Die Mitarbeitenden Sara Hennes und Wilma Negroni sitzen an einem Schreibtisch und schauen sich Dokumente an.

Keine Krankenversicherung? Wie ein Projekt in Bonn trotzdem hilft

Bonn | Heimatliebe

Stand: 30.01.2024, 09:55 Uhr

Wer krank ist, geht zum Arzt. Menschen ohne Krankenversicherung können das nicht so einfach. Oft leben sie schutzlos am Rande der Gesellschaft. Beim Anonymen Krankenschein in Bonn bekommen sie trotzdem Hilfe. Eine Reportage über ein Projekt, dessen Ziel es ist, sich selbst überflüssig zu machen.

Von Mirjam Ratmann

Gladys Tabot kommt gerade vom Arzt. Um sich selbst zu schützen, möchte sie hier nicht ihren richtigen Nachnamen lesen. Ihre sechs Monate alte Tochter ist am Vormittag mit 38 Grad Fieber aufgewacht. Spontan in eine Praxis zu gehen, das war bis vor neun Monaten für Tabot undenkbar. Die 25-jährige Frau aus dem Kamerun besaß keine Krankenversicherung. Dass sich das inzwischen geändert hat, verdankt sie dem Verein Anonymer Krankenschein in Bonn (AKSB).

Tabot kommt im November 2022 nach Deutschland. Sie ist im dritten Monat schwanger. Ohne Aufenthaltsrecht hat sie keinen Anspruch auf eine Krankenversicherung. Als sie das Gefühl bekommt, dass etwas mit ihrem Baby nicht stimmt, ruft sie bei der Caritas an. Dort erfährt sie vom Anonymen Krankenschein in Bonn. "Ich bin sofort hin, damit ich zur Gynäkologin gehen konnte", sagt Tabot. Beim AKSB lernt sie Sara Hennes kennen. Die 37-jährige Sozialarbeiterin stellt Tabot einen Krankenschein aus. Der ermöglicht ihr, medizinische Hilfe in Anspruch zu nehmen. Die Kosten übernimmt der Bonner Verein. "Ich weiß nicht, was ich ohne ihre Hilfe getan hätte", sagt Tabot.

Sara Hennes spricht darüber, was sie in ihrem Job antreibt

01:01 Min. UT Verfügbar bis 18.01.2026

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Mindestens eine halbe Million Betroffene

Mit dem fehlenden Versicherungsschutz ist Tabot nicht allein: Rund 61.000 Menschen in Deutschland sind nicht krankenversichert. Da sich die Zahl nur auf gemeldete Menschen bezieht, gehen Gesundheitsexpertinnen und -experten von bis zu einer halben Million Betroffener aus. Und das, obwohl seit 2009 in Deutschland eine Versicherungspflicht besteht. Alle Menschen, die hier leben, arbeiten, studieren oder eine Ausbildung machen, müssen versichert sein. Doch es gibt die, die durch das Netz fallen: Menschen ohne Aufenthaltsgenehmigung, Wohnungslose, Geflüchtete, die auf ihren Asylstatus warten, Selbstständige, die sich die Beiträge nicht leisten können.

Zu sehen ist ein Wartezimmer mit blauen Sesseln und einem Tisch.

Der Wartebereich des Anonymen Krankenscheins in Bonn

Sara Hennes und ihre Kollegin Wilma Negroni, 66, sind seit 2021 Beraterinnen beim Anonymen Krankenschein. Bis heute haben sie rund 380 Menschen ohne Krankenversicherung geholfen. Zwei Mal wöchentlich können Betroffene die beiden aufsuchen. Negroni und Hennes beraten auf Deutsch, Englisch, Spanisch, Italienisch, Arabisch und Französisch.

Wer eine Beratung wahrnehmen möchte, muss seit mindestens drei Monaten in Bonn leben und darf nicht genug Geld für eine ärztliche Behandlung haben. Bei den Terminen unterstützen die Sozialarbeiterinnen Betroffene beim Ausfüllen von Behördendokumenten und vermitteln sie an Sozial- und Arbeitsamt, Ausländerbehörde oder Schuldnerberatung. "Wir versuchen so weit wie möglich die Menschen das selbst regeln zu lassen, ihnen aber Infos zu geben und Sprachrohr für sie zu sein, wenn es sein muss", sagt Hennes. Zur Not würde sie für Personen vor Gericht ziehen. Zehn bis zwanzig Menschen beraten die Sozialarbeiterinnen pro Woche. 

