Roller Derby in Essen: Wenn blaue Flecken stolz machen
Stand: 09.01.2024, 11:10 Uhr
Melina Brinkmann hat viele Sportarten ausprobiert, bevor sie ihre wahre Leidenschaft fand: Roller Derby. Die Essener Mannschaft, in der sie spielt, ist die beste Deutschlands. Ein Porträt über blaue Flecken, Freundschaft und Vielfalt.
Von Agata Pilarska
Blaue Flecken
Melina Brinkmann rollt nicht auf Rollschuhen. Sie schwebt. Wie eine Eiskunstläuferin gleitet sie scheinbar mühelos durch die Arena. Sonst wird hier in Essen Inlinehockey gespielt. Allerdings trägt sie kein glitzerndes Kostüm, sondern Knie-, Ellenbogenschützer und Helm. Ein Pfiff ertönt und schlagartig wird es laut auf dem Spielfeld. Plötzlich befindet sich Brinkmann in einem Knäuel aus zehn Frauen und ruft unter dem Geklacker von 80 Rollen ihren Mitspielerinnen Kommandos zu. Es wird gerangelt und geblockt, die Spielerinnen halten sich an den Händen, während sich die Masse langsam auf der Bahn fortbewegt. Brinkmann fällt hin. Sie verzieht keine Miene, steht auf und stürzt sich wieder ins Getümmel. Hinfallen gehört zum Roller Derby dazu. "Blaue Flecken sind hier an der Tagesordnung", sagt Brinkmann.
Die Frauen geben im Spiel alles
00:18 Min.. Verfügbar bis 09.01.2026.
Wie funktioniert Roller Derby?
Roller Derby ist ein Vollkontaktsport auf Rollschuhen, bei dem zwei Mannschaften gegeneinander antreten. Es gibt zehn Runden, die maximal zwei Minuten dauern. Pro Team stehen fünf Spielerinnen auf einem ovalen Spielfeld. Vier davon sind Blockerinnen, eine die sogenannte Jammerin. Man erkennt sie am Stern auf dem Helm. Sie muss die Blockade der Gegnerinnen durchbrechen und bekommt für jede überholte Blockerin einen Punkt. Die Blockerinnen versuchen also, ihrer Jammerin den Weg freizumachen und gleichzeitig die Gegnerische nicht durchzulassen. Geblockt werden darf nur nach bestimmten Regeln.
"Ich komme aus einer sportlichen Familie, bin quasi im Maxi-Cosi im Sportstudio aufgewachsen. Ich habe lange nach einer Sportart gesucht, die mich körperlich und geistig auslastet", sagt Brinkmann. Sie ist 31 Jahre alt und arbeitet bei der Agentur für Arbeit. Diverse Sportarten hat sie ausprobiert: Volleyball, Fußball, Kickboxen, Cheerleading, Eishockey. Keine davon hat sie erfüllt. "Irgendwann habe ich wirklich stumpf im Internet gesucht. Und bin auf Roller Derby gestoßen." Das ist acht Jahre her. Brinkmann musste ganz von vorne anfangen, auf klassischen Rollschuhen hatte sie zuvor noch nicht gestanden. Heute ist sie Blockerin in der 1. Bundesliga.
Teamspirit
Roller Derby ist in den frühen 1940er-Jahren in den USA entstanden. Etwa 35 Jahre lang erfreute sich der Sport großer Beliebtheit. Im Fokus stand allerdings nicht wie heute die Spieltaktik, sondern der Unterhaltungsfaktor mit publikumswirksamen Rangeleien. Bis zu 50.000 Fans sahen den Teams in ausverkauften Stadien oder vor dem Fernseher zu. In den 1970er-Jahren verschwand Roller Derby von der Bildfläche. Unter anderen, weil die Ölkrise die Reisekosten für die Spielerinnen unbezahlbar machte. Amateurinnen brachten den Sport 1999 wieder zurück. 2006 gründeten sich auch die ersten deutschen Teams. Die Ruhrpott Roller Girls sind vor 13 Jahren entstanden. Sie sind eins von sieben Erstliga-Teams in Deutschland.
