Kriminalfälle aus NRW: Warum tötet jemand seine Eltern?
Stand: 30.12.2024, 17:03 Uhr
2019 tötet ein 29-Jähriger zuerst seinen Vater und dann seine Mutter. Eine Tat, ausgelöst durch eine Banalität - ein Streit über ein ärztliches Attest. Wie kann das sein? Kriminalpsychologin Lydia Benecke gibt Antworten.
Von Natalie Meyer
30 Messerstiche
Der 29-jährige Max H. (Name geändert) lebt zusammen mit seinen Eltern in Weilerswist. Er ist arbeitslos, alkoholabhängig und ständig zuhause, was oft zu Spannungen mit seinen Eltern führt. Als er 2019 endlich mit einer Umschulungsmaßnahme beginnt, meldet er sich dort aber aufgrund seines Alkoholkonsums und wegen eines Infekts für mehrere Tage krank.
Seinen Eltern gefällt das nicht. Sie wollen das ärztliche Attest sehen, wovon sich Max H. unter Druck gesetzt fühlt, es kommt zum Streit. Mit einem Klappmesser bewaffnet geht H. unvermittelt auf seinen Vater los. Seine Mutter bekommt den Todeskampf ihres Mannes mit und ruft die Polizei, doch es ist zu spät. Ihr Sohn nimmt ihr das Telefon ab und sticht auch auf sie ein. Die Polizisten, die an seiner Festnahme beteiligt waren, beschreiben ihn hinterher als "merkwürdig". Wegen Totschlags und Mordes an seinen Eltern mit je 30 Messerstichen wird Max H. schließlich zu lebenslanger Haft verurteilt.
Den Film zum Fall gibt es bei Lokalzeit MordOrte auf YouTube zu sehen.
Morden wegen einer Kleinigkeit?
Warum tötet ein Sohn die eigenen Eltern? Wir sprechen mit Lydia Benecke. Als Kriminalpsychologin hat sie immer wieder mit Straftätern zu tun, die allem Anschein nach aus Banalitäten heraus handeln.
Lokalzeit: Wie kann es sein, dass so eine Tat durch eine solche Banalität ausgelöst wird?
Lydia Benecke: Der Streit ist alleine für sich stehend keine hinreichende Erklärung für diese Tat. Bei der kriminalpsychologischen Betrachtung muss man unterschiedliche Faktoren und ihre Wechselwirkungen berücksichtigen. Dazu gehören beispielsweise die Vorgeschichte der Tat, die Gesamtdynamik und auch die Persönlichkeit des Täters. Die relevanten Faktoren sind aufgrund wissenschaftlicher Erkenntnisse bekannt. Bei der Einordnung solcher Fälle nutze ich ergänzend meine langjährige Arbeitserfahrung mit Menschen, die versuchte und vollendete Tötungsdelikte begingen.
Dipl.-Psych. Lydia Benecke arbeitet als selbstständige Kriminalpsychologin und als Autorin
Lokalzeit: Und wie ordnen Sie die Tat ein?
Benecke: In diesem Fall weist das Gesamtbild darauf hin, dass Max H. eine über lange Zeit sehr konfliktreiche Beziehung zu seinen Eltern hatte, im Rahmen derer er sehr wahrscheinlich viele negative Gefühle aufgestaut hat, zu denen auch starke Wut gehörte. Der Streit am Tattag war dabei offenbar der Auslöser für die Entladung der heftigen Wut.
Max H. soll eine konfliktreiche Beziehung zu seinen Eltern geführt haben
Lokalzeit: Warum tötet jemand seine eigenen Eltern? Müsste es da nicht eine riesige Hemmschwelle geben?
Benecke: Viele Menschen können sich nicht vorstellen, einer ihnen nahestehenden Person etwas anzutun und trauen auch den Menschen in ihrem Umfeld keine solchen Taten zu. Die Datenlage zeigt allerdings, dass die meisten Tötungsdelikte eben gerade nicht von einer fremden Person begangen werden, sondern von einer Person aus dem sozialen Umfeld des Opfers. In diesen Fällen ist die spezifische Dynamik zwischen den Personen einer der Faktoren, die im Gesamtbild eine Rolle spielen. Die Tötung der eigenen Eltern, die in der Wissenschaft "Parentizid" genannt wird, kommt selten vor.
