Persönlich nah
Ein Mann sitzt in sich zusammengesunken im Rollstuhl. Seine Hose ist fleckig braun, die linken Fußzehen ragen aus einem notdürftigen Verband heraus. Lotta Hennig sieht die offene und vereiterte Wunde am Fuß sofort. Sie hockt sich neben den Mann. Hennigs Begleiter Haku Koufou fragt ihn: "Sollen wir einen Arzt für dich rufen?" Der Mann fängt an zu weinen. "Ich hab aufgegeben. Ich warte nur noch auf den Tod." Lotta Hennig fragt ihn erneut, ob sie nicht einen Arzt rufen soll. Aber der Mann will nicht. "Dann kann ich leider gerade nichts mehr für dich tun. Ich würde mir aber wünschen, dass du nicht aufgibst. Ich komme morgen wieder, ok?" Die 35-Jährige richtet sich auf. "Wir müssen jetzt weiter."
Hennig, 35, und Koufou, 26, sind an diesem Abend in der Kölner Innenstadt unterwegs, um obdachlosen und wohnungslosen Menschen warmes Essen zu bringen. 60 bis 80 Personen versorgen sie so täglich, an Wochenenden können es um die 100 sein. Als obdachlos gelten Menschen, die kein richtiges Dach über dem Kopf haben. Wohnungslose haben keine eigene Wohnung, sie leben aber nicht auf der Straße, sondern zum Beispiel bei Bekannten oder in städtischen Wohnungen.
Wohnungslosigkeit in NRW
- Im Jahr 2023 hatten knapp 108.600 Menschen in NRW keine eigene Wohnung (Wohnungslosenstatistik des Sozialministeriums).
- Fast alle leben in Notunterkünften, bei Bekannten oder in städtischen Wohnungen.
- Geflüchtete, die in Flüchtlingsunterkünften untergebracht sind, machen mehr als die Hälfte der Betroffenen aus.
- Die meisten Wohnungslosen in NRW leben in Köln, Düsseldorf, Bonn und dem Kreis Steinfurt.
- Mit rund 10.300 Betroffenen im Jahr 2023 ist Köln Spitzenreiter.
Wer durch die Kölner Innenstadt läuft, sieht beinahe an jeder Ecke eine obdach- oder wohnungslose Person. Im Kölner Zentrum haben manche Spendenbecher vor sich stehen, samt Schild mit der Aufschrift "Bitte für Essen, danke"
Jeden Abend ab 17.30 Uhr ziehen deswegen zwei ehrenamtliche "Straßenwächter" wie Hennig und Koufou mit einem Bollerwagen auf einer festen Route durch die Stadt. Als Ein-Mann-Projekt im Jahr 2005 gestartet, ist daraus inzwischen ein eingetragener Verein mit rund 150 Ehrenamtlichen geworden.
Das heutige Abendessen, Tortellini mit Süßkartoffeln und Möhren, hat Hennig selbst zubereitet. Die 35-Jährige hilft seit zwei Jahren im Verein mit. "Mir ist es wichtig, mich um Menschen zu kümmern, die sonst niemanden mehr haben", sagt sie. Noch wichtiger als das Essen sei für die Betroffenen ein Gespräch. "Viele sind sehr einsam." Hauptberuflich arbeitet Hennig in einem Supermarkt an der Backtheke. Trifft sie privat auf wohnungslose Menschen, kann sie ihr Ehrenamt kaum ablegen. "Am liebsten würde ich für jeden dieser Menschen ein Entzugsprogramm und eine Wohnung finden."
Die Straßenwächter sind erst wenige Meter auf dem Hohenstaufenring gelaufen, da halten sie wieder an. "Wollt ihr was essen?", fragt Hennig drei Männer, die auf einer Bank sitzen und sich erheben, sobald sie Hennig sehen. Sie haben schon auf sie gewartet. "Ist das mit Fleisch?", fragt einer zurück. "Ne, vegetarisch", antwortet sie und öffnet den Deckel der blauen Thermokiste. Mit einer Suppenkelle füllt sie eine Plastikschüssel mit Nudeln. "Willst du noch was trinken? Sprudel oder Kaffee?", fragt sie. "Ne, danke, tschau!", sagt der Mann, der eben das Essen entgegengenommen hat. "Alles klar, passt auf euch auf", sagt Hennig. Dann zieht sie den Bollerwagen weiter. Morgen wird sie die drei Männer vermutlich an der gleichen Stelle wiedersehen.
Kurz hinter dem Rudolfsplatz in der Kölner Innenstadt treffen Hennig und Koufou auf Hans-Jürgen Meiners. Er hat eigentlich einen anderen Nachnamen. Er verkauft die Straßenzeitung "Draussenseiter". Als er die "Straßenwächter" sieht, kommt er ihnen entgegen. Er steckt ein paar Cent-Münzen in die Spendenbox auf dem Bollerwagen. Hennig verzieht das Gesicht. "Ihr sollt doch nichts spenden, die Spenden sind ja für euch." Meiners grinst, so dass seine Zahnlücke zu sehen ist. "Wenn's mir gut geht, warum kann ich dann nichts zurückgeben?"
