Ein Mann in Hemd und Krawatte steht neben einem Kleinbus

Als Erwachsener lesen lernen? Ein Essener und sein Kampf gegen Vorurteile

Essen | Ehrenamt

Stand: 18.06.2024, 16:55 Uhr

Den Stadtplan verstehen, Zeitungen lesen oder E-Mails schreiben. Für Oliver Meise aus Essen war das lange unmöglich. Er ist funktionaler Analphabet und hat erst mit 40 Jahren Lesen und Schreiben gelernt. Jetzt setzt er sich für andere Betroffene ein.

Von Anke Hoffmann

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Eine Gute-Nacht-Geschichte als Weckruf

Oliver Meise sitzt am Bett seiner Tochter und liest ihr vor. Zumindest tut er so. "Ich habe Bücher mit den Geschichten gekauft, die ich noch aus meiner Kindheit auswendig konnte." Plötzlich sagt seine Tochter: "Papa, das steht da aber ganz anders." In diesem Moment wird Meise klar: So geht es nicht weiter. Er ist ausgelacht worden, hat einen Job verloren - aber jetzt will er endlich lesen und schreiben lernen.

Acht Jahre ist dieses einschneidende Erlebnis her. Damals gehörte Meise zu den rund 1,3 Millionen Menschen in NRW, die laut Bundesverband Alphabetisierung und Grundbildung e.V. nicht richtig lesen und schreiben können. Sogenannte funktionale Analphabeten können einzelne Worte lesen oder schreiben, aber nicht den Inhalt längerer Sätze oder Texte erfassen. Sie haben zum Beispiel Schwierigkeiten bei Behördengängen oder Arztbesuchen. Nach dem Erlebnis mit seiner Tochter besuchte Meise einen Kurs bei der VHS. Der 48-Jährige geht mit seiner Geschichte offen um. Er will anderen Betroffenen Mut machen und engagiert sich deshalb als Lernbotschafter beim ALFA-Mobil.

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Durchs Raster gefallen

Neben dem Stand auf dem Parkplatz vor einem Supermarkt in Krefeld steht ein auffälliger VW-Bulli. Flyer, Infomaterial und kleine Werbegeschenke liegen auf dem mobilen Tresen. Meier steht mit weißem Hemd und blauer Krawatte dahinter. Als Lernbotschafter beim ALFA-Mobil weiß er, wie es ist, nicht lesen und schreiben zu können. Er kennt die schnellen Vorverurteilungen, die blöden Sprüche, die ständige Angst, bloßgestellt zu werden. Und er weiß, wie unterschiedlich die Schicksale der Menschen sein können, die in Deutschland durch das Raster der Schulen gefallen sind.

Wegen seines Analphabetismus hat Oliver Meise in der Vergangenheit viel einstecken müssen

00:27 Min. Verfügbar bis 18.06.2026

Meise ist in Essen aufgewachsen. Die dritte Klasse musste er dreimal wiederholen, bevor er in verschiedene Heime kam. Er ging auf Förderschulen und lernte ein paar Buchstaben und Wörter, sodass er zumindest seinen Namen schreiben konnte. Einen Schulabschluss hat der 48-Jährige nie gemacht. "Ich konnte mich nicht konzentrieren und habe manchmal in der Schule gefehlt. Mir hat niemand wirklich geholfen", sagt Meise. "Wenn ich zu Hause mit meinem Vater Hausaufgaben gemacht habe und nicht ohne Fehler gelesen habe, kam er mit dem Ledergürtel."

Als Jugendlicher und Erwachsener schlug er sich immer irgendwie durch. Meise reparierte Autos von Bekannten, arbeitete im Gartenbau, bei einer Gebäudereinigung und in anderen Minijobs. Immer wieder bekam er Probleme. "Ich habe mal beim Sicherheitsdienst gearbeitet, das hat mir richtig viel Spaß gemacht. Als ich mich meinem Chef geöffnet habe, habe ich den Job verloren." Meise lernt, seine Schwäche zu überspielen oder schwierige Situationen zu vermeiden. Bei Anträgen, Post und wichtigen Dokumenten hat ihm immer seine Schwester geholfen. Ein paar Mal hat er versucht, sich bei der Volkshochschule Hilfe zu holen. Richtig wohlgefühlt hat er sich dabei nie.

