Ohne Worte: 24 Stunden im Schweigekloster
Stand: 26.12.2024, 08:33 Uhr
Wie hart kann es schon sein, einfach mal nichts zu sagen? Unser Autor hat es ausprobiert und einen Tag und eine Nacht in einem Schweigekloster verbracht.
Von Luca Peters
Kein Wort zu viel
Da ist diese eine Frage, die mir die Suchmaschine nicht beantworten kann. Wie lang kann ein Tag schon sein? Google meint: 86.400 Sekunden. Wie lang kann ein Tag schon sein? Das ist mehr als nur eine Frage. Das ist auch meine Strategie. Einen Tag, denke ich, den kriege ich schon irgendwie rum, auch wenn es hart wird. Oder?
Ich bin 26 Jahre alt und noch nie in meinem Leben habe ich für mehr als ein paar Stunden geschwiegen. Zuhause, in Bielefeld, lebe ich in einer Wohngemeinschaft mit lauter Studenten. Am Esstisch gilt das Recht des Stärkeren. Alle haben eine Meinung, wer gehört werden will, muss sich Gehör verschaffen. Das gefällt mir, das ist meine Welt, das bin ich. Und es raubt mir Kraft.
Mein Leben strengt mich an. Wenn ich von der Arbeit komme, bin ich kaputt. Wenn ich in den Urlaub fahre, komme ich erschöpfter zurück, als ich losgefahren bin. Irgendwas läuft falsch. Ich muss was ändern. Vielleicht ist ein Schweigekloster ja genau das Richtige für mich.
"Halten Sie sich aus!"
Das Kloster Vinnenberg ist kein Ort, dem man durch Zufall begegnet. An diesem Novembertag liegt es, eingerahmt von üppigen Waldungen, in einem nebelschweren Winkel des Münsterlandes. Ein paar Meter hinter dem Klostergarten beginnt Niedersachsen. Vinnenberg ist ein Bollwerk aus Stein und Schweigen, ein Ehrfurcht gebietendes Gebäude mit trutzigen Mauern aus dem 13. Jahrhundert. Fast 800 Jahre lang lebte hier eine Abteilung Benediktinernonnen, die das "Vinnenberger Gnadenbild" bewachte, eine Holzmadonna, aufbewahrt in der klösterlichen Wallfahrtskirche.
So idyllisch liegt das Kloster Vinnenberg
Heute versteht sich das Kloster als "Sinn-Bildungshaus", als einen Rückzugsort für Gesellschaftsmüde, Yogis und solche, die Zeit mit sich selbst verbringen wollen. So wie ich. Bevor ich "ins Schweigen trete", wie sie hier sagen, habe ich eine Audienz beim Meister. Doktor Carl Möller empfängt mich tief im Inneren des Klosters in seiner Privatwohnung.
Worauf kommt es beim Schweigen an?
00:43 Min.. Verfügbar bis 26.12.2026.
Er ist der "Schweige-Priester" von Vinnenberg, ein gebückter alter Mann mit wachen Augen und ungewöhnlicher Vita. Möller ist Psychologe und Theologe in einem, ein bedächtiger Redner, jemand, der seine Worte zählt wie bare Münzen, bevor er sie ausgibt. Möller ist ein Mann, der Dinge sagt, die ich nicht begreife. "Sie müssen versuchen, sich selbst auszuhalten". Oder: "Wissen Sie, Schweigen ist etwas ganz anderes als Stille". Was denn dann, Herr Möller? Eine Antwort gibt er nicht.
Der Tag, der nie endet
14.15 Uhr. Mein Schweigen hat begonnen. Ich liege auf dem Bett meiner spartanisch eingerichteten Klosterzelle. Sieben oder acht Quadratmeter, ein Schreibtisch, ein Holzstuhl, Badezimmer auf dem Flur. Ich starre an die weiß getünchte Decke und denke über die Spielregeln meines Schweigeversuchs nach. Sie sind hart.
Viel Weiß und Naturholz: So sieht die Klosterzelle von innen aus
Ich darf nicht reden und keine Musik hören, Bücher und Internet sind tabu. Ich wollte ins Schweigekloster, doch nun bezweifle ich, ob ich dem Schweigen standhalten kann. Wer ins Schweigekloster zieht, der kann aus dem Fenster schauen, im Wald spazieren gehen und meditieren, aber nicht sich selbst entkommen. Wer ins Schweigekloster zieht, der hat auf einmal ganz viel Zeit. Wie lang kann ein Tag schon sein?
Ich gehe ins Badezimmer und lasse heißes Wasser in die Wanne laufen. Mir gefällt der Gedanke, mich vom heißen Wasser davonspülen zu lassen, in absoluter Stille zu versinken. Stattdessen schreit sie mich an. Es ist eine ohrenzerreißende Stille, eine, die mir die Luft zum Atmen raubt wie ein zu warmer Wintermantel. Eintausend Fragen schießen mir in den Kopf, von denen ich die meisten gar nicht beantworten möchte. Ich muss mit jemandem reden.
Was tun, wenn das Schweigen schwer zu ertragen wird?
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Für einen Augenblick denke ich darüber nach, wie es wäre, jetzt einfach abzuhauen von diesem Ort. Draußen verschluckt die Abenddämmerung die schattenhaften Umrisse der Klostermauern. Noch 22 Stunden.
Kloster statt Karibik
Urlaub im Kloster liegt voll Trend. Laut einer Umfrage der Ordensobernkonferenz berichten über 80 Prozent der Klöster in Deutschland in den letzten Jahren von gleichbleibend hohen oder steigenden Besucherzahlen.
In einer Zeit, in der ständige Erreichbarkeit und hektischer Alltag ganz normal sind, suchen immer mehr Menschen nach Orten der Ruhe und Einkehr. Besonders bei jungen Menschen unter dreißig Jahren und Städtern, die nach Abgeschiedenheit und Entschleunigung suchen, erleben Klöster demnach gerade einen Aufschwung.
Ein paar Tage im Kloster. Das ist die Verheißung eines Rückzugsorts, der körperliche und geistige Erholung verspricht. In NRW gibt es einige von ihnen, wie das Kloster Dalheim in Lichtenau, das Kloster Vinnenberg in der Nähe von Warendorf oder die Abtei Altenberg im Bergischen.
Wie hat Carl Möller selbst seine eigene Schweigeerfahrung erlebt?
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Der Klostertag folgt einer klaren Struktur: Frühstück, Mittagessen, Abendessen. Zwischen den Mahlzeiten bleibt Zeit für das, wofür "draußen" oft keine Zeit bleibt: Meditation, Lesen, Nichtstun. Die Mehrheit der Klosterinteressierten reist in Begleitung anderer an, doch an vielen Orten in NRW, wie zum Beispiel in Vinnenberg, sind auch Auszeiten für Einzelpersonen buchbar. Die Preise für Kost und Logis variieren, beginnen meist bei circa 45 Euro pro Person und Tag.
Brot und Schweigen
6 Uhr abends. Abendessen im Schweigekloster. Das Refektorium, wie sie den Vinnenberger Speisesaal hier in lateinischer Tradition getauft haben. 15 erwachsene Menschen sitzen an diesem Ort, gebeugt über Käsebroten und Rooibostee, die kein einziges Wort miteinander wechseln. "Wissen sie zufällig, wo ich meinen Teller abstellen kann?" Ich habe mich getäuscht. Nicht alle Menschen, die nach Vinnenberg kommen, wollen schweigen.
Die Fragestellerin, eine Frau um die 50 Jahre, ist meine Tischnachbarin. Ich will ihr sagen, dass ich nicht weiß, was wie sie ihren Teller loswerden kann. Dass ich genauso neu hier bin wie sie. Doch ich zucke bloß mit den Schultern. Das fühlt sich falsch an.
Wer fragt, bekommt eine Antwort, das war schon immer so. Das ist zivilisatorisches Gewohnheitsrecht. Eigentlich will ich noch viel mehr wissen. Ich will mit ihr reden, ich will herausfinden, warum sie hier ist und wie es ihr im Kloster gefällt. Aber ich darf nichts sagen. Ich muss schweigen.
Unter Exerzisten
Dass ich meinen Abend in der Kirche verbringe, habe ich einem blauen Post-it an meiner Zimmertür zu verdanken. "Herzliche Einladung zum Abendmahlsgottesdienst" steht darauf. Wer ins Schweigekloster geht, muss nicht an Gott glauben. Ich tue es auch nicht. Aber es kann helfen, dem Leben an diesem Ort eine Struktur zu geben.
Die Kirche im Kloster Vinnenberg
Ralf Tietmeyer, der das Post-it geschrieben hat, holt mich persönlich ab. Tietmeyer ist ein Mann mit weißem Rauschebart und exotischer Berufsbezeichnung. Der 60-Jährige ist Pastoralreferent aus Wattenscheid und Exerzist - nein, nicht Exorzist. Exerzitien sind geistliche Übungen, die zur Begegnung mit Gott führen sollen. Meditation, Gebet, Fasten und Schweigen.
Im kerzenbeleuchteten Altarraum der Vinnenberger Kirche stehen 14 Stühle, auf denen aber nur 13 Menschen sitzen. Wie Tietmeyer kommen auch die übrigen Christen aus dem Ruhrgebiet. Nach dem Abendmahl beginnt für sie ein mehrtägiges Schweigen. Bevor ich darüber nachdenken kann, was diese Sitzplatzverteilung für mich bedeutet, sitze ich schon in ihrer Mitte. Ich nicke. Die Exerzisten verstehen das Zeichen: Auch einer, der schweigt. Tietmeyer steht im weißen Priestergewand vor der kleinen Gemeinde. Plötzlich stehen die 13 auf und singen. Nummer 221 aus dem Liederheft. "Alles ist möglich, dem, der sich gibt." Ich frage mich, ob es mir wirklich möglich sein wird, bis zum Ende durchzuhalten.
Ein Tag, der bleibt
Ich kann mich nicht daran erinnern, jemals so gut geschlafen zu haben wie in dieser Nacht. Fast die Hälfte meiner Schweigezeit habe ich einfach weggeschlafen. Es ist ein komatöser Schlaf, einer, der sich nur in der Gewissheit schlafen lässt, dass da draußen, für ein paar Stunden jedenfalls, nichts und niemand auf mich wartet.
Freiwillig schweigen: nicht immer leicht
Um 10 Uhr morgens stehe ich am offenen Fenster und schaue in den Klostergarten. Ein paar Minuten geht das so, eine halbe Stunde. Ich schaue und existiere vor mich hin. Doktor Möller hat recht gehabt. Es kann hart sein, sich selbst auszuhalten. In diesem Moment gelingt es mir. Wegen dieses Moments bin ich hier.
Ein paar Stunden später ist meine Zeit um. Die Rezeptionistin fragt mich, ob mir das Schweigen gefallen hat. "Hat es", antworte ich. Meine eigene Stimme klingt fremd in meinen Ohren, ganz so, als müsste ich sie tief aus meinem Inneren heraus schürfen. Meine ersten Worte seit 24 Stunden. Und sie sind nicht gelogen. Wie lang kann ein Tag schon sein? Im Schweigekloster kann er sehr lang sein. Und das ist gut so.