Warum eine Kriminologin für mehr Gefängnis-Ausgang ist

Bochum | Verbrechen

Stand: 08.07.2024, 17:05 Uhr

Gefängnisinsassen an das Leben in Freiheit gewöhnen. Das ist der Sinn von Ausgängen. Eine Kriminologin von der Ruhr-Universität Bochum wünscht sich, dass Gefängnisse dabei nicht mehr so streng sind. Warum ist das so?

Von Stefan Weisemann

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Der Fall des Serienmörders Dieter Zurwehme

Frühjahr 1999: In einem Mehrfamilienhaus in Remagen in Rheinland-Pfalz findet die Polizei zwei Leichen, einen Mann und eine Frau, blutüberströmt. Außerdem eine lebensgefährlich verletzte Frau, die kurz darauf stirbt. In einer Villa am Rhein wird ein weiterer toter Mann gefunden. Alle ermordet von Dieter Zurwehme, an einem Tag.

Zurwehme hatte schon Anfang der 70er-Jahre bei einem Raubüberfall in Düren eine Frau getötet und saß deshalb im Gefängnis. Ende der 90er-Jahre nutzt er einen unbegleiteten Freigang, um zu flüchten. Monatelang hält die Flucht die Menschen in Deutschland in Atem. Zurwehme wird zum Serienmörder. Den ganzen Fall gibt es bei WDR Lokalzeit MordOrte.

Ein verurteilter Mörder bekommt Zeit außerhalb des Gefängnisses und nutzt sie zur Flucht. Wie oft kommt das vor? Warum ist Ausgang für Gefängnisinsassen so wichtig? Und wie streng sind die Gefängnisse? Die Antworten gibt Christine Morgenstern. Sie ist Inhaberin des Lehrstuhls für Kriminologie an der Ruhr-Universität Bochum.

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Warum Straftäter Ausgang bekommen sollten

Lokalzeit: Welche Möglichkeiten haben Insassen, das Gefängnis für eine bestimmte Zeit zu verlassen?

Christine Morgenstern: Der Oberbegriff heißt vollzugsöffnende Maßnahmen. Zunächst gibt es die Ausführung, zum Beispiel zu einem Gerichtstermin oder einer Beerdigung. Da sind Bedienstete dabei. Als nächste Stufe folgt der Ausgang. Für eine bestimmte Tageszeit dürfen die Insassen das Gefängnis verlassen, dafür kann eine Begleitperson bestimmt werden. Außerdem gibt es noch den Langzeit-Ausgang, etwa Wochenend-Ausflüge zur Familie. Dazu kommen zwei Formen, die mit Arbeit zu tun haben: Die Außenbeschäftigung, bei der Insassen zum Beispiel vor der Anstalt die Beete pflegen, und der Freigang. Da dürfen Insassen ohne Begleitung arbeiten gehen. Das ist aber eher selten.

Hält Gefängnisse beim Ausgang für sehr streng: Kriminologin Prof. Dr. Christine Morgenstern | Bildquelle: Privat

Lokalzeit: Warum ist es sinnvoll, dass Straftäter schon während ihrer Haft das Gefängnis zeitweise verlassen dürfen?

Morgenstern: Es gibt zwei Gründe. Erstmal, damit die Insassen soziale Kontakte aufrechterhalten können. Vor allem den Kontakt zu Angehörigen. Der Besuch im Gefängnis ist eben nicht mit dem gemeinsamen Kaffeetrinken am Sonntagnachmittag zu vergleichen. Zweitens proben sie mit Blick auf ihre Entlassung das Leben in Freiheit. Ich kenne den Extremfall von zwei Personen, die schon zu DDR-Zeiten ins Gefängnis gekommen sind. Sie wissen nicht mal, wie man Geld von der Bank abhebt.

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Welche Auflagen gelten für den Ausgang?

Lokalzeit: Kann grundsätzlich jedem Insassen Ausgang gewährt werden? Dem Mörder genauso wie dem Betrüger?

Morgenstern: Grundsätzlich ja. Es wird abgewogen, wie hoch das Risiko ist, dass der Insasse flüchtet oder weitere Straftaten begeht. Es wird geschaut: Was wissen wir über den Insassen und sein Umfeld? Möchte er gerne zurück in ein bürgerliches Leben, ohne Straftaten? Das ist immer von der Person abhängig, nicht von der Straftat, für die sie verurteilt wurde.

Lokalzeit: Wer entscheidet, ob ein Insasse Ausgang bekommt?

Morgenstern: Die Anstaltsleitung in Absprache mit den Bediensteten, die mit dem Insassen zu tun haben. Dazu der Sozialdienst und der Psychologische Dienst. Alle treffen sich zu Fallkonferenzen. In Ausnahmefällen gibt es auch ein Gutachten, gerade wenn jemand zu einer lebenslangen Haftstrafe verurteilt wurde.

Lokalzeit: Wie wägen die Beteiligten in den Fallkonferenzen die Risiken ab, ob jemand raus darf?