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Das Tor zu einer neuen Welt

Nachdem seiner Tochter die falsche Gute-Nacht-Geschichte aufgefallen war, wagt der vierfache Familienvater einen neuen Versuch. Mit seinen Kindern gemeinsam ging er zur VHS in Essen. Diesmal passte alles. Meise fühlte sich wohl und verstanden. Mit 40 Jahren besuchte er zwei bis drei Mal in der Woche den Schreib- und Lesekurs und lernte noch mal von Grund auf lesen und schreiben. Die Menschen dort verurteilten ihn nicht, lachten ihn nicht aus. Sie interessierten sich für ihn.

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Mit der Fähigkeit zu lesen öffnet sich für den damals 40-Jährigen das Tor zu einer anderen Welt: "Irgendwann war ich mit einem Rezept einkaufen. Das war das erste Mal, dass ich nach einem Rezept gekocht habe und die Zutaten lesen konnte." Seitdem verbessert er sich immer weiter und besucht seit zwei Monaten eine Abendschule, um seinen Schulabschluss nachzuholen.

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Einen Schubs in die richtige Richtung geben

Mit dem ALFA-Mobil will Meise anderen Analphabeten zeigen: Was ich kann, könnt ihr auch. Manchmal brauche es nur den richtigen Motivator: "Bei mir waren es auch meine Kinder, die mir den nötigen Schubs gegeben haben, dass ich zur VHS gegangen bin. Ganz viel an Aufklärung läuft über das direkte Umfeld." Deswegen wendet sich das Mobil auch gezielt an Angehörige von Betroffenen. Denn die wenigsten Betroffenen trauten sich von sich aus, Hilfsstellen zu kontaktieren.

Mehrmals im Monat ist Meise mit dem ALFA-Mobil auf Marktplätzen oder vor Supermärkten. Ob Dortmund, Krefeld oder sogar Berlin. Da Meise von Bürgergeld lebt, fährt er so oft es geht als ehrenamtlicher Lernbotschafter mit.

Hilfsangebote in NRW

Erwachsene, die besser Lesen und Schreiben möchten, können sich an die kostenlosen Angebote vom Bundesverband für Alphabetisierung und Grundbildung e.V. wenden. Mit dem ALFA-Mobil informieren Mitarbeitende und vermitteln lokale Ansprechpartner, wie Volkshochschulen oder kirchliche Träger. Über die Nummer des ALFA-Telefons 0800 53 33 44 55 können Betroffene und Angehörige sich anonym beraten lassen.

Quelle: Bundesverband Alphabetisierung und Grundbildung e.V.

Neben ihm stehen in Krefeld noch Mitarbeiter des ALFA-Mobils und Ansprechpartner der örtlichen VHS sowie der Johanniter am Stand. Einige Passanten schauen neugierig, gehen dann aber weiter. Meise weiß, wie schwer es ist, das Vertrauen von Betroffenen zu gewinnen: "Da ist mal ein Mann eine dreiviertel Stunde um unseren Stand rumgelaufen. Er hat immer wieder geguckt und ist weggegangen. Ich habe ihn angesprochen und dann sind wir richtig ins Gespräch gekommen. Aber erst trauen sich die meisten Menschen nicht." Häufig seien sie mit dem ALFA-Mobil nur der erste Anstoß. "Damit die Leute sehen: Da gibt es welche, die wollen mir helfen", sagt Meise. 

Was rät Oliver Meise Betroffenen?

00:36 Min. Verfügbar bis 18.06.2026

Etwa vier Menschen kommen im Laufe des Vormittags von sich aus zum Mobil. Entweder, weil sie selbst betroffen sind, oder jemanden in ihrem Freundes- und Familienkreis haben. Immer wieder geht Meise auch gezielt auf vorbeigehende Menschen zu. Er wirkt offen, freundlich. Aus seiner Geschichte macht er auch Fremden gegenüber kein Geheimnis.

v .l. Ingo Nießen und Oliver Meise

Heute spricht Oliver Meise Passanten an und kommt mit ihnen zu dem Thema Analphabetismus ins Gespräch

Gegen Ende des Tages nimmt Meise in einer ruhigen Minute sein Handy aus der Hose, um eine Whatsapp-Nachricht zu schreiben. Konzentriert tippt er Buchstabe für Buchstabe in die Tastatur, die für seine großen Finger fast schon zu klein wirkt. Früher hat er häufig die Spracheingabe genutzt, die sein Gesagtes in Schrift umwandelt, oder Sprachnachrichten verschickt. Doch der 48-Jährige hat sich etwas vorgenommen: "Ich versuche, jede Nachricht selbst zu schreiben. Dann übe ich jedes Mal, wenn ich wem etwas schreibe."