Kaum Schutzorte in der Stadt
"Bis auf ein paar Ausnahmen sind die Menschen, die wir treffen, immer super lieb und zuckersüß", sagt Hennig. Es sei zwar manchmal schwer, nach einer Tour abzuschalten. "Aber meistens fühle ich mich ziemlich gut, weil ich denke: Vielleicht habe ich gerade ein bisschen dazu beigetragen, dass wir etwas gegen Obdachlosigkeit tun und den Menschen das sowieso schon schreckliche Leben erleichtern." Eine Studie der Katholischen Hochschule in Köln zeigt, dass Obdachlosen in der Stadt zunehmend geschützte Rückzugsorte fehlen. Zum Beispiel durch zugestellte Gehwege, abgesperrte Hauseingänge oder unterteilte Bänke - sogenannte defensive Architektur. (Mehr Infos zum Thema "Defensive Architektur" gibt es hier).
Um obdach- und wohnungslosen Menschen im Alltag zu helfen, verteilt "Straßenwächter" deswegen nicht nur Essen. Seit 2019 gibt es im Mauritius-Viertel, nördlich der Innenstadt, das Begegnungscafé "ZoHus". Betroffene bekommen hier Sandwiches, Kaffee und Tee. Sie können ihre Wäsche waschen oder sich mit gespendeten Klamotten und Hygieneartikeln ausstatten. 100 bis 120 Menschen versorgt der Verein so täglich mit Essen und Dingen aus dem alltäglichen Bedarf.
Begegnungscafé ZoHus in Köln
Das "ZoHus" ist außer sonntags jeden Tag von 15 bis 20 Uhr geöffnet. Menschen, die in das Café kommen, können sich alle zwei Wochen zwei Teile pro Kleidungs-Kategorie mitnehmen. Spendenaufrufe macht "Straßenwächter" über Facebook und Instagram. Der Verein erhält Fördermittel von der Stadt Köln und vom Land NRW.
Für Marcel Haltmann ist das Café wie ein Wohnzimmer. Er heißt eigentlich anders und arbeitet als Gärtner. "Es ist eine Wohlfühloase, ein Ort voller Behaglichkeit", sagt der Obdachlose. Seit zwei Jahren schläft er in einem Zelt im Kölner Grüngürtel. Besonders den Fernseher schätzte er am "ZoHus". So könne er informiert bleiben oder Fußball schauen.
Anruf bei der Familie
In der Innenstadt sind Koufou und Hennig mit dem Bollerwagen in die bekannte Ehrenstraße eingebogen. Auf einem Hausvorsprung sitzt Gabriel Lierfeld. Einer von Hennigs Lieblingsklienten, wie sie ihn nennt. Auch er hat eigentlich einen anderen Nachnamen. Lierfeld sei "super fit im Kopf", sein Körper jedoch durch den Drogenkonsum stark angegriffen. "Und, wie geht’s?", fragt sie und hockt sich neben ihn auf den Boden. "Schlecht geht’s, Vergiftung!", antwortet er. Lierfeld glaubt, vor ein paar Tagen etwas gegessen zu haben, das mit Gift gemischt war. Hennig hört zu, fragt dann nach Lierfelds Bruder. Er ist gerade im Krankenhaus. "Soll ich da mal anrufen?", fragt Hennig. Der 26-jährige Koufou stellt Gabriel einen Tee hin und erntet dafür ein "Danke, Schätzelein". Beim Krankenhaus ist besetzt. "Ich versuche es später nochmal, okay?", sagt Hennig zu Lierfeld und richtet sich wieder auf.
Die Straßenwächter machen sich auf den Weg zum Neumarkt, dem Hotspot der Kölner Drogenszene. Unterwegs sammeln sie kostenlose Zimtschnecken und belegte Brötchen ein. Regelmäßig spenden Restaurants oder Supermärkte an den Verein. Am Neumarkt angekommen, ist das Essen trotzdem langsam knapp. Es ist inzwischen kurz vor 20 Uhr. Hennig hat den Bollerwagen gerade auf dem Platz geparkt, da stehen bereits rund 20 Menschen eng um sie herum. Hennig und Koufou füllen Schalen mit Nudeln, zapfen Kaffee ab und gießen Wasser ein.
Ein Mann mit Halbglatze und kräftiger Figur drängelt nach vorne. "Du geduldest dich jetzt bitte", sagt Hennig mit bestimmtem Tonfall. Um 20.20 Uhr nähern sich immer noch einige dem Bollerwagen. "Habt ihr noch was zu essen?", fragt eine Frau. "Ist leider alles aus", antwortet Koufou. Die Frau nickt, sagt: "Ok, kein Problem, schönen Abend euch noch." So sehr sich die ehrenamtlichen Straßenwächter auch bemühen, allen können sie nicht helfen.