Afghanische Flüchtlinge: Versprechen gebrochen? Monitor 02.11.2023 08:02 Min. UT Verfügbar bis 30.12.2099 Das Erste Von Silke Diettrich, Marie Hanrath

MONITOR vom 02.11.2023

Afghanische Flüchtlinge: Versprechen gebrochen?

Rund ein Jahr nach dem Start des Bundesaufnahmeprogramms warten immer noch Tausende gefährdete Afghanen auf ihre Ausreise nach Deutschland. Nach der Rückkehr der Taliban wollte Deutschland 1000 Menschen pro Monat die Flucht auf diesem Weg ermöglichen. Bisher sind allerdings nur 14 Menschen über das Bundesaufnahmeprogramm in Deutschland angekommen. Hilfsorganisationen berichten von chaotischen Zuständen und einer überforderten deutschen Bürokratie.

Von Silke Diettrich, Marie Hanrath

Georg Restle: "Das Bild dieses US-amerikanischen Militärflugzeugs ging im August 2021 um die ganze Welt. Eine der letzten Maschinen der US-Streitkräfte, die Afghanistan verließen, bevor die Taliban die Macht übernahmen. Die Bilder der Menschen, die sich sogar dann noch an das Flugzeug klammerten, als es bereits abhob, kann kaum jemand vergessen. Die vielen verzweifelten Menschen, die damals zurückgelassen wurden. Die allerdings scheinen wir vergessen zu haben, obwohl die Außenministerin ihnen das Versprechen gegeben hatte, dass genau das nicht geschieht. Vor genau einem Jahr wurde deshalb das so genannte Bundesaufnahmeprogramm gestartet für all die Verfolgten und Bedrohten, die es damals nicht geschafft haben, Afghanistan zu verlassen. Was daraus geworden ist, zeigen ihnen Silke Diettrich und Marie Hanrath."

August 2021: verzweifelte Menschen in Afghanistan. Die Taliban kurz vor der offiziellen Machtübernahme. Panisch versuchen die Menschen aus dem Land zu fliehen, vom Flughafen in Kabul. In ihrer Not klammern sich einige an die letzten US-Flugzeuge, die das Land verlassen. Sie haben keine Chance. Zehntausende Gegner der Taliban haben die Flucht aus Afghanistan nicht geschafft. Ihnen gab Außenministerin Annalena Baerbock ein Versprechen.

Annalena Baerbock (B'90/Grüne), Bundesaußenministerin, 23.12.2021: "Sie sind nicht vergessen. Wir arbeiten mit Hochdruck daran, alle in Sicherheit zu bringen."

Dass dieses Versprechen eingelöst wird, darauf hofft sie jeden Tag: Wir nennen sie Maryam Mozaffari. Seit zwei Jahren wartet sie mit ihrer Familie darauf, dem Taliban-Terror zu entkommen. Der Ort muss geheim bleiben. Sie lebt in ständiger Angst, von den Taliban entdeckt zu werden.

Maryam Mozaffari (Übersetzung Monitor): "Wir müssen alle zwei bis drei Monate unseren Aufenthaltsort ändern. Es gibt keinen einzigen Tag mehr in meinem Leben, an dem ich mich sicher fühle. Wir sind schon durch verschiedene Provinzen im Land gezogen. Jede Minute muss ich damit rechnen, dass ich verhaftet werde. Einige meiner Kolleginnen haben sie schon mitgenommen."

Maryam Mozaffari ist Anwältin, hatte Frauen bei Gericht vertreten, die von ihren Männern geschlagen wurden. Bei der Deutschen Gesellschaft für internationale Zusammenarbeit und afghanischen Behörden gab sie Seminare über Frauenrechte. Eine Feindin in den Augen der islamistischen Taliban.

Maryam Mozaffari (Übersetzung Monitor): "Sie rufen an mit unterdrückter Nummer. Einmal war dann ein Mann dran, mit einer sehr aggressiven Stimme. Ich habe gefragt, warum rufen Sie mich an? Er sagte, ich werde dich finden und dich töten."

Maryam Mozaffari möchte an das deutsche Versprechen glauben. Sie setzt all ihre Hoffnung in das Bundesaufnahmeprogramm, das die Regierung vor einem Jahr ins Leben gerufen hat. Es richtet sich an Menschen wie sie, nämlich an:

Zitat (Auswärtiges Amt): "Afghaninnen und Afghanen, die sich durch ihren Einsatz für Frauen und Menschenrechte oder durch ihre Tätigkeit in den Bereichen Justiz und Politik […] besonders exponiert haben und deshalb individuell gefährdet sind."

Das Ziel der Bundesregierung, im Monat rund 1.000 besonders gefährdete Afghaninnen und Afghanen aufzunehmen. Jetzt, nach einem Jahr, hätten mit dem Bundesaufnahmeprogramm somit rund 12.000 Menschen aus Afghanistan nach Deutschland kommen sollen. Tatsächlich darüber eingereist sind bis heute gerade einmal 14. Wie kann das sein? Auf Anfrage von MONITOR antwortet das Bundesministerium des Innern:

Zitat (Auswärtiges Amt): "Wie viele Aufnahmezusagen […] pro Monat erteilt werden können, richtet sich insbesondere nach der Anzahl der zur Auswahl stehenden Vorschläge und inwieweit diese Personen auch die Kriterien für eine Aufnahme […] erfüllen."