Die anonyme Sprechstunde

In Bonn können Betroffene dienstags von 17 bis 19 und donnerstags von 10 bis 12 Uhr in die anonyme Sprechstunde kommen. Insgesamt arbeite neun Angestellte in der Verwaltung, Koordinierung, im Vorstand oder als medizinische Fachkraft. Seit 2021 finanziert die Stadt Bonn den seit 2019 bestehenden Verein. Zehn Prozent seiner Mittel muss der Verein selbst auftreiben, zum Beispiel durch Spenden. Im vergangenen Jahr erhielt das Projekt den Bonner Heimatpreis, dotiert mit 8.000 Euro. Das Projekt läuft vorerst bis Oktober 2024.

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Bonner Team bietet mehr als Beratung

In der Regel klären Negroni und Hennes mit den Betroffenen zunächst den Bedarf: Wie ist der Aufenthaltsstatus? Bestehen gesundheitliche Probleme? Wo brauchen sie Unterstützung? Der Verein in Bonn bietet aber nicht nur Beratungsgespräche an, sogenanntes "Clearing", sondern auch ärztliche Behandlungen. Zweimal pro Woche können sich kranke Menschen von einem Arzt untersuchen lassen. Er misst Blutdruck und -zucker oder nimmt eine Urinprobe. Sollte es nötig sein, stellt er eine Überweisung an eine Fachärztin aus. Die Rechnung übernimmt der Anonyme Krankenschein.

Ziel vom Anonymen Krankenschein ist es, Menschen in eine Krankenversicherung bringen. "Das hieße zwar, dass wir unseren Job verlieren würden - für das größere Ziel wäre das aber okay", sagt Negroni. Bei manchen dauere es mehrere Monate oder Jahre. Oft liege das daran, dass Behörden zu langsam arbeiten würden, sagt Negroni. Bis jetzt konnten sie etwa 30 Prozent der Betroffenen mit einer Krankenversicherung versorgen.

Wilma Negroni über den Erfolg des Projektes

00:59 Min. UT Verfügbar bis 18.01.2026

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Aus Angst nicht zum Arzt

Die meisten, die zu Negroni und Hennes kommen, haben keine Papiere. "Fast alle, die uns aufsuchen, sind vor katastrophalen Zuständen geflüchtet, meist aus ihrem Heimatland", sagt Hennes. Aus Angst vor einer Abschiebung trauten sich viele nicht zum Arzt oder ins Krankenhaus. Dort würden sie - im Notfall - ohne Krankenversicherung versorgt. Für die Kostenübernahme müssen Ärzte jedoch das Sozialamt informieren, das wiederum Meldung an die Ausländerbehörde machen muss. "Es gibt einige, die untertauchen. Die nur eine zunächst harmlose Krankheit haben, welche unbehandelt aber chronisch werden kann", so Hennes.

Einmal sei ein Mann mit Krebs im Endstadium zum Anonymen Krankenschein in Bonn gekommen. "Er wäre wahrscheinlich ohnehin gestorben", sagt Negroni, "Aber er hätte einen lebenswerteren, würdigeren Abschluss finden können, als auf die letzten Meter Kämpfe mit Behörden austragen zu müssen." Ebenso gebe es Betroffene aus Deutschland, denen die Versicherungspflicht nicht bewusst ist. Die umgezogen sind, länger im Ausland waren oder ihre Briefe nicht öffnen. Die, erst wenn sie zum Arzt gehen, erfahren, dass sie der Krankenkasse eine hohe Summe Geld schulden.

Sara Hennes und Wilma Negroni über ihre Zukunftswünsche für den Verein

01:33 Min. UT Verfügbar bis 18.01.2026

Tabot und ihre Tochter haben inzwischen ein Aufenthaltsrecht und sind seit März dieses Jahres in einer gesetzlichen Krankenversicherung. Seitdem bezieht die 25-Jährige Sozialleistungen und lebt in einer kleinen Wohnung in Bad Godesberg. In Kamerun hat sie bereits fünf Jahre medizinische Biotechnologie studiert. In Deutschland muss sie erst einmal Deutsch lernen. Dann kann sie studieren oder arbeiten und selbst in die gesetzliche Krankenkasse einzahlen.