
Nicht jeder mit IQ 146 baut Raketen - manche suchen nur Anschluss
Stand: 25.02.2025, 06:56 Uhr
Anders sein kann einsam machen. Maja Kirsch wusste lange nicht, warum sie sich fremd fühlte. Mit 42 fand sie heraus, dass sie hochbegabt ist - wie viele andere im Essener Verein "Das Dorf" erst im Erwachsenenalter. Über einen besonderen Ort der Zuflucht.
Von Katharina Paris
Essen: Das Dorf, das nicht auf der Landkarte steht
"Ich habe mich jahrelang wie ein Alien gefühlt. Gerade als Jugendliche hatte ich selten das Gefühl, wirklich dazuzugehören. Ich habe mich mein Leben lang gefragt, was mit mir nicht stimmt", erzählt Maja Kirsch. Sie ist hochbegabt. Und weil Hochbegabung auch immer ein Stigma ist, will sie ihren richtigen Namen lieber nicht im Internet lesen. Sie hat erst vor zwei Jahren verstanden, was genau mit ihr los ist. Damit geht es der 42-Jährigen wie vielen anderen im Essener Verein "Das Dorf", die erst im Erwachsenenalter von ihrer Begabung erfahren.
Kirsch gehört zu den gut zwei Prozent der deutschen Bevölkerung, die als hochbegabt gelten, also einen IQ-Wert von mehr als 130 haben. Es gibt aber auch viel Kritik an dem Testverfahren. Denn er ist nicht unbedingt geeignet, um alle Fähigkeiten eines Menschen richtig zu erfassen. Außerdem hängen die Ergebnisse von vielen äußeren Faktoren ab, erklärt Andrea Steinforth. Sie ist Mitbegründerin des Vereins "Das Dorf", in dessen Räumlichkeiten sich hochbegabte Kinder und Erwachsene treffen und austauschen können.
Andrea Steinforth über die Eindeutigkeit und Zuverlässigkeit von IQ-Tests
00:52 Min.. Verfügbar bis 25.02.2027.
Hochbegabte sind meistens auch hochsensibel. Sie hören, fühlen und riechen intensiver, können Emotionen schneller wahrnehmen, fühlen extrem mit anderen mit. Das sind aber nur ein paar Beispiele. Hochbegabung ist komplex, es gibt nicht eine Beschreibung für alle hochbegabten Menschen. "Es heißt: Kennst du einen Hochbegabten, kennst du einen", sagt Steinforth, während sie mit einer Tasse Kaffee in der Hand in einem bequem aussehenden Sessel sitzt. Alle seien anders, haben mit unterschiedlichsten Herausforderungen zu kämpfen. Die einen können ihr Potenzial super abrufen, andere brauchen viel Ruhe und Zeit, um die Reize zu verarbeiten. Manche sind introvertiert, manche extrovertiert.
"Viele finden den Weg über ihre Kinder zu uns ins Dorf", erzählt Steinforth und holt sich noch eine zweite Tasse Kaffee. "Oft sind es die Mütter, die bei ihren Kindern das Gefühl haben, dass da was ist. Manchmal ist es ein diffuses Gefühl, manchmal zeigt das Kind Verhaltensauffälligkeiten. In der Schule oder im Bekanntenkreis ist dann mal das Wort Hochbegabung gefallen. Oder sie haben schon einen langen Weg voller Diagnostiken hinter sich." Viele landen dann irgendwann bei Steinforth im Dorf.
Mozart mit drei? Mathe-Genie mit vier?
Auch Maja Kirsch ist über ihre Tochter hierher gekommen. "Ich hatte bei ihr von Anfang an das Gefühl, dass sie etwas anders ist als andere Kinder", erzählt die Essenerin. Vor drei Jahren lässt sie ihr Kind testen. Das Ergebnis: hochbegabt. Bis Kirsch selbst den Test macht, dauert es noch mal anderthalb Jahre. Als sie das Ergebnis bekommt, ist sie schockiert. Kirsch hat einen IQ von 146.
"Ich habe gezittert und geweint vor lauter Erleichterung und Freude darüber, dass es endlich einen Grund für mein Anderssein gab", erzählt sie. "Ich hätte mich niemals für so schlau gehalten. Ich war nie überdurchschnittlich gut in etwas, auch beruflich nicht im klassischen Sinn erfolgreich."
