Stabilität statt Straße: Wie sich Jugendliche in Essen eine Zukunft erkämpfen
Stand: 06.02.2024, 11:21 Uhr
Tausende Kinder und Jugendliche in Deutschland sind wohnungslos. Fast alle haben trotz ihres jungen Alters mehr einstecken müssen als viele Erwachsene in ihrem ganzen Leben. Bei den Momos in Essen finden sie nicht nur ein neues Zuhause, sondern helfen zugleich anderen Betroffenen. Ein Besuch.
Von Mirjam Ratmann
Bloß nicht wieder nach Hause
Als Lena Frye zwölf ist, landet sie im Krankenhaus. Um sie zu schützen, ist ihr Nachname in diesem Text verändert. Der Grund damals: Alkoholvergiftung. Doch bereits am nächsten Tag nimmt ihre Mutter sie wieder mit nach Hause. Dorthin, wo Lena nicht sein will. So erzählt es die heute 16-Jährige rückblickend. Wenn ihre Mutter abends gegen 22 Uhr von der Arbeit kommt, geht der Stress los. "War der Tag nicht gut, haben meine Schwester und ich das zu spüren bekommen", sagt Lena. Ihre Mutter habe geschrien, die beiden Mädchen beleidigt, manchmal hätte sie Gegenstände nach ihnen geworfen. Das Jugendamt, das Lena mehrfach anruft, hätte ihre Hilfegesuche ignoriert, sagt sie.
Lena vor dem Büro der Momos in Essen
Das Mädchen flüchtet sich in Alkohol, raucht Gras. So viel, dass ihr übel wird. Immer wieder übernachtet sie bei Freunden. Mit 14 will sie bei einer Freundin einziehen, doch ihre Mutter stellt sich quer. Kurz darauf, Ende 2020, bricht Lena, die damals in Recklinghausen wohnt, die Schule ab. Sie pendelt von Couch zu Couch, bis sie Anfang 2023 in Essen von den Momos erfährt: "Momos – the voice of a disconnected youth" ist ein Jugendhilfe-Projekt, das sich für wohnungslose Kinder und Jugendliche einsetzt. "Dort habe ich gelernt, dass es nicht selbstverständlich ist, wie ich aufwachse und dass ich etwas gegen das Jugendamt sagen kann. Das war sehr befreiend."
Von Sofa zu Sofa
In Deutschland sind laut Hochrechnungen der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe e.V. mindestens 607.000 Menschen wohnungslos. Nicht alle leben sichtbar auf der Straße. Besonders Kinder und Jugendliche schlafen oft auf Sofas von Freunden oder in Notschlafstellen und sind damit verdeckt wohnungslos. Offiziell gelten nur Menschen ohne Meldeadresse als wohnungslos. Kinder und Jugendliche, die noch bei ihren Eltern gemeldet sind, fallen nicht in diese Kategorie. Das Deutsche Jugendinstitut schätzt in einer Studie, dass rund 37.000 Kinder und Jugendliche in Deutschland kein festes Zuhause haben. Die meisten sind zwischen 18 und 20 Jahre alt, etwa 6.500 sogar minderjährig. Expertinnen und Experten gehen von einer deutlich höheren Dunkelziffer aus.
Um sich dafür einzusetzen, dass Jugendliche früher als sie Hilfe erhalten, arbeitet Lena seit Ende Februar 2023 acht Stunden im Monat als Mini-Jobberin im Momo-Büro in Essen-Katernberg. 100 Euro bekommt sie dafür zum Hartz-IV-Satz dazu.
Feste Aufgaben haben sie und die anderen Jugendlichen nicht, wenn sie um 9 Uhr ins Büro kommen. Sie organisieren Treffen mit Kooperationspartnern, führen Telefonate oder schreiben Mails. Vorher frühstücken sie zusammen. Ab und zu gehen sie aber auch mal in den Movie-Park oder Kletter-Wald.
Büroalltag bei den Momos
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Die Jugendlichen sollen lernen, dass Arbeit Spaß machen kann, wie Rebecca Weber, eine der betreuenden Sozialarbeiterinnen, erklärt. Allen voran wollen die Momos über Wohnungslosigkeit bei Jugendlichen aufklären. Dafür tauschen sich alle Beteiligten mit Jugendämtern und Jugendhilfeträgern aus, mit Lokalpolitikerinnen und -politikern, sprechen mit Betroffenen in Notschlafstellen oder betreuten Wohneinrichtungen. Seit 2022 richten sie außerdem eine jährliche Straßenkinderkonferenz aus, um öffentlichkeitswirksam auf ihre Belange aufmerksam zu machen.
