Kriegsverbrecher Netanjahu?
Monitor. 05.12.2024. 10:07 Min.. UT. Verfügbar bis 30.12.2099. Das Erste. Von Véronique Gantenberg, Andreas Maus.
MONITOR am 05.12.2024
Kriegsverbrecher Netanjahu?
Nach dem Haftbefehl des Internationalen Strafgerichtshofs gegen Israels Premier Netanjahu hagelte es heftige Kritik aus Israel und den USA, aber auch aus Deutschland. Der Vorwurf der Kriegsverbrechen gehe zu weit, schließlich habe Israel das Recht auf Selbstverteidigung. Die Bundesregierung duckt sich beim Vorwurf der Kriegsverbrechen weitgehend weg. Ganz anders 2023, als es um den Haftbefehl gegen Wladimir Putin ging. Geht Staatsräson jetzt vor Völkerrecht?
Von Véronique Gantenberg, Andreas Maus
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KommentierenGeorg Restle: "Das Jahr 2024 war nicht nur das Jahr der Klimakatastrophe und der Wirtschaftskrise. Es ist auch das Jahr verbrecherischer Kriege. Ob im Sudan oder in der Ukraine oder - wie hier - in Gaza, wo Israels Krieg Zehntausende Zivilisten tötete, Hunderttausende aus ihren Wohnungen vertrieb, abgeschnitten von der Versorgung mit Medizin, Wasser, Lebensmitteln. Alles gedeckt vom Recht auf Selbstverteidigung nach dem Terror der Hamas vom 7. Oktober 2023? Nein, sagen die Ankläger vom Internationalen Strafgerichtshof und haben deshalb einen internationalen Haftbefehl erlassen gegen Israels Premierminister Benjamin Netanjahu. Der Verdacht: Kriegsverbrechen. Die Folgen des Haftbefehls: Schwere Kritik; allerdings nicht an Netanjahu, sondern am Internationalen Strafgerichtshof - geäußert auch von deutschen Politikern. Vor allem eine Frage steht dabei im Raum: Ist die Solidarität mit Israel für die deutsche Bundesregierung womöglich wichtiger als die Durchsetzung des Völkerrechts? Veronique Gantenberg und Andreas Maus."
Ein Friedhof, inmitten von zerbombten Gebäuden - unterwegs in Gaza. Journalisten wie wir haben hier fast keinen Zugang mehr. Also filmt Michail für uns. Von der Hilfsorganisation Cadus. Eine der letzten hier. Gaza ist kein Ort zum Leben mehr- und doch will Michail helfen. Den Menschen, die nicht fliehen wollten oder konnten.
Michail Liontiris, CADUS (Übersetzung Monitor): "Wir sind gerade unterwegs Richtung Norden. Die Menschen dort sind von jeglicher Hilfe abgeschnitten. Ohne Strom, ohne Schutz, sie werden total belagert. Diese Mission ist der Rettungsanker für die Menschen dort."
Irgendwie überleben. Heute kommen mit dem Konvoi das erste Mal seit langem Hilfslieferungen bei den Menschen an. Michail will das Leben dieser Frau retten - nach einem Luftangriff hat sie ein schweres Schädelhirntrauma, erzählt er. Sein Team soll sie an einen anderen Ort bringen, einen, der hoffentlich sicherer ist.
Michail Liontiris, CADUS (Übersetzung Monitor): "Die Lage dort ist absolut herzzerreißend. Wir konnten nur eine Frau von der Intensivstation mitnehmen. Ich wünschte, wir hätten noch andere rausholen können. Gerade haben wir eine Explosion gehört, von dort, wo wir gerade herkommen."
Nach mehr als acht Stunden haben sie es geschafft, doch nur diese eine Frau konnte Michail retten. Die anderen Schwerverletzten musste er zurücklassen. Kein Entrinnen - der Krieg ist überall. Es ist Israels Recht, sich selbst zu verteidigen - nach dem Terror der Hamas vom 7. Oktober 2023. Doch über ein Jahr später und nach zehntausenden Toten in Gaza stellen sich diese Fragen: Ist dieser Krieg noch vom Völkerrecht gedeckt? Geschehen hier Kriegsverbrechen, die niemand ahndet? Wir erreichen einen israelischen Soldaten. Er war im vergangenen Jahr selbst im Gaza-Krieg, in der Einsatzzentrale der israelischen Armee.
Michael Ofer-Ziv, ehem. Soldat Israelische Armee (IDF) (Übersetzung Monitor): "Die Realität, die wir in Gaza durch die Militäraktion und die von Entscheidung von Politikern und Militärs geschaffen haben - diese Realität ist entsetzlich, sie ist durch nichts zu rechtfertigen und muss aufhören. Wir sollten nicht tun, was wir in Gaza tun."
Michael hat weitere Einsätze verweigert. Was in Gaza passiert, müsse genau untersucht werden, sagt er. All das will die israelische Regierung auf unsere Anfrage nicht kommentieren. Mögliche Kriegsverbrechen verfolgen - damit genau das passiert, hat der Internationale Strafgerichtshof drei Haftbefehle ausgestellt. Und zwar gegen Mohammed Deif, einen militärischen Anführer der Hamas. Aber auch gegen den ehemaligen israelischen Verteidigungsminister Yoav Gallant und Israels Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu. Den beiden werden Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit vorgeworfen. Haftbefehle gegen zwei israelische Politiker. Für einige deutsche Politiker geht der Internationale Strafgerichtshof damit zu weit.
Roderich Kiesewetter (26.11.2024): "Der internationale Strafgerichtshof ist für Israel nicht zuständig, weil Israel eine Demokratie ist.“
Und CSU-Politiker Alexander Dobrindt erzählt hier im Interview von seinem Gespräch mit Netanjahu vor wenigen Tagen.
Alexander Dobrindt 25.11.2024: "Ich habe ihm mitgeteilt, dass ich dieses Gerichtsurteil für eine bodenlose Dummheit halte."
Die Arbeit des Internationalen Strafgerichtshofs - eine bodenlose Dummheit? Dabei handelt es sich hier um eine der wichtigsten Institutionen des Völkerstrafrechts. Gegründet mit einem klaren Versprechen: Kriegsverbrechen sollen nicht ungesühnt bleiben. Unterstützt wird er von 124 Vertragsstaaten - auch von Deutschland. Sie alle haben sich auch verpflichtet, bei einem Haftbefehl die gesuchte Person festzunehmen. Aber würde Netanjahu festgenommen werden, wenn er nach Deutschland käme? Fragt man das die Bundesregierung gibt es keine klare Antwort.
Hebestreit 07.12: "Ich könnte mich dazu hinreißen lassen zu sagen, dass es mir schwer fällt, mir vorzustellen, dass wir auf dieser Grundlage Verhaftung in Deutschland durchführen."
Annalena Baerbock: "Wir halten uns national europäisch und international an Recht und Gesetz. Und deswegen prüfen wir jetzt genau, was das für uns in die nationale Umsetzung bedeutet."
Prüfen, Zurückhaltung - auch deshalb, weil völkerrechtlich außer Frage steht, dass Israel ein Recht auf Selbstverteidigung hat? Hier in Tel Aviv erinnert noch immer vieles an den Terror vom 7. Oktober. Aber deshalb mögliche Kriegsverbrechen in Gaza nicht verfolgen?
Michael Sfard (Übersetzung Monitor): "Nach den Gräueltaten der Hamas vom 7. Oktober konnte Israel nicht anders, als in einen Krieg zu ziehen. Aber das ist nicht die Frage. Die Frage ist, ob der Krieg, der gerechtfertigt und legal ist, auch mit legalen Mitteln geführt wurde? Und meine Antwort ist, ich habe sehr große Zweifel."
Michael Sfard ist Menschenrechtsanwalt in Israel. Was sagt er zu dem Argument, dass der Internationale Strafgerichtshof gar nicht zuständig sei - weil Israel ein Rechtsstaat sei und selbst ermitteln könne.
Michael Sfard (Übersetzung Monitor): "Die Vorstellung, dass die israelische Staatsanwaltschaft, die Polizei und die Gerichte gegen Gallant oder Netanjahu ermitteln, sie wegen Kriegsverbrechen vor Gericht stellen, ist Science Fiction."
Die Zuständigkeit des internationalen Strafgerichtshofs bei möglichen Kriegsverbrechen. Bei einem anderen Fall stand das außer Frage. Beim Haftbefehl gegen den russischen Diktator Wladimir Putin wegen Kriegsverbrechen in der Ukraine. Unbestritten, Russland ist anders als Israel eine Diktatur und Putin hat die Ukraine völkerrechtswidrig angegriffen. Für die Bundesregierung ist dieser Fall daher glasklar.
Annalena Baerbock 23.03.2023: "Niemand kann Kriegsverbrechen Verbrechen gegen die Menschlichkeit ungesühnt begehen, deswegen unterstützen wir den Internationalen Strafgerichtshof jetzt mit Blick auf den Haftbefehl."
Muss man also differenzieren? Zwischen Putins Angriffskrieg in der Ukraine und Netanyahus Gaza-Krieg? Zwischen Diktatur und Demokratie? Der Völkerrechtler Christoph Safferling kann die diplomatische Zurückhaltung der Bundesregierung politisch zwar nachvollziehen, aber das Völkerrecht mache hier eben keinen Unterschied."
Prof. Christoph Safferling, Völkerrechtler, Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg: "Dieses Gericht wurde nicht nur eingerichtet für Diktatoren und Tyrannen, sondern es wurde eingerichtet, um die Regeln des humanitären Völkerrechts, die Regeln der Menschenrechte entsprechend - ja einzuhalten und Verstöße dagegen zu verfolgen, egal wo und in welchen Umständen."
Der internationale Haftbefehl gegen Netanjahu - für Deutschland hat das Folgen, vor allem auch beim Thema Rüstungsexporte. Denn Deutschland ist für Israel der zweitwichtigste Rüstungslieferant. Rüstungsgüter, die mutmaßlich auch in Gaza eingesetzt werden. Wie etwa Kriegsschiffe, Waffentechnologie oder Panzerfäuste. Und jetzt? Kann es nach den Haftbefehlen damit einfach so weitergehen? Der Völkerrechtler Kai Ambos sieht die Bundesregierung in der Verantwortung.
Prof. Kai Ambos, Völkerrechtler, Georg-Auguts-Uni Göttinen: "Man muss ja nur eine Risikoanalyse machen, man muss also feststellen, gibt es ein überragendes Risiko, ein hohes Risiko, das mit diesen Waffen diese Verbrechen, um die es hier geht, im Gaza Krieg begangen werden, und das würde ich tendenziell schon bejahen, und insofern halte ich es für sehr problematisch, dass wir weiter Waffen liefern, mit denen solche Verbrechen begangen werden können. Das kann für Deutschland zu einer Haftung führen."
Haftung - eine mögliche Mitschuld? Für den Bundeskanzler ist die Sache klar.
Olaf Scholz 04.12.2024: "Wir haben Waffen geliefert in der Vergangenheit und werden das auch in der Zukunft tun."
Also weitermachen wie bisher? Und das Völkerrecht einfach ignorieren? Trotz Haftbefehl, aus Solidarität mit Israel?
Michael Sfard (Übersetzung Monitor): "Wenn das Völkerrecht mit zweierlei Maß misst, dann verliert es sämtliche Kraft in den Köpfen und Herzen der Menschen."
Für die Menschen in Gaza sind diese Diskussionen sehr weit weg. Für sie zählt gerade nur eins: Der Kampf ums Überleben.
Georg Restle: "Das Leiden der Menschen in Gaza oder in der Ukraine, die Verschärfung der Klimakrise. Und Demokratien, die immer stärker unter Druck geraten. Das alles wird in Erinnerung bleiben von diesem Jahr. Und das alles gibt durchaus Grund zur Sorge, auch für die kommenden Jahre."
Stand: 05.12.2024, 22:15 Uhr
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