Morgenstern: In die Bewertung fließen Beobachtungen der Bediensteten und Gespräche mit dem Insassen ein. Es wird zudem geprüft, ob sich der Insasse im Gefängnis angemessen verhalten hat. Auch die Tat spielt eine Rolle. Bei einem Fall von häuslicher Gewalt schauen die Verantwortlichen natürlich sehr genau, wo der Insasse hinwill.

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Wie ein Ausgang aus dem Gefängnis abläuft

Lokalzeit: Wie läuft das zu Beginn ab, wenn ein Insasse Ausgang gewährt bekommt?

Morgenstern: Beim Ausgang gibt es manchmal Bedienstete, die sich sehr engagieren. Sie gehen mit dem Insassen erst einmal mit, zum Beispiel zum Schwimmen. Besucht er Verwandte, werden auch sie befragt. Ausgänge werden vorher sehr genau abgestimmt. Das Programm eines Ausgangs muss der Gefangene selbst beantragen und angeben, was er machen möchte. Es kann dabei auch Weisungen geben. Der Ausgang wird dann nur genehmigt, wenn der Gefangene sich in dieser Zeit zum Beispiel mit seinem künftigen Bewährungshelfer trifft oder zum Amt geht.

Lokalzeit: Was ist für Insassen bei einem Ausgang verboten?

Morgenstern: Vor allem bei Alkohol sind die Gefängnisse sehr strikt. Bei denen, die ich kenne, gibt es eine Null-Toleranz-Politik. Dazu kann es spezielle Anweisungen geben, dass sich die Insassen beispielsweise bestimmten Menschen oder Orten nicht nähern dürfen.

Lokalzeit: Angenommen, jemand hält sich nicht an die Abmachungen. Wie schnell kann der Ausgang gestrichen werden?

Morgenstern: Da finde ich die Gefängnisse sehr streng. Wer zwei Minuten zu spät kommt, bekommt bestimmt einen kritischen Blick, muss aber eher keine Konsequenzen fürchten. Bei einer halben Stunde gibt es schon Ärger. Wer sagt, dass die Bahn Verspätung hatte, bekommt zu hören: 'Dann nimm beim nächsten Mal eine Bahn früher.' Aber natürlich unterscheidet sich der Stil von Gefängnis zu Gefängnis.

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Wie groß ist das Fluchtrisiko beim Ausgang?

Lokalzeit: Aber sind die Gefängnisse nicht zurecht streng? Schließlich gibt es Fälle, in denen Insassen während des Ausgangs flüchten oder Straftaten begehen. Wie groß ist das Risiko dafür?

Morgenstern: Die Fälle zu untersuchen, ist relativ aufwendig. Was ich aber sagen kann: Das Risiko ist extrem gering. Für das Jahr 2020 haben wir eine Missbrauchsquote von 0,1 bis 0,3 Prozent. Da sind aber auch die dabei, die eine halbe Stunde zu spät gekommen sind oder eben doch Alkohol getrunken haben. Ich glaube, in der Öffentlichkeit ist zu wenig bekannt, dass beim Ausgang in der Regel nichts passiert. Die Allermeisten halten sich an die Regeln, weil sie ja beim nächsten Mal erneut Ausgang bekommen wollen.

Lokalzeit: Das heißt, die Gefängnisleitungen sind aus Ihrer Sicht zu vorsichtig?

Morgenstern: Ja. Sie könnten durchaus etwas risikofreudiger sein, weil der Ausgang eben ganz selten für kriminelle Aktivitäten oder eine Flucht genutzt wird. Ich will das nicht herunterspielen. Aber in unserer Gesellschaft müssen Verantwortliche mit heftigen Reaktionen rechnen, wenn doch etwas passiert. Die Gefängnisse fürchten schlechte Schlagzeilen. Die Konsequenz ist, dass sie strenger und vorsichtiger werden.

Lokalzeit: Haften die Verantwortlichen denn persönlich, wenn ein Insasse beim Ausgang eine Straftat begeht oder flüchtet?

Morgenstern: Strafrechtlich wäre das grundsätzlich möglich. Aber nur, wenn jemand ganz bewusst bei seiner Beurteilung schlampt. Wenn also klar ist, dass ein Insasse draußen sehr wahrscheinlich jemanden verletzt und er trotzdem Ausgang bekommt. Dann könnte das als fahrlässige Körperverletzung gewertet werden. Das wäre aber ein absoluter Ausnahmefall.

Lokalzeit: Bei allem Restrisiko: Ist es für uns alle am Ende sicherer, wenn Insassen auch Zeiten außerhalb der Gefängnismauern verbringen?

Morgenstern: Ja, letztlich müssen wir alle ein Interesse daran haben, dass es für Insassen Ausgang gibt. Denn wenn jemand resozialisiert ist, begeht er mit hoher Wahrscheinlichkeit keine Straftaten mehr. Das ist die Idee. Und das klappt am besten, wenn man die Insassen langsam wieder an die Freiheit gewöhnt.