MONITOR vom 12.05.2022

Lebenslang für Oppositionelle: Abschiebungen in die Türkei

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Bericht: Andreas Maus, Hüseyin Topel, Michael Kees

Lebenslang für Oppositionelle: Abschiebungen in die Türkei

Monitor 12.05.2022 07:02 Min. UT Verfügbar bis 30.12.2099 Das Erste Von Andreas Maus, Hüseyin Topel, Michael Kees

Georg Restle: "Das Schweigen der deutschen Bundesregierung zu Erdogans Kriegen hat jedenfalls Tradition. Zu groß die Angst vor neuen Flüchtlingen und davor, dass die Türkei die NATO verlassen könnte, um sich dann womöglich endgültig Richtung Moskau zu orientieren. Das bekommen auch die Menschen zu spüren, die hier in Deutschland Zuflucht suchen, weil sie in der Türkei politisch verfolgt werden. Obwohl ihnen dort jahrelange Haftstrafen drohen, erhalten sie hier kein Asyl oder werden sogar in die Türkei abgeschoben. Andreas Maus hat Menschen getroffen, denen deutsche Behörden nicht glauben wollten und die deshalb bitteres Leid erfahren müssen."

Heybet Sener lebt in ständiger Angst. Angst vor einer Abschiebung in die Türkei, wo ihm eine lange Haftstrafe droht. Der Oppositionelle flüchtete 2018 nach Deutschland, doch Schutz bekam er hier nicht. Stattdessen kam im Februar die Polizei.

Heybet Sener (Übersetzung Monitor): "Das hätte ich nie erwartet von Deutschland. Ich habe alle meine Papiere im Original vorgelegt. Die Bestrafung, die mir droht, ist ganz klar. Die werfen mich für Jahre ins Gefängnis. Und ihr wollt mich in die Türkei ausliefern?"

Sener kommt in Haft und wird zum Flughafen München gebracht. Erst in letzter Minute wird die Abschiebung abgebrochen. Wohl auch, weil Freunde und Unterstützer:innen lautstark protestieren. Abschiebung in einen Unrechtsstaat? Heybet Sener ist Mitglied der HDP, einer pro-kurdischen Partei, deren Mitglieder von Erdogan immer wieder kriminalisiert werden. Weil er vor Jahren Erdogan-kritische Social-Media-Beiträge geteilt hat, laufen nun Verfahren gegen ihn wegen angeblicher Terrorunterstützung und Präsidentenbeleidigung. Aber mit Terroristen der PKK habe er nie etwas zu tun gehabt, sagt Sener. Das Bundesamt für Migration lehnte Seners Asylantrag ab. Auch mehrere Klagen beim Verwaltungsgericht blieben erfolglos, zur Begründung hieß es unter anderem:

Zitat: "Eine Verfolgung (…) hat der Kläger nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit zu befürchten."

Also, keine Gefahr trotz einer drohenden Inhaftierung?

Emma Sinclair-Webb, Human Rights Watch, Türkei (Übersetzung Monitor): "Sie können wegen Beleidigung des Präsidenten, Terrorismuspropaganda oder Mitgliedschaft in einer terroristischen Organisation verurteilt werden, ohne dass es Beweise dafür gibt. Wir sehen also viele sehr missbräuchliche Anklagen und Verurteilungen. Das Mittel Inhaftierung wird in großem Umfang gegen Kritiker der Regierung eingesetzt, um sie zum Schweigen zu bringen."

Das bestätigt selbst der vertrauliche Lagebericht des Auswärtigen Amtes zur türkischen Justiz. Darin heißt es:

Zitat: "Problematisch ist der sehr weit ausgelegte Terrorismusbegriff durch die Gerichte."

Und weiter: So kann auch …

Zitat: "… das Teilen von Beiträgen mit PKK Bezug in den sozialen Medien (…) bereits den Tatbestand der Terrorpropaganda erfüllen."

Seit Beginn des Ukraine-Kriegs geht das Erdogan-Regime immer brutaler gegen die Opposition vor. Wie Anfang März in Istanbul bei einer Frauendemonstration. Vor knapp zwei Wochen dieser brutale Einsatz bei der Mai-Demonstration in Istanbul. Rund 160 Menschen werden verhaftet.

Frank Schwabe (SPD), Menschenrechtsbeauftragter Bundestagsfraktion: "Die Lage in der Türkei ist leider dramatisch. Von Rechtsstaat kann man nicht reden, sondern es gibt willkürliche Verhaftungen, es gibt willkürliche Urteile; und wir müssen auch davon ausgehen, dass es auch eine Form von systematischer Folter in Gefängnissen gibt."

Doch das hindert deutsche Behörden offenbar nicht daran, Menschen in die Türkei abzuschieben. Allein letztes Jahr waren es 361. Für manche mit dramatischen Folgen. In Augsburg treffen wir Ayse Kazankiran und ihre Kinder. Ihre Abschiebung wurde im März in letzter Sekunde abgebrochen. Ihr Mann Halil dagegen wurde Anfang März abgeschoben - und landete in einem türkischen Gefängnis. Weil deutsche Behörden ihm nicht glaubten, dass er politisch verfolgt wird. Seit Wochen haben sie nichts mehr von ihm gehört.

