"Eine Gewaltspirale": Wie Frauen unter häuslicher Gewalt leiden
Stand: 26.06.2024, 16:01 Uhr
Beleidigt, gedemütigt, geschlagen. Vom eigenen Partner. Zehntausende Frauen erleben tagtäglich häusliche Gewalt. Die Leiterin einer Beratungsstelle in Oberhausen erklärt, warum sich Frauen das oft lange gefallen lassen. Und wie sie Hilfe bekommen können.
Von Stefan Weisemann
- Kapitel 1 : Der Fall Tina G.
- Kapitel 2 : Was häusliche Gewalt im Alltag bedeutet
- Kapitel 3 : Warum Frauen oft lange in Gewaltbeziehungen bleiben
- Kapitel 4 : Wie sich Frauen aus Gewaltbeziehungen lösen
- Kapitel 5 : Wo es bei häuslicher Gewalt Hilfe gibt
- Kapitel 6 : Warum die Fallzahlen bei häuslicher Gewalt steigen
Der Fall Tina G.
36 Jahre alt, im fünften Monat schwanger. Getötet mit zwei Schüssen. Einer in die Brust, einer in den Kopf. So wird Tina G. im November 2016 auf einem abgelegenen Weg im Kölner Stadtteil Weiden gefunden.
Nach 24 Stunden hat die Polizei eine Spur. Sie führt sie zum Ehemann der Toten, Mehdi K. Es wird klar: Mehdi K. war extrem eifersüchtig, verlangte von seiner Frau, sich anders zu kleiden, wollte über ihr Leben bestimmen. Er drohte ihr sogar mit Selbstmord, wenn sie ihn verlässt. Schließlich tötet er seine Frau. Mehr zu diesem Fall gibt es bei WDR Lokalzeit MordOrte.
Der Mord an Tina G. war ein sogenannter Femizid. Also ein Mord an einer Frau, allein weil sie eine Frau ist. Manchmal werden diese Taten auch als Ehrenmorde bezeichnet. Warum es Kritik an diesem Begriff gibt, liest du hier. Allein 2023 gab es in Deutschland 155 solcher Femizide, steht im Lagebericht "Häusliche Gewalt" des BKA.
Femizide sind die Spitze einer Spirale aus Gewalt, die viele Menschen in Beziehungen erleben. Von Beleidigungen und Demütigungen über Schläge und Tritte bis zu Vergewaltigungen. 2023 wurden in Deutschland laut BKA-Bericht mehr als 256.000 Menschen Opfer häuslicher Gewalt, 70 Prozent davon Frauen. Die Dunkelziffer ist wohl deutlich höher.
Wie wird eine Beziehung zu einer Gewaltbeziehung? Warum halten es viele Frauen jahrelang in solchen Beziehungen aus? Wo und wie gibt es Hilfe bei häuslicher Gewalt? Das erklärt Sabrina Rees im Interview mit der Lokalzeit. Sie ist die Leiterin der Frauenberatungsstelle "Frauen helfen Frauen" in Oberhausen.
Was häusliche Gewalt im Alltag bedeutet
Lokalzeit: Was bedeutet häusliche Gewalt ganz konkret?
Sabrina Rees: Häusliche Gewalt ist ein sehr weiter Begriff. Man stellt sich darunter oft als erstes Schläge vor, mit der flachen Hand oder der Faust. Oder einen zu festen Griff am Oberarm. Es gibt aber auch viel psychische Gewalt, also Beleidigungen und Bedrohungen zum Beispiel. Frauen werden vom Partner isoliert, sollen keinen Kontakt mehr mit Familie und Freunden haben. Es geht darum, sie möglichst hilflos und abhängig vom Mann zu machen.
Hilft Frauen, wenn sie häusliche Gewalt erleben: Sabrina Rees
Lokalzeit: Was sind denn erste Anzeichen für häusliche Gewalt?
Rees: Es fängt oft sehr schleichend an. Zum Beispiel auch mit "Love Bombing". Die Frau wird also zunächst überschüttet mit Komplimenten, Geschenken und Liebesbekundungen. Dann kommen aber langsam erste Beleidigungen oder andere Gewalt dazu. Die betroffenen Frauen sagen dann oft erst einmal: So schlimm ist es ja gar nicht.
Lokalzeit: Aber es wird schlimmer, oder?