Im Jahr 2020 gründete sich die Gruppe in Essen
Der Name "Momo" stammt aus Michael Endes gleichnamigem Roman. "Das Mädchen Momo nimmt sich Zeit für andere, ist achtsam, hört zu – genau das wollen wir mit diesem Projekt auch", sagt Jasmin Knorr, die die Momos als Sozialarbeiterin seit 2022 betreut. Andere Standorte gibt es in Berlin und Hamburg. In Essen fördert der Jugendhilfeträger "Werkstatt Solidarität" das Projekt. "Wir geben Menschen eine Stimme, die auf der Straße ignoriert werden", sagt Tasha Adams. Auch ihr Nachname ist für diese Reportage verändert. Sie ist 23 und seit anderthalb Jahren ebenfalls als Mini-Jobberin bei den Momos. Anders als Lena hat Tasha auf der Straße gelebt.
Wenn nur die Straße bleibt
Mit 16 wird Tasha schwanger – und ihr Vater schmeißt sie raus. Sie zieht in eine Wohneinrichtung für Mütter und Kinder. Ihr Sohn, gerade geboren, kommt in eine Pflegefamilie. Als er auf der Welt ist, muss Tasha aus der Einrichtung raus. Sie ist keine (werdende) Mutter mehr. Stattdessen nimmt sie eine Trainingswohnung auf, ein betreutes Wohnprojekt für Kinder und Jugendliche. Doch nach einem Jahr ist Schluss. Das Jugendamt will ihren Platz nicht mehr finanzieren. Sie kommt ein Jahr bei Freunden unter und landet schließlich im Raum 58 in Essen, einer Notschlafstelle für Jugendliche und junge Erwachsene.
Tasha vor dem Büro der Momos in Essen
Wenn dort abends kein Bett mehr frei ist, schläft Tasha auf der Straße. "Ich habe versucht, mich mit meinem Schlafsack in irgendeine geschützte Ecke zu legen und gleichzeitig darauf zu achten, dass mir keiner folgt." Als Frau sei es auf der Straße noch gefährlicher als ohnehin schon, sagt sie. Trotzdem sei sie die meiste Zeit allein geblieben.
Seit fast vier Jahren wohnt Tasha nun in einer Zwei-Zimmer Wohnung in der Essener Innenstadt. Sobald es ihr besser geht, will sie eine Ausbildung zur Sozialassistentin anfangen. Mit ihrem Vater hat sie wieder regelmäßig Kontakt.
Kraft durch Gemeinschaft
Rebecca Weber und Jasmin Knorr arbeiten mit rund 15 Kindern und Jugendlichen zusammen. Der Jüngste ist 16, die Älteste 30. Elf davon sind als Mini-Jobber angestellt.
Was für die Sozialarbeiterinnen Rebecca Weber und Jasmin Knorr das gute Verhältnis zu den Momos ausmacht
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Ihre Arbeit beschreibt Weber als Beziehungsarbeit gepaart mit Partizipation. Sprich: den Jugendlichen zuhören, ihnen Struktur bieten, Hilfestellung, Unterstützung – in allen Lebenslagen. Sie, im Idealfall, aus der Wohnungslosigkeit rausholen.
Das Momo-Konzept entstand 2014 in Berlin. Sechs Jugendliche wollten das Konzept auch in Essen umsetzen. "Als sie mich gefragt haben, ob ich das mit ihnen gründen will, habe ich das als großes Kompliment empfunden", sagt Weber, die das Projekt 2019 mit den Jugendlichen in Essen gründete.
Kein Geld mehr für die Momos?
Doch die Jugendlichen könnten dieses Projekt verlieren. Ende 2023 sind die Verträge für die Minijobs ausgelaufen, nun brauchen die Momos 100.000 Euro, um das Projekt für 2024 zu sichern. "Es sind schon Tränen geflossen", sagt Weber, die sich mit Knorr um Geldgeber bemüht. Lena und Tasha kommen trotzdem noch regelmäßig ins Momo-Büro und wollen weitermachen. "Das, was ich erlebt habe, war ziemlich kacke. Ich will verhindern, dass andere das durchmachen müssen", sagt Lena. Seit einigen Monaten lebt sie in einer Wohnung in Essen, die von der "Werkstatt Solidarität" finanziert und betreut wird. Den Kontakt zu ihrer Mutter hat Lena abgebrochen. In diesem Jahr will sie wieder zurück zur Schule gehen.