Eine junge blonde Frau steht vor einem Zaun.

Sicher nach Hause? Eine Münsteranerin erzählt, wie schwer das sein kann

Münster | Verbrechen

Stand: 11.10.2024, 07:21 Uhr

Lang hatte Celina Nitsch kein Problem damit, nachts in Münster allein nach Hause zu gehen. Dann wird sie Opfer eines Übergriffs. Über Angsträume in den Städten von NRW und Hilfe zur Selbsthilfe.

Von Yunus Gündüz

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Der Vorfall

Es ist die Silvesternacht von 2019 auf 2020. Celina Nitsch, damals 20 Jahre alt, und ihre Freunde feiern Neujahr in einer Münsteraner Disco. Es ist voll und die Stimmung ausgelassen. Irgendwann wird sie müde, entscheidet sich, wie so oft, allein nach Hause zu gehen.

Ihre Freunde wollen noch weiter feiern. Vor dem Club verwickeln zwei Männer die Studentin in ein Gespräch. Sie entfernen sich von der Club-Tür und rauchen gemeinsam eine Zigarette. Einer von ihnen sagt sehr schnell, dass er wieder reingehen möchte. Sie bleibt allein mit dem anderen Mann zurück. Die Stimmung kippt sofort. Er wird unangenehm, aufdringlich, bedrängt sie, hält sie fest, zwingt sie zu einem Kuss. Sie fängt an zu weinen, versucht sich von dem Griff zu befreien. Sie kann nicht mehr genau sagen wie, aber irgendwie schafft sie es, sich von ihm zu lösen.

Wie Celina Nitsch nach dem Übergriff reagiert hat

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"Ich war in der Situation überfordert und wusste erstmal gar nicht, was ich tun sollte." Die Studentin läuft zurück in den Club und sucht ihre Freunde. Was genau vorgefallen ist, sagt sie ihnen nicht. Sie hat Angst, allein nach Hause zu gehen, und sie wird es zwei Jahre danach immer noch haben. Was Nitsch passiert ist, ist kein Einzelfall.

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…seine Folgen

Im Jahr 2023 sind allein in NRW 32.463 Fälle von Verbrechen gegen die sexuelle Selbstbestimmung angezeigt worden, darunter 4.931 Fälle von sexueller Belästigung und 452 Fälle von sexuellen Übergriffen. So steht es in der Polizeilichen Kriminalstatistik. Fälle wie jener Übergriff, den Celina Nitsch erlebt hat. 

"Damals hatte ich ein Schamgefühl. Ich habe mich immer wieder gefragt, ob es vielleicht nicht doch meine Schuld gewesen ist. Heute weiß ich, dass das Unsinn ist." Einige Zeit nach dem Vorfall kann sie sich überwinden und gibt eine Anzeige auf. Sie will damit das ständige Gefühl von Unsicherheit bändigen.

Wie sich der Übergriff auf die nächsten Abende mit Freunden auswirkte

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Welche Verbrechen passieren wo in NRW?

Aber auch ohne ein solches Erlebnis fühlen sich viele unsicher auf NRWs Straßen. Laut der Dunkelfeldstudie "Sicherheit und Gewalt in Nordrhein-Westfalen" von 2020 fühlen sich rund 72 Prozent der weiblichen und 47 Prozent der männlichen Befragten nachts im öffentlichen Raum unsicher.

Eine Dunkelfeldstudie schaut auf potenzielle Straftaten und Phänomene, die in der polizeilichen Kriminalitätsstatistik nicht abgebildet werden. Die Ergebnisse der Studie decken sich mit den Erfahrungen von Celina Nitsch. Auch sie fühlt sich seitdem vor allem in den Abendstunden im öffentlichen Raum unwohl, also in Parks, auf Plätzen, Straßen und Wegen. Menschen, die bereits Opfer von Übergriffen geworden sind, fühlen sich überdurchschnittlich unwohl. Aber wie ist die Lage auf NRWs Straßen?

Ein Blick in die Polizeikriminalitätsstatistik 2023 für Münster zeigt, dass hier 10.856 Straftaten pro 100.000 Einwohner gemeldet wurden. Damit ist Münster auf Platz vier unter den zehn größten Städten in NRW hinter Köln, Dortmund, Essen und Bonn.

Allerdings muss man die Zahlen genauer untersuchen, um sie zu verstehen: Von den insgesamt 34.829 angezeigten Straftaten fallen in der "Leezenstadt" 3.725 Fälle allein auf Fahrraddiebstahl. Der Anteil der Sexualstraftaten steigt zwar in den Statistiken. Diese Entwicklung betrifft in NRW allerdings hauptsächlich den Bereich Internet, beispielsweise durch die Aufdeckung der Missbrauchsfälle in Lügde und den Missbrauchskomplex in Münster sowie den jeweiligen Folgeermittlungen.

Dass es auf den Straßen deutlich gefährlicher wird, lässt sich daraus nicht ableiten. Außerdem sind Angsträume, also Orte, an denen Menschen befürchten, Opfer eines Angriffs zu werden und statistische Kriminalitätsschwerpunkte in einer Stadt nicht immer deckungsgleich. "Man kann beispielhaft die Düsseldorfer Altstadt nehmen", sagt ein Sprecher des Innenministeriums: "Dieser Raum wird möglicherweise gemieden, obwohl dort in der jüngeren Vergangenheit nichts mehr passiert ist. Diese subjektive Wahrnehmung wird dann womöglich als Angstraum definiert." Auch sei laut Polizei und Innenministerium nur durch aufwendige Sonderauswertungen nachzuvollziehen, ob Straftaten an Hotspots tagsüber oder zu den Abendstunden stattfinden und damit wirklich Einfluss auf das Sicherheitsgefühl beim Nachhauseweg nehmen.