Rees: Ja, es entwickelt sich von Mal zu Mal. Irgendwann merken die Frauen nicht mehr, wie schlimm es tatsächlich geworden ist. Und oft sagen auch Menschen im Umfeld: "Stell dich nicht so an, keine Beziehung ist perfekt, jeder streitet mal." Die Frauen werden also gar nicht ernst genommen. Das macht es für sie schwer, aus einer solchen Beziehung herauszukommen.
Lokalzeit: Wie ist das für Sie, wenn Sie jeden Tag mit solchen Schicksalen konfrontiert sind? Ist das nicht sehr belastend?
Rees: Nein, tatsächlich nicht. Wir haben einen der dankbarsten Jobs, die es gibt. Natürlich werden wir mit sehr harten und heftigen Schicksalen konfrontiert. Aber die Frauen kommen zu uns, wenn sie etwas verändern wollen. Wir können dabei ein Stück weit helfen. Das sind sehr wertvolle, energiegeladene Prozesse.
Warum Frauen oft lange in Gewaltbeziehungen bleiben
Lokalzeit: Wenn Frauen zu Ihnen in die Beratung kommen, haben sie oft schon jahrelang Gewalt erlebt. Was sagen diese Frauen: Warum haben sie es so lange ausgehalten?
Rees: Manche sagen: "Ich liebe meinen Mann und habe immer gehofft, dass es wieder besser wird." Andere geben sich selbst die Schuld an der Gewalt. Das ist sehr gefährlich, weil die Frauen sich auch selbst etwas vortäuschen. Außerdem leidet das Selbstwertgefühl der Frauen. Sie bekommen vom Partner ständig zu hören: "Dich will niemand, ohne mich bist du nichts." Dann fällt es natürlich noch schwerer, sich zu trennen.
Lokalzeit: Was hindert Frauen noch daran, sich frühzeitig vom gewalttätigen Partner zu trennen?
Rees: Oft ist es eine Gewaltspirale. Das heißt: Es findet ein Gewaltvorfall statt. Danach entschuldigt sich der Mann, sagt, dass so etwas nicht wieder vorkommt. Es läuft wieder gut, bis zum nächsten Gewaltakt. Die Abstände werden in der Regel kürzer und die Gewalt von Mal zu Mal schlimmer. Aufgrund der schönen Phasen dazwischen hoffen die Frauen immer wieder, dass es wieder so wie am Anfang der Beziehung wird.
Lokalzeit: Welche Rolle spielen Kinder?
Rees: Sie sind ein sehr großer Grund, in einer Gewaltbeziehung zu bleiben. Es ist heute leider oft immer noch so, dass die Frau für das Wohl der Familie verantwortlich gemacht wird. Von ihr wird erwartet, die Beziehung für die Kinder zu kitten. Außerdem verdienen Frauen eher weniger und bleiben eher mit den Kindern zu Hause. Der Wiedereinstieg in den Beruf ist schwierig, die Wohnungssuche ebenfalls. Auch deshalb bleiben sie in der Gewaltbeziehung.
Wie sich Frauen aus Gewaltbeziehungen lösen
Lokalzeit: Was würde es für diese Frauen denn einfacher machen, sich zu lösen?
Rees: Es müsste zum Beispiel mehr bezahlbare Wohnungen geben. Zudem muss das Thema häusliche Gewalt stärker enttabuisiert werden. Jede vierte Frau hat schon einmal Gewalt von ihrem Partner oder Ex-Partner erfahren. Gesprochen wird wenig darüber. Die Gesellschaft nimmt das Thema nicht ernst genug. Entsprechend schämen sich die betroffenen Frauen, Hilfe zu suchen.
Lokalzeit: Es schaffen aber ja auch viele Frauen, aus solchen Beziehungen herauszukommen. Was können Auslöser sein, sich Hilfe zu holen?
Rees: Da gibt es sehr viele. Ich hatte eine Frau in der Beratung, die jahrelang von ihrem Mann geschlagen und verprügelt wurde. Das war für sie kein Thema. Dann hat er aber einmal das gemeinsame Kind geschubst. Da hat die Frau gesagt: "Jetzt ist die Grenze überschritten." Die Grenze kann auch erreicht sein, wenn die Polizei kommt, weil die Frau selbst oder die Nachbarn sie rufen mussten. Manchmal ist es aber auch so, dass sich Frauen einer Freundin öffnen und so Hilfe bekommen.