Parentizid - der Mord an den eigenen Eltern
Lokalzeit: Gibt die Wissenschaft denn trotzdem Antworten?
Benecke: Eine Tat-Typologie in diesem Bereich wurde von der Kriminologie-Professorin Kathleen Heide entwickelt. Sie teilte Menschen, die einen "Parentizid" begehen, in zunächst drei und später vier Gruppen ein: Tatpersonen der ersten Gruppe leben häufig in eher ungewöhnlich hohem Alter noch mit den Eltern zusammen. In ihren Fällen spielt eine schwere psychische Erkrankung eine relevante Rolle, im Rahmen derer die tatausführende Person die Realität nicht mehr richtig wahrnehmen kann. Die meisten von solchen Erkrankungen betroffenen Menschen begehen keine Gewaltdelikte. Bei der hier genannten Gruppe entwickeln die Betroffenen allerdings eine wahnhafte Vorstellung, etwa dass ihre Eltern sie töten wollen oder dass diese ausgetauscht worden und somit Klone seien. Das Delikt basiert dann also auf der krankhaft veränderten Realitätswahrnehmung.
Lokalzeit: Was ist mit Gruppe zwei?
Benecke: Tatpersonen der zweiten Gruppe weisen eine antisoziale Persönlichkeitsstruktur auf, die es ihnen leicht macht, anderen Menschen zu schaden, um eigene Bedürfnisse zu befriedigen. Diese Menschen haben wenig Mitgefühl oder Schuldgefühl, wenig Angst vor negativen Konsequenzen und sind stark auf die eigenen Bedürfnisse fokussiert. Wenn die Eltern etwas tun, das ihren gerade als besonders relevant erlebten Bedürfnissen entgegensteht, zum Beispiel die finanzielle Versorgung beenden, sich gegen Drogenkonsum aussprechen, eine Beziehung verbieten, oder Ähnliches, kann eine antisoziale Person entscheiden, die nunmehr als Hindernis erlebten Eltern aus dem Weg zu räumen.
Lokalzeit: Und die anderen beiden Gruppen?
Benecke: Die dritte Gruppe beschreibt Jugendliche, die von ihren Eltern körperlich, sexuell oder emotional misshandelt wurden. Einige von ihnen wurden vernachlässigt, also emotional, körperlich oder medizinisch mangelhaft versorgt. Das Tötungsdelikt stellt für diese Gruppe einen Ausweg aus dem als unerträglich empfundenen Leben mit den Eltern dar. Ergänzend zur dritten Kategorie, führte Kathleen Heide 2013 eine vierte Kategorie ein: Erwachsene, die häufig lange von ihren Eltern emotional, sexuell oder körperlich misshandelt wurden. Manchmal erlebten sie auch die Misshandlungen anderer Familienangehöriger mit. Bei Personen dieser Gruppe staut sich über lange Zeit Wut auf, die sie unterdrücken. Die Beziehung zu den Eltern kann ambivalent sein, also von dem Bedürfnis nach Nähe und gleichzeitig Distanz geprägt. Da bei der Tat die lange aufgestaute Wut eine relevante Rolle spielt, kann es zu einer "Übertötung" kommen. Hierbei wird mehr Gewalt angewandt, als zur Tötung notwendig gewesen wäre. Es gibt natürlich auch Mischformen.
- Zum Beitrag: Wie werden Missbrauchsopfer manipuliert?
Lokalzeit: Ist es grundsätzlich so, dass solchen Taten eine Vorgeschichte vorausgeht?
Benecke: Da beim Parentizid eine enge Vorbeziehung eine relevante Rolle spielt, ist die genaue Betrachtung des Vortatzeitraums hier natürlich sehr relevant, wie man ja auch an der Beschreibung der Untergruppen erkennen kann. Bei zwei der Untergruppen spielt ja eine Vorgeschichte von emotionalen und/ oder sexuellen und/ oder körperlichen Misshandlungen oder Vernachlässigungen eine Rolle. Wobei solche zu erleben selbstverständlich keine Entschuldigung für die Begehung eines Gewaltdeliktes sein kann. In dem Fall, über den wir hier sprechen, konnte weder sicher belegt noch widerlegt werden, ob es relevante körperliche Misshandlungen des Sohnes durch seinen Vater gab. Zweifellos gab es aber eine bereits lange durch Konflikte geprägte Beziehung.
