Lina Scheppe aus Attendorn sitzt auf einer Bank

Wenn Angst zur Krankheit wird: "Ich hatte nur noch Schmerzen"

Olpe | Füreinander

Stand: 23.10.2024, 07:09 Uhr

Solange sie denken kann, leidet Lina Scheppe aus Attendorn an einer Angststörung. Lange haben ihr ganz alltägliche Dinge große Probleme gemacht. Ängste haben ihr Leben bestimmt. Wie sie sich zurück in den Alltag gekämpft hat und jetzt anderen Betroffenen hilft.

Von Stefan Weisemann (Text) und Elli Konstantinidis (Multimedia)

Lina Scheppe umarmt eine Freundin herzlich und mit einem breiten Lachen. Dann legt sie