Ayse Kazankiran (Übersetzung Monitor): "Dass mein Mann in der Türkei verhaftet wurde, habe ich erstmal vor den Kleinen verheimlicht. Meine ältere Tochter und ich fühlten uns so, als hätte man uns den Boden unter den Füßen weggezogen. Ich weiß nicht, was mein Mann dort erlebt."

Vor drei Jahren verließ Halil mit seiner Familie die Türkei, wo ihm vorgeworfen wird, Mitglied der Gülen-Bewegung zu sein. Tatsächlich hat Halil an Treffen der Bewegung teilgenommen, aber mit Terrorismus oder dem Putschversuch habe er überhaupt nichts zu tun. Dennoch, in Abwesenheit wird der ehemalige Polizist 2021 wegen Terrorismus zu acht Jahren Haft verurteilt. Den Asylantrag der Familie lehnte das Bundesamt für Migration ab. Daraufhin, so erzählt uns Ayse, hätten sie weitere Belege für ihre Gefährdung vorgelegt. Darunter einen türkischen Festnahmebefehl und ein Urteil gegen ihren Mann. Doch das Bundesamt bezweifelte die Echtheit. Aufgrund zahlreicher Widersprüche hält es laut Gerichtsprotokoll

Zitat: "… das vorgelegte Urteil für eine Totalfälschung."

Wie berechtigt ihre Angst aber war, zeigte sich nach sich der Abschiebung auf dramatische Weise. Halil wird am Flughafen Istanbul direkt verhaftet. Begründet wird das mit genau den Dokumenten, die von der deutschen Behörde als Fälschung bewertet wurden. Abgelehnte Asylanträge mit fragwürdigen Begründungen, das seien keine Einzelfälle, beklagen Asylrechtsanwälte.

Dündar Kelloglu, Rechtsanwalt: "Die Entscheidungspraxis ist so, dass dem Vortrag der Flüchtlinge aus der Türkei kein Glauben geschenkt wird. Auch Beweise, die vorgelegt werden, werden lapidar abgelehnt, dass das nicht echt sei. Das führt dazu, dass oft Willkürentscheidungen inzwischen möglich sind."

Frank Schwabe (SPD), Menschenrechtsbeauftragter Bundestagsfraktion: "Es ist definitiv so, dass Menschen, die bei uns Schutz bekommen müssten, keinen Schutz bekommen. Deshalb, weil das BAMF – die zuständige Bundesbehörde – scheinbar von einer falschen Einschätzung eines Rechtsstaats in der Türkei ausgeht. Deswegen gibt es fehlerhafte Einschätzungen, fehlerhafte Entscheidungen, die dann leider auch von Gerichten nicht korrigiert werden."

Das Bundesamt äußerte sich auf Anfrage nicht zu den konkreten Vorwürfen und Einzelfällen. Allgemein heißt es, alle Fälle und Dokumente würden sorgfältig geprüft und individuell bewertet. Heybet Sener wird weiter um seine Sicherheit fürchten müssen. Ayse und ihre Kinder leben weiter in Angst vor einer Abschiebung. Nur selten gibt es solche Momente, die sie die Furcht vergessen lassen. Und die um das Leben ihres Vaters und Ehemannes.

Georg Restle: "Schwer zu begreifen ist das alles. Vor allem, wenn man gerade sieht, wozu dieses Land eigentlich fähig ist, wenn es darum geht, Menschen in größter Not bei uns aufzunehmen. Falsches Land offenbar."

Stand: 12.05.2022, 22:15 Uhr

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7 Kommentare

  • 7 Anonym 08.06.2022, 16:23 Uhr

    Dieser Kommentar wurde gesperrt, weil er gegen unsere Netiquette verstößt. (die Redaktion)

  • 6 Anonym 08.06.2022, 08:39 Uhr

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  • 3 Aga Bellwald 12.05.2022, 23:09 Uhr

    Nicht zu verstehen, dass die Behörden die eindeutigen Gefahren für die betroffenen Verfolgten NICHT sehen wollen. Das ist Kumpanei mit Erdogans Schergen, nichts mehr und nichts weniger. Zudem kommt die inflationäre Verwendung der Begriffe "Terror" und "Terrorist*innen" hinzu, wenn es um den Kampf der Kurd*innen gegen ihre Vertreibung und Ermordung geht. Leider tutet auch ein Teil unserer Medien ins selbe Horn der türkischen Behörden und das ist nicht gerade hilfreich, um die türkischen oder auch kurdischen politischen Aktivist*innen in ihrem Kampf gegen ihre Ausschaffung zu unterstützen. Also: bitte etwas mehr auf den Sprachgebrauch achten.

  • 2 Boothby 12.05.2022, 19:52 Uhr

    Und ? Unsere Bundesregierung macht in diesem reichen Land auch nichts gegen den Pflegenotstand oder die Altersarmut.......aber in der Ukraine werden unsere "Werte" verteidigt......

    • Klaus Schreiber 18.05.2022, 03:23 Uhr

      Hat dieser Beitrag irgendetwas mit dem Thema hier zu tun? Nein! Thema verfahlt! Kommentatoren wie Boothby sind offenbar erst dann bereit, Menschen in großer Not zu helfen, wenn zuvor ALLE Probleme in Deutschland gelöst sind, also NIE! Solch eine Einstellung zeugt von fehlender Empathiefähigkeit!

    • Klaus Schreiber 18.05.2022, 03:24 Uhr

      Es muss natürlich "verfehlt" heißen.