flüchtlinge Hyattabad (Übersetzung Monitor): „In den schwerbewachten Militärcamps ist es vielleicht sicher. Aber woanders nicht. Sobald Bewaffnete auftauchen, ist unser aller Leben in Gefahr. Die afghanische Armee und Polizei können uns nicht schützen. Jetzt höre ich, dass die Deutschen den Afghanen sagen, dass es hier sicher sei. Aber wo soll es denn hier sicher sein? Wir können jederzeit angegriffen werden. Wer wird uns dann helfen?“

Das Verteidigungsministerium erklärt auf Monitor-Anfrage, die Sicherheitslage in der Provinz habe sich innerhalb eines Jahres nicht verändert. Nach unserer Reise haben wir einen ganz anderen Eindruck.

Georg Restle: „Auch das Bundesinnenministerium hat uns geantwortet: „Die Bedrohungslage für Zivilisten habe sich in Afghanistan nicht wesentlich geändert.“ Vielleicht sollte Innenminister Thomas de Maizière a mal selbst wieder dorthin reisen.“

Kommentare zum Thema

  • Stöffler Peter 15.12.2016, 12:41 Uhr

    Die wirklich tapferen Menschen sind die welche sich trotz aller Gefahren (Entführung, Mord,Bombenanschlag) sich dem Wiederaufbau dieses Landes kümmern und unterstützen. Die Auslandjournalisten fahren nach kurzem Aufenthalt wieder Heim.

  • Thomas 14.12.2016, 20:57 Uhr

    Milliarden Menschen (Afrika, Asien) leben in Ländern bzw. Gegenden, die in unserem Sinne nicht sicher sind. Deshaln kann man diese Menschen nicht bei uns aufnehmen, schon gar nicht in unsere Sozialssysteme. Bei Afghanistan kommt hinzu, das Deutschland Milliarden dorthin zahlt- und dann sollen wir auch noch Menschen vpn dort aufnehmen? Irrsinn! Unser Asylrecht ist für politische Verfolgung gedacht (Lehre aus Nazizeit) und nicht für die Aufnahme von Menschen in Not. Panaroma ist wieder mal gegen unsere Bürger.

  • Gregor Nelles 14.12.2016, 16:00 Uhr

    Es entsteht mehr und mehr der Eindruck, das unser Grundgesetz von Politikern ausgehöhlt wird. Daher die Fragen: Ist die Würde des Menschen antsatbar und teilbar? Gilt der Artikel noch: alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich? Sind deutschen Politiker mehr wert als Menschen aus einem fremden Land? Wir schaffen das, war eben an die Politiker gerichtet und die schaffen es eben nicht das Grundgesetz zu verstehen und umzustetzen, daher sollte der Verfassungsschutz abgeschaft werden, weil der so und so keinen Sinn hat.