An welchen öffentlichen Plätzen sich Celina Nitsch besonders unwohl fühlt

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Das sind die Brennpunkte in den größten Städten NRWs

Der Bereich rund um den Hauptbahnhof in Münster gilt beispielsweise als Einsatzschwerpunkt der Polizei. Dieser ist rund um die Uhr belebt, Polizei oder Sicherheitskräfte laufen regelmäßig Streife und der Bahnhof selbst ist gut ausgeleuchtet. Bei Angsträumen handele es sich laut Innenministerium stattdessen oft um schlecht beleuchtete Straßen, Unterführungen oder Waldstücke. Viele würden sich auf der sogenannten "letzten Meile" unwohl fühlen, sobald Menschen sich ihrer Wohnung nähern. Wenn aus belebten Gegenden menschenleere Wege, Waldstücke und spärlich beleuchtete Nachbarschaften werden. Das gilt für viele Städte in Nordrhein-Westfalen. Einsatzschwerpunkte der Polizei, wenn sie denn konkret eingrenzbar sind, sind selten in unbelebten Gegenden. Ähnlich wie in Münster sind es oft Bahnhofsviertel, Innenstädte oder bestimmte Stadtteile.

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Sicher nach Hause Dank App

Ebenso wie Nitsch fühlte sich die 19-jährige Nour Idelbi abends auf dem Heimweg unwohl. Die Münsteranerin war im Jugendparlament aktiv, wo es oft spät werden konnte. In dieser Zeit kam ihr die Idee zur SafeSpace-App. "Viele Apps haben nur eine Art Notfallknopf, aber ab wann wird Unwohlsein zum Notfall?" Ihre App arbeitet mit einem Ampelsystem. Je höher die "Alarmstufe", desto mehr Funktionen werden in der Situation angeboten, zum Beispiel das Versenden von Akkustand und Live-Standort an Notfallkontakte. Ein Angebot, mit dem sich auch Celina Nitsch absichern wollte.

"Unsere App lebt auch von der Community", sagt Gründerin Idelbi. In einem Austauschbereich können Menschen in ähnlichen Situationen miteinander chatten oder telefonieren. Daneben gibt es die Möglichkeit, auf der App seinen Heimweg zu planen. Unterstützt wird man dabei von einem Google-gestützten System, das einen entlang des "sichersten Weges" führt, beispielsweise an geöffneten Supermärkten oder Kiosken vorbei. "Die Funktion kommt zwar gut an, aber das müssen wir in Zukunft weiter optimieren." Da die Wege mit begrenzten Daten errechnet werden, sind sie nicht immer die sicherste Option. Das Korrektiv sei die Community von SafeSpace, sagt Idelbi.

Sicher nach Hause? Wie Celina Nitsch sich absichert

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Neben SafeSpace gibt es zahlreiche weitere Apps für den sicheren Heimweg, darunter "Wayguard", "Life360", "KommGutHeim" oder die offizielle Notruf-App "Nora" der Bundesländer. Außerdem gibt es Angebote wie das Heimwegtelefon. Ehrenamtliche Helfer begleiten Anrufer auf ihrem Weg, damit diese sich sicher fühlen. Die Helfer können gegebenenfalls sogar den Notruf verständigen. Außerdem gibt es beispielsweise in Kleve und Wuppertal Angebote von nächtlichen Frauen- und Sammeltaxen oder unter anderem im Ruhrgebiet und im Rhein-Sieg-Kreis die "Halt auf Wunsch"-Option in Bussen, sodass der Weg von der Bushaltestelle zur Wohnung minimiert werden kann.

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…und die Zukunft?

Nitsch ist mittlerweile Sozialarbeiterin und hat sich in ihrer neuen Wahlheimat Bremen etwas für NRW abgeschaut. "In Bremen laufen an Partymeilen oft Awareness-Teams, die man im Zweifelsfall einfach ansprechen kann." Das helfe zumindest in der unmittelbaren Umgebung von Clubs. Für die vom Innenministerium benannte letzte Meile könne man städtebaulich ansetzen, meint die 25-Jährige. Indem Städte fußgängerfreundlicher gestaltet werden, beispielsweise durch bessere Beleuchtung von Fußwegen oder besser einsehbare und hellere Parks.

Nitsch ist es aber auch wichtig, dass mehr über das Thema gesprochen wird. Laut Dunkelfeldstudie gehören sexuelle Übergriffe oder exhibitionistische Handlungen zu den Straftaten, die am seltensten angezeigt werden. Scham war auch für Nitsch ein großes Problem.

Warum es wichtig ist, über das Erlebte zu sprechen

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Nour Idelbi von SafeSpace weiß, wie wichtig es ist, in diesen Situationen Hilfsangebote zu bekommen. Sagt aber auch: "Wir wollen natürlich jedem helfen, der Hilfe braucht. Aber wir wollen nicht, dass Menschen sich von uns abhängig machen. Unser Ziel ist die Selbstbestimmtheit des Menschen." Genau das kann Celina Nitsch inzwischen wieder: sich selbstbestimmt in der Nacht bewegen.