Geschichten wie die von Kirsch gibt es im Dorf, das mittlerweile über 100 Mitglieder zählt, häufig. Nicht wenige Hochbegabte haben Probleme in der Schule oder wechseln häufig den Job. Denn anders als es das gesellschaftliche Bild manchmal zeichnet, sind Hochbegabte nur selten Wunderkinder oder Genies, die mit drei Jahren Mozarts Sonaten spielen oder mit vier an der Mathe-Olympiade teilnehmen. Trotzdem haben sie Fähigkeiten, die die Gesellschaft voranbringen können, ist sich Andrea Steinforth sicher.
Andrea Steinforth sieht Hochbegabung als große Chance für die Gesellschaft
00:53 Min.. Verfügbar bis 25.02.2027.
"Hochbegabung heißt erst einmal, dass man etwa 25 Mal mehr wahrnimmt, als der durchschnittliche Mensch", erklärt die Vereinsvorsitzende Elisabeth Backes, die ein bisschen später zum Gespräch dazustößt. Die Lehrerin kommt gerade aus der Schule, setzt sich in den Sessel neben Steinforth und nimmt sofort den Faden auf.
Ein Pinguin gehört ins Wasser
Wenn Hochbegabte auf Gleichgesinnte treffen, fühlen sie sich meist besser verstanden. Steinforth beschreibt es mit einem Gleichnis aus dem Bühnenstück "Das Pinguinprinzip" von Eckhart von Hirschhausen: "Pinguine in der Wüste sind ganz ungeschickt und fühlen sich unwohl. Sie verstehen die anderen nicht. Pinguine im arktischen Wasser zwischen anderen Pinguinen sind hingegen ganz in ihrem Element."

Elisabeth Backes und Andrea Steinforth haben den Verein für Hochbegabte gegründet
In jedem Raum des Vereins gibt es Pinguine in allen möglichen Variationen. Eine stetige Erinnerung daran, dass die Menschen hier in ihrem Element sind, unter Gleichgesinnten. "Ich habe mein ganzes Erwachsenenleben vorher niemals so gute und innige Freundschaften gefunden. Im Dorf darf man sein, wie man ist", sagt Maja Kirsch.
Fast jeden Tag gibt es in den Räumen Veranstaltungen für Vereinsmitglieder oder Menschen, die sich gerade erst auf den Weg gemacht haben, weil sie eine Vermutung haben: Frauen-Gesprächsrunden, Spieleabende für Erwachsene, Männertreffen oder Entspannungs-Workshops für Kinder.

Im "Dorf" kommen Hochbegabte in den Austausch und finden Freunde
"Wir sind kein Ort für Talentförderung. Die Menschen kommen hierhin, um andere zu treffen, die so sind, wie sie selbst", stellt Steinforth klar. Die Idee zum Namen "Das Dorf" entstammt dem afrikanischen Sprichwort "Um ein Kind aufzuziehen, braucht es ein ganzes Dorf." Die Räume im Essener Stadtteil Werden werden nicht nur für Vereinsveranstaltungen genutzt, sondern auch von Psychologinnen und Coaches, die dort Intelligenzdiagnostik, Beratung und Fortbildungen anbieten. Für Eltern, Kinder, Lehrerinnen und Lehrer. Immer mit dem Schwerpunkt Hochbegabung.
Hochbegabt? Ich doch nicht!
Steinforth selbst hat wie Kirsch erst spät von ihrer Hochbegabung erfahren. Damals ist sie 46, als ein Test ihrem Adoptivsohn seine Hochbegabung bestätigt. "Ich habe mich intensiv mit dem Thema beschäftigt und habe gemerkt: Ich kann auch mich viel besser verstehen."
Sie lässt sich testen, liest sich tiefer ins Thema ein und fängt mit 48 Jahren ein Psychologie-Studium an der Fernuni Hagen an. Ohne Abitur. "Ich habe mit nem blauen Auge meinen Realschulabschluss gemacht damals. Meine Eltern waren Schlosser und Verkäuferin. Da denkt keiner an Hochbegabung." Mittlerweile ist Steinforth Psychologin, Coachin, Beraterin und Expertin, hat etliche Kinder und Erwachsene getestet und auf ihrer Reise begleitet.
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Denn die Reise hört nicht auf, wenn die Hochbegabten das Testergebnis in den Händen halten. Im Gegenteil: Dann geht sie erst richtig los. Die Gefühle können einen überwältigen. Trauer über verpasste Chancen im Leben. Angst vor der Zukunft. Überforderung bei den Fragen: Was sind meine Stärken und was mache ich jetzt damit? Und dann ist es ein schönes Gefühl, dass es so ein Dorf gibt, wie das in Essen. Ein Dorf voller Pinguine.