Tatsächlich aber hätten sich mehrere zehntausend Menschen für das Programm gemeldet, berichten verschiedene Hilfsorganisationen. Es würde nicht an der Zahl der geeigneten Antragsteller liegen, sagt die Bundestagsabgeordnete der Linken, Clara Bünger. Sie wirft der Regierung beim Bundesaufnahmeprogramm absolutes Versagen vor. Die Bilanz unterbiete selbst die niedrigsten Erwartungen:

Clara Bünger (Die Linke), Bundestagsabgeordnete: "Zum einen müsste erst mal der politische Wille dafür tatsächlich da sein, dass man Menschen aus Afghanistan aufnehmen möchte. Ich sehe zwar nette Worte von Politikerinnen, aber ich sehe kein politisches Handeln, kein tatsächliches Handeln im politischen Bereich, dieses Aufnahmeprogramm auch wirklich umzusetzen, das ist das eine. Das andere ist, dass wir natürlich im letzten Jahr sehr viele bürokratische Hürden auch hatten bei der Etablierung des Programms."

Bürokratische Hürden, die auch Maryam Mozaffari überwinden muss. Warten, hoffen, bangen, das alles mache sie krank. Die Aussichten, dass sie es bald nach Deutschland schafft sind gering. Der Weg dahin – ein bürokratischer Marathon, an dem zahlreiche Bundesbehörden beteiligt sind: Sie muss eine Hilfsanfrage bei einer ausgewählten NGO stellen, es folgt dort erst einmal eine Überprüfung. Ein aufwändiger Fragebogen geht an die Koordinierungsstelle im Auftrag des Bundesinnenministeriums. Wieder wird geprüft. Dann eine Auswahlrunde deutscher Behörden, Innenministerium, Außenministerium. Es folgt eine Dokumentenprüfung durch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge. Dann braucht sie ein Visum für Pakistan und einen Termin beim Deutschen Konsulat in Islamabad, mit langen Wartezeiten. Dort überprüfen deutsche Sicherheitsbehörden noch einmal. Und erst dann vielleicht wird ein Visum erteilt, wenn es so weit kommt.

Die ersten Schritte hat Maryam Mozaffari immerhin schon geschafft. Ihr Fall ist in die Vorauswahl gekommen. Aber es kann noch Monate dauern, bis sie vielleicht eine Aufnahmezusage erhält. Und dann die Reise nach Pakistan antreten müsste. Daran scheitern hier viele. Denn nur hier in Islamabad, in der Deutschen Botschaft, können Menschen mit einer Aufnahmezusage ein Visum beantragen. Doch auf einen Termin müssen sie oft monatelang warten. Ein Nadelöhr, das nun richtig gefährlich werden kann. Denn Pakistan weist derzeit massenhaft afghanische Flüchtlinge aus, die keine gültigen Papiere haben. Millionen Menschen sind davon betroffen. Dies könnte auch den Afghaninnen und Afghanen drohen, die mit einer deutschen Aufnahmezusage gerade in Pakistan festhängen. Die Hilfsorganisation "Kabul Luftbrücke" bekommt das täglich mit. Sie kümmert sich um Ausreisen von gefährdeten Afghanen nach Pakistan und blickt mit Sorge auf die aktuellen Ereignisse:

Therese Hermann, Kabul Luftbrücke: "Wir sind mit vielen Menschen in Kontakt, die mit dem konkreten Ausreiseversprechen der Bundesregierung – teilweise vor vielen Monaten bereits – nach Pakistan gereist sind, um dort Zugang zu haben zur deutschen Botschaft, die jetzt dort feststecken, deren Visa ausgelaufen sind. Und man muss sagen, das liegt auch daran, dass die Bundesregierung da einfach extrem bürokratische Verhältnisse geschaffen hat und extrem lange braucht, um die Fälle zu prüfen und sie letztlich dadurch im Stich gelassen hat und sie der Gefahr aussetzt, nun ja, im schlechtesten Fall nach Afghanistan zurückgeschoben zu werden."

Zurück zu den islamistischen Taliban, von denen sie bedroht werden, wegen schleppender deutscher Bürokratie? Zurück nach Afghanistan, wo die Taliban Frauen zu Menschen zweiter Klasse degradieren. Zurück in ein Land, in dem sie wieder in großer Angst leben müssten. So wie Maryam Mozzafari, die jeden Tag aufs Neue darauf hofft, dass das deutsche Versprechen endlich eingelöst wird.

Georg Restle: "14 Menschen statt 12.000. Wahrscheinlich hat das ja auch damit zu tun, dass die Stimmung sich gewandelt hat in diesem Land. Wo die so genannte "Migrationskrise" mittlerweile zum alles beherrschenden Thema wurde und Ängste geschürt wurden vor zu vielen Geflüchteten."

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Kommentare zum Thema

  • r.wolff 13.11.2023, 12:14 Uhr

    Versprechen gebrochen, ich habe von der Politik nichts anderes erwartet, obwohl die Politik weis was diesen Menschen die für die BW gearbeitet haben geschieht - man hat sie den Taliban ausgeliefert obwohl man weis das man sie Hinrichten könnte, die verantwortlichen haben sich besudelt - es erinnert mich an den Algerien - Krieg und an die Hiwis.r.wolff

  • Juli 09.11.2023, 12:15 Uhr

    Dieser Kommentar wurde gesperrt, weil er gegen unsere Netiquette verstößt. (die Redaktion)

  • Anonym 06.11.2023, 17:21 Uhr

    Ich habe sie nicht vergessen . Die Gleichgültigkeit dieser Regierung , die Menschlichkeit die sie verloren hat , für alles und jedes ist so eklatant groß , das sie sehenden Auges die Ohren zuhält , um die Schreie der Verzweifelten nicht zu hören . Diese Regierung ist eine Schande für Deutschland . Jedoch wenn es wie im Fall der Afghanen um leben oder Tod geht , darf niemand so versagen .