Ein Mann mit Kopfhörern und Aufnahmegerät

Wie Markus Hiegemann eine ganze Sprache vor dem Aussterben retten will

Hochsauerlandkreis | Heimatliebe

Stand: 14.05.2024, 09:23 Uhr

Nur noch wenige Leute im Sauerland können Plattdeutsch sprechen. Markus Hiegemann kennt wohl die meisten von ihnen. Er fährt von Dorf zu Dorf, um das Sauerländer Platt zu bewahren. Es ist ein Kampf gegen das Vergessen.

Von Julian Piepkorn

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Aufnahme läuft

Um eine ganze Sprache vor dem Aussterben zu retten, geht Markus Hiegemann erstmal ins Museum. Dort sind sie zu finden, die letzten Plattdeutsch-Sprechenden des Sauerlandes. Im Grimme-Museum von Olsberg-Assinghausen. Nicht als Ausstellungsstücke, sondern ganz real, sitzen an diesem Morgen sechs Seniorinnen und Senioren um einen großen Holztisch. Es gibt Kaffee, Apfelschorle und plattdeutsche Dichtkunst. Der Heimatdichter Friedrich Wilhelm Grimme beäugt die Runde als Büste von einer Stele herab.

Der 55-jährige Hiegemann zückt sein Aufnahmegerät, setzt seine Kopfhörer und ein breites Lächeln auf. Er rückt seinen Stuhl an Georg Stratmann heran. Der 74-Jährige ist hier der Museumschef, ehrenamtlich, klar. Und neben seiner Frau der einzige noch verbliebene Sprecher vom Plattdeutschen Arbeitskreis Assinghausen. Die anderen vier Senioren sind extra aus Eslohe angereist. Hiegemann drückt die Aufnahmetaste und sagt: "Säu, Georg, vertell us mol säu’n kloinet Stücksken vam Grimme." ("So, Georg, erzähl' uns mal so ein kleines Stück vom [Friedrich Wilhelm] Grimme!")

Vier Menschen stehen um einen Tisch, einer hat ein Mikrofon in der Hand.

Markus Hiegemann und die Sprecher vor der Aufnahme

Wenn sein Gegenüber dann auf Plattduitsk vorliest, ist das ein Stück Kulturgeschichte, welches so kaum noch stattfindet. Markus Hiegemann hat sein Leben dem Plattdeutschen verschrieben. Er fährt von Dorf zu Dorf, von Arbeitskreis zu Arbeitskreis, und sammelt Wörter und Gedichte, Vertellkes und Dönekes. Jede Woche gestaltet er eine Radiosendung im Bürgerfunk. Der 55-Jährige will dem Plattdeutschen eine Bühne bieten. Denn das Sauerländer Platt ist vom Aussterben bedroht. Nur noch ein paar Hundert Menschen, schätzt Hiegemann, können es fließend.

Dabei ist das Plattdeutsch auch in Nordrhein-Westfalen heimisch. Denn durch NRW verläuft die sogenannte Benrather Linie. Eine Art Sprachäquator, welche den niederdeutschen Sprachraum im Norden vom Mitteldeutschen im Süden trennt. Ob im Münsterland, in Ostwestfalen oder eben im Hochsauerland – Platt wurde früher im Alltag gekuirt, geschnackt oder ganz einfach: gesprochen. Jedes Tal, jedes Dörfchen, hatte seinen eigenen Dialekt. 

Was bedeutet der Dialekt für Markus Hiegemann?

00:36 Min. Verfügbar bis 14.05.2026

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Einmal zum Mond und zurück

Alles lange her, weiß auch Markus Hiegemann. Er hat sich das Plattdeutsche selbst beigebracht. Hiegemann nippt an seinem Kaffee und erinnert sich an die "alten Knochen". Er meint die garstigen Muttersprachler, die den Nachwuchs regelrecht vergrault hätten. "Lot et seyn, diu kanns et jo säubuisäu net", ("Lass es sein, du kannst es ja sowieso nicht"), habe er immer wieder gehört. 

"Irgendwie muss mir der Herrgott eine Schippe Plattdeutsch in die Wiege gelegt haben", grinst Hiegemann. Er steigt aus seinem silbernen Opel, mit dem er "bestimmt schon bis zum Mond und zurück" gefahren sei und führt in sein kleines Studio in Brilon-Scharfenberg. Seit 2002 gestaltet er Montag für Montag die Radiosendung "Do biste platt". Platt ist auch Hiegemann, wenn die Sendung im Kasten ist: Er moderiert, schneidet, produziert, holt Fördermittel ein. In diesem Jahr wird er seinen Zuhörern zum 600. Mal einen "schoinen guiten Abend" ("Schönen guten Abend") wünschen.

