Kriminalfälle aus NRW: Wochenlang nicht entdeckt: Der tote Junge im Baum
Stand: 11.05.2023, 16:23 Uhr
Im April 2017 wird in Mönchengladbach in einem Baum eine Leiche gefunden. Der Tote ist der 17-jährige Mark. Es hatte etwa drei Monate gedauert, bis er dort gefunden wurde. Es ist das Ende einer Familientragödie.
Von Stefan Weisemann
Wohl nur zufällig guckt ein Spaziergänger nach oben, als er unter einer alten Eibe herläuft. Einer Eibe, die mitten in einer guten Wohngegend in Mönchengladbach-Windberg steht. Plötzlich sieht er, dass eine "lebensgroße Puppe" im Baum hängt. Oder ist es etwa ein Mensch?
Wenig später ist klar: An diesem 29. April 2017 wurde tatsächlich ein Mensch tot in einem Baum gefunden. Rund drei Monate hing der 17-jährige Mark S. dort. Nur einen halben Meter über den Köpfen der Menschen, die dort lebten. Ob Mark im Winter auf dem Baum erfroren ist oder ob er Medikamente oder Drogen genommen hatte, ließ sich nicht rekonstruieren. Bei seinem Tod trug der Junge sieben Jacken und T-Shirts übereinander. Aber was war passiert?
Die Eibe in Mönchengladbach steht mitten in einem Wohngebiet.
Wie das Leben von Marks Familie aus den Fugen gerät
Mit dem Tod endet eine Familientragödie, die drei Jahre vorher ihren Anfang genommen hat. Mark S. ist damals 14. Er wohnt mit seinen Eltern und seiner Schwester zusammen. Zwischen den Eltern gibt es immer wieder heftigen Streit. Immer wieder muss auch die Polizei kommen. Anfang Januar 2014 beantragt die Mutter eine einstweilige Verfügung, die besagt, dass sich ihr Mann von ihr fernhalten muss. Sie zieht sie einen Tag später zurück.
Schauplatz einer Familientragödie: Das Haus, in dem Mark S. gewohnt hat.
Was die Behörden damals nicht wissen: Der Vater hatte in den 80er Jahren schon einmal im Gefängnis gesessen. Damals hatte er einer Frau mit einem Messer mehrfach in die Brust gestochen. Die Akten zum Fall sind allerdings längst in den Archiven verschwunden, die Tat mittlerweile verjährt und aus dem Vorstrafenregister gestrichen.
Rund zwei Wochen nach dem Rückzug der einstweiligen Verfügung gibt es erneut einen heftigen Streit. In der Folge schläft der Vater im Keller des Hauses in einer Hollywoodschaukel. Das macht er oft, wenn er sich mit seiner Frau gestritten hat. Als er am Morgen des 24. Januar in die Wohnung zurückkehren will, will seine Frau ihn aus Angst nicht hereinlassen. Sie fleht Mark S. an, ihr zu helfen, die Tür zuzudrücken.
Doch 17-Jährige versucht zu schlichten. Der Vater kommt schließlich in die Wohnung. Die Frage, ob sie ihn noch liebe, beantwortet seine Frau mit "Nein". Daraufhin greift der Vater zum Küchenmesser und sticht zu. Mark versucht seine Mutter zu beschützen. Jetzt sticht der Vater auch auf den Sohn ein. Die Mutter stirbt, Mark S. wird lebensgefährlich verletzt.
Mit lebensgefährlichen Verletzungen rettet sich Mark S. in dieses Versicherungsbüro.
Mit letzter Kraft rennt Mark S. aus der Wohnung und ins Versicherungsbüro gegenüber. Sein weißes T-Shirt ist blutdurchtränkt. "Er hat aus dem Hals geblutet, er hat aus dem Oberkörper geblutet und er hat nach Hilfe gerufen", sagt Tobias Nix. Er und sein Chef helfen Mark S. damals bis Rettungskräfte kommen. Der Junge muss notoperiert werden.
Hilft Mark S. als erstes: Tobias Nix
Der Vater bedroht nun auch die Polizisten mit Messern und einem Beil. Sie können ihn nur mit mehreren Schüssen stoppen.
Wie ein Psychologe Marks Entwicklung erklärt
Für Mark S. sind der Angriff des Vaters und der Tod der Mutter ein Erlebnis, von dem er sich nie mehr erholen wird. Er gibt sich selbst die Schuld, die Mutter nicht gerettet zu haben. Fachärzte diagnostizieren eine "posttraumatische Belastungsstörung". Mark S. kommt ins Kinderheim und wechselt dort mehrmals die Gruppen. Nirgends kann er sich wohlfühlen, nirgends ankommen. Dann fällt er durch aggressives Verhalten auf. Schließlich stirbt der Vater im Gefängnis eines natürlichen Todes. Mark S. isoliert sich weiter. Er hat Angst vor Menschen und Angst vor engen Räumen.
Psychotherapeut und Psychologe Prof. Dr. Michael Borg-Laufs
"Bin ich auch so? Welche Anteile von mir sind vielleicht genauso wie in diesem Menschen?" Solche Vorwürfe machten sich Kinder und Jugendliche laut Psychotherapeut Michael Borg-Laufs häufig, wenn sie ein schweres Trauma verarbeiten müssen. Dazu kämen Schuldgefühle, den Tod der Mutter nicht verhindert zu haben.
Das Jugendamt versucht Mark dauerhaft in einer Psychiatrie unterzubringen. Das scheitert, weil Ärzte und Richter nicht davon ausgehen, dass er eine Gefahr für sich selbst oder andere ist.
Wie das Leben von Mark endet
Damit beginnt Marks letzter Lebensabschnitt. Er lebt jetzt vor allem auf der Straße. Seine Angst vor engen Räumen lässt ihn nachts auf Bäumen oder dem Flachdach des Gesundheitsamtes schlafen. Er bricht in Läden ein, klaut Essen. Die Menschen in Mönchengladbach-Windberg kennen ihn als den "Kapuzenjungen". Streetworker versuchen, ihm so gut es geht zu helfen.
Wenige Wochen vor seinem Verschwinden wird Mark wegen diverser Delikte zu einer Bewährungsstrafe verurteilt. Er verstößt gegen die Auflagen und wird deshalb per Haftbefehl gesucht. Danach ist er nicht mehr auffindbar. Irgendwann im Januar klettert er wohl das letzte Mal auf die Eibe. In der er erst rund drei Monate später tot entdeckt wird.