Wo es bei häuslicher Gewalt Hilfe gibt
Lokalzeit: Sie haben gesagt, dass jede vierte Frau schon Gewalt durch einen Partner oder Ex-Partner erlebt hat. Viele werden also in ihrem Familien- oder Freundeskreis Frauen haben, die unter häuslicher Gewalt leiden. Wie erkennt man das?
Rees: Es gibt verschiedene Anzeichen. Das können häufige Verletzungen sein, die komisch erklärt werden. Oder wenn eine Frau im Sommer regelmäßig lange Sachen trägt, oder einen Schal, um Würgemale zu verdecken. Es kann auch sein, dass ihr der Partner hartnäckig nicht von der Seite weicht, oder es treten Schlaf- oder Essprobleme auf. All diese Symptome können aber natürlich auch andere Ursachen haben.
Häusliche Gewalt: Hier bekommen Betroffene Hilfe
Das Hilfetelefon "Gewalt gegen Frauen" berät Frauen, die Gewalt erleben. Es ist rund um die Uhr erreichbar unter 116 016, in 18 verschiedenen Sprachen. Die Mitarbeiter beraten selbst, vermitteln aber vor allem auch an Hilfsangebote vor Ort oder an Frauenhäuser. In allen Städten bieten soziale Einrichtungen und Vereine Beratung und Hilfe an. Die Frauenberatungsstelle in Oberhausen hilft zum Beispiel auch per Chat oder E-Mail.
Lokalzeit: Wie können Freunde helfen?
Rees: Ich würde einen ruhigen Moment ohne den Partner abpassen und die eigenen Beobachtungen teilen. Also sagen: "Mir fällt auf, dass du in letzter Zeit irgendwie anders bist, du lächelst nicht mehr so viel. Irgendwas stimmt doch nicht. Magst du reden? Und wenn du jetzt nicht reden willst, melde dich jederzeit gerne bei mir, wir finden zusammen eine Lösung." So bekommen die Frauen das Signal: Da ist ein Netz, das mich auffängt. Wir als Frauenberatungsstelle bieten übrigens auch Beratung für Angehörige von Gewaltopfern an.
Warum die Fallzahlen bei häuslicher Gewalt steigen
Lokalzeit: Die Zahlen von Fällen häuslicher Gewalt sind zuletzt gestiegen. Merken Sie den Anstieg bei Ihnen in der Beratung in Oberhausen auch?
Rees: Ja, wir haben in den letzten Jahren einen kontinuierlichen Anstieg an Beratungsanfragen. Wir sind tatsächlich schon sehr voll, was die Termine angeht.
Lokalzeit: Können Sie sich den Anstieg erklären?
Rees: Wir leben immer noch in einem patriarchalen System. Frauen verdienen weniger, haben schlechtere Chancen auf Jobs, bleiben zu Hause, hüten die Kinder. Das macht strukturelle Gewalt gegen Frauen einfacher. Außerdem wird in den Sozialen Medien oft eine heile Welt vorgespielt. Besonders während Corona wurde aber auch vermehrt für das Thema häusliche Gewalt sensibilisiert. So haben sich wohl auch mehr betroffene Frauen gemeldet.
Lokalzeit: Was wünschen Sie sich für Ihre Arbeit, damit Sie es betroffenen Frauen leichter machen können?
Rees: Das größte Problem ist die Finanzierung. Wir müssen alle vier Jahre Anträge beim Land NRW stellen. Das übernimmt aber nur einen Teil der Kosten. Allein in diesem Jahr haben wir eine Lücke von 15.000 Euro. Wo das Geld herbekommen soll, weiß ich nicht. Die Termine sind ja kostenlos, wir haben keine Einnahmen. Uns würde es auch helfen, wenn die Beratungsstellen noch bekannter werden. Die Frauenberatung in Oberhausen gibt es seit 39 Jahren und es gibt immer noch Frauen, die sagen: "Hätte ich mal früher gewusst, dass es euch gibt."
Über dieses Thema haben wir am 26.06.2024 auch im WDR Fernsehen berichtet: Lokalzeit MordOrte - Femzide: Wenn Männer Frauen töten, 22.15 Uhr.