Melina Brinkmann in Action
Spannung liegt in der Luft, als an einem Sonntagnachmittag Ende 2023 das letzte Spiel der 1. Bundesliga ansteht. Es geht gegen eine Mannschaft aus Karlsruhe. Bis dato ist das Essener Team ungeschlagen. Nur eine deutliche Niederlage könnte die Ruhrpott Roller Girls noch die Meisterschaft kosten. Brinkmann und ihre Kolleginnen sammeln sich in einem Kreis bei ihrer Teambank. Rockmusik kommt aus den Boxen, die Ansagerin unterhält das Publikum. "Smells like...", schreit eine Spielerin. "Teamspirit" hallt es lautstark von den anderen Spielerinnen zurück. Die Anspielung auf den Nirvana-Song "Smells like Teen Spirit" ist nur einer von vielen Schlachtrufen, die ertönen. "Wir sind auch privat befreundet. Das würde man bei so manchen Konstellationen nicht denken. Viele Mädels sind alternativ angehaucht, aber viele arbeiten auch in ganz normalen Berufen", sagt Brinkmann. Schon in den ersten Minuten des Spiels wird das Team aus Essen seiner Favoritenrolle gerecht und liegt vorn.
Das Alter Ego
An den Körpern vieler Spielerinnen befinden sich Accessoires in Regenbogenfarben. "Wir wollen ein Safe Space, ein sicherer Ort, für alle FLINTA* sein", sagt Brinkmann. Das Akronym steht für Frauen, Lesben, intersexuelle, nicht-binäre, trans- und agender Personen. Ausgeschlossen werden Männer aber nicht. Sie bringen sich als Schiedsrichter oder Helfer ein, denn das Ruhrpott Roller Derby-Team organisiert jede Veranstaltung selbst.
Auf dem Platz ist Brinkmann nicht Melina. Sie ist Hulkie Frankenstein. So steht es auf dem roten Trikot mit der Nummer drei. Ein alter Freund hat ihr vor langer Zeit den Spitznamen gegeben: "Hulkie wegen 'The incredible Hulk', weil ich als Kind Aggressionsprobleme hatte. Und Frankenstein, weil ich mir noch nie was gebrochen habe." Alle Spielerinnen haben Spitznamen. "Das macht einfach Spaß", sagt Brinkmann. Schüchternen Personen könne das zudem helfen, auf dem Platz mehr aus sich herauszukommen. Zu ihnen gehört Brinkmann aber nicht. Sie ist auch, was ihre nächsten sportlichen Ziele angeht ehrgeizig.
Nächste Ziele der Ruhrpott Roller Girls
00:17 Min.. Verfügbar bis 09.01.2026.
Kurz vor Ende des Spiels liegt Brinkmann plötzlich auf dem Boden. Ihre Mannschaft hat die Führung in der Zwischenzeit weiter ausgebaut. Diesmal springt sie nicht sofort wieder auf. Sie bleibt liegen und hämmert mehrmals mit der Faust auf den Boden, bevor sie sich langsam aufrappelt und an den Spielfeldrand rollt. Ein Sanitäter eilt zu ihr, macht aber eine Kehrtwende. Keine Hilfe erwünscht. "Ich habe eine Faust in den Solarplexus bekommen. Das ist nicht verboten, tut aber weh. Und ich ärgere mich dann immer so." In den letzten Minuten muss sie aussetzen.
Das Bundesliga-Team posiert für das Siegerfoto
Am Ende gewinnen die Essenerinnen mit 356 zu 32. Zur Siegesverkündung steht Brinkmann wieder strahlend und unverletzt auf dem Platz. Nichts gebrochen, Hulkie Frankenstein hat ihrem Namen wieder alle Ehre gemacht.
Über dieses Thema haben wir am 09.11.2023 auch im WDR Fernsehen berichtet: Lokalzeit Ruhr, 19.30 Uhr