Markus Hiegemanns Anmoderation

00:36 Min. Verfügbar bis 14.05.2026

"Einen schönen guten Abend alle zusammen. Dieses Mal gibt es unsere Sendung um sieben Uhr abends am Ostermontag. Und heute Abend ist Josef 'Jupp' Dahme aus dem Eulendorf Müschede mit dabei. (... Hochdeutsch ...) Einen schönen guten Abend wünscht Ihr Hiegemann Markus hier aus Scharfenberg. Und ich sage mal: Frohe Ostern."

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Kampf gegen das Vergessen

Es ist ein Kampf gegen das Vergessen, den Hiegemann führt. "Für mich ist das ein Fulltime-Job", sagt er und wird plötzlich ganz still. Vor sieben Jahren war er schon kurz davor, aufzugeben. Seine Frau lebt in Wien. Zeit für die Familie bleibt kaum. Warum macht er weiter? Hiegemann blickt zur Seite. "Ich hätte schlicht die Leute hier enttäuscht", sagt er und schiebt mit einem Lächeln hinterher: "In Wien sprechen auch sehr wenige Leute Platt."

Er kann fließend vom Plattdeutschen ins Wienerische wechseln. Vom Niederdeutschen ins Oberdeutsche. Dass das Plattdeutsch langsam ausstirbt, liegt auch an der Sprachgeschichte. Unser Hochdeutsch ist eine Mischung aus dem Oberdeutschen, das sich heute in Dialekten wie dem Bayerischen oder Schwäbischen wiederfindet und dem Mitteldeutschen. Das aus dem Niederdeutschen stammende Platt fühlt sich da wie ein Fremdkörper an. Seitdem in der neuen Bundesrepublik auch die Kinder in den sauerländischen Dörfern vom Staat beschult werden, wird das Plattdeutsche kaum noch weitergegeben.

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Kindheitserinnerungen

Hiegemann steigt wieder in seinen Opel und erzählt von den Enkeln, die Omas Häuschen ausmisten. Die teils seltenen handschriftlichen Texte auf Platt würden gleich in der Tonne landen: "Die denken, das wäre Niederländisch." Auf seinem PC hat er alle seine Aufnahmen archiviert. Von den 1990ern bis heute, tausende Dateien. "Das muss die Forschung sichern", sagt der 55-Jährige.

Da sind die vielen Erinnerungen, die ihn im Sauerland halten. Der Pastor, der in eisiger Kälte im Auto vor der Garage ausharrt, um seine Sendung zu hören. Die Kinder, die wegen ihm länger wach bleiben dürfen. Das sei sein Lohn, sagt er. Einen Nachfolger habe er allerdings noch nicht gefunden. "Da gebe ich mir noch zehn Jahre." Bis dahin gibt Hiegemann weiter Gas.

Es ist schon später Nachmittag, als Hiegemann auf ein altes Haus in Brilon zusteuert. Wieder ein Museum. Wieder eine Gruppe Senioren an einem großen Holztisch. Die Wände sind mit antiken Büchern gepflastert, teils mehr als 400 Jahre alt. Plattdeutsch ist kaum dabei. Schon damals setzte sich das Hochdeutsche als Handels- und Gelehrtensprache langsam durch.

Drei Menschen in einem Raum mit Regalen voll mit alten Büchern

Im Museum geht es weiter mit der Kulturgeschichte

Auf dem Tisch steht eine große Platte mit Würsten und Frikadellen. Nervennahrung. Daneben sitzt Florentine Wendeler. Die 75-Jährige hat das Plattdeutsche von ihren Eltern aufgeschnappt und jahrzehntelang vergessen. Seit zwei Jahren nimmt sie nun am plattdeutschen Arbeitskreis teil und spricht endlich wieder Platt. "Da werden wieder Kindheitserinnerungen wach", schwärmt sie.

Sie zückt einen Zettel, darauf ein selbstgeschriebenes Gedicht. Hiegemann setzt sich neben sie, Kopfhörer auf, Aufnahme läuft. Vielleicht passiert gerade das, wovon Hiegemann noch kurz zuvor sprach. Wer dem Sauerländer Platt eine Bühne biete, der bewahre es auch. "Wenn ich nicht da bin, passiert nichts." Bühne frei also für Florentine Wendeler. Hiegemann lächelt, nickt. "Das war super", sagt er. Und wieder ist ein Stück Kulturgeschichte im Kasten.