Immun gegen Pfefferspray?
Lokalzeit: Als die Polizisten Max H. festnehmen wollten, setzten sie Pfefferspray gegen ihn ein, was aber bis auf eine Gesichtsrötung keinerlei Wirkung bei ihm zeigte. Haben Sie schon mal von Tätern gehört, die nicht auf Pfefferspray reagieren?
Benecke: Viele Menschen wissen nicht, dass Pfefferspray nicht immer bei allen Menschen die erwartete Wirkung zeigt. Das kann unterschiedliche Hintergründe haben. Es gibt eine kleine Gruppe von Menschen, die immun gegen die Wirkstoffe ist, die also tatsächlich nicht die erwartete Reaktion zeigt. Dann gibt es aber auch eine Gruppe, die nicht prinzipiell immun gegen die Wirkstoffe ist, bei der aber Alkohol, Drogen oder andere Substanzen eine Rolle spielen, durch die die Wirkung beeinflusst wird.
Max H. soll kaum eine Reaktion auf das eingesetzte Pfefferspray gezeigt haben
Lokalzeit: Max H. hatte sich der Festnahme der zwei Polizeibeamten widersetzt und schaffte es sogar, bis auf die Straße zu gehen, obwohl er sie dabei nicht angegriffen hat. Er ging viel mehr sozusagen wie ein Zombie davon. Wie kann es sein, dass der Täter kaum Gegenwehr ausgeübt hat gegen die Polizei?
Benecke: Das wirkt natürlich zunächst überraschend. Mir fiel in diesem Zusammenhang eine Stelle im Urteil auf. Der Täter gab an, sein Vater habe ihn immer wieder mit einer bestimmten Peitsche geschlagen. Er habe sich dann nie gewehrt, sondern habe sich "einfach entzogen, sei weggegangen". Das ist ziemlich genau das Verhalten, das er auch zeigte, als die Beamten versuchten, ihn festzunehmen. Möglicherweise hat er in dieser Situation auf eine Verhaltensstrategie zurückgegriffen, die er über Jahre hinweg aufgebaut hat.
Lokalzeit: Gibt es Hilfen für Kinder aus Familien mit ähnlichen Problemen, hätte man die Tat irgendwie verhindern können, bevor es eskaliert ist?
Benecke: Zunächst ist es erforderlich, dass die Person auf den Gedanken kommt: "Ich bin in einer Situation, die sich für mich zunehmend unerträglich darstellt. Wo kann ich Hilfe finden, um diese Situation zu bewältigen?" Im Internet kann man dann zu ganz unterschiedlichen Fragestellungen und Problemen passende Beratungs- und Hilfsangebote finden. Im Sinne der Prävention kann dann im besten Fall eine Dynamik, die irgendwann bis hin zu einem Gewaltdelikt eskalieren könnte, möglichst frühzeitig abgewendet werden.
Auswahl an Hilfsangeboten für Menschen in akuten Krisen
- Die Telefonseelsorge bietet Hilfe bei Sorgen und Krisen. Es gibt auch persönliche Beratungstermine. Die Hotline ist durchgehend erreichbar und kostenlos.
- Die Online-Suizidprävention U25 richtet sich speziell an unter 25-Jährige in (suizidalen) Krisen. Das Besondere dabei ist, dass hier Jugendliche anderen Jugendlichen mit Suizidgedanken per Mail unterstützen.
- Die Familienberatung in Nordrhein-Westfalen bietet Unterstützung gezielt für Familien in schwierigen Situationen. Sie hilft bei Unsicherheiten und Überforderung in der Kindererziehung und im familiären Zusammenleben.
- Die Alkoholberatung "Kenn dein Limit" bietet Unterstützung für Menschen, die ihren Alkoholkonsum reduzieren oder ganz aufhören möchten. Sie richtet sich sowohl an Betroffene als auch an Angehörige und Freunde, die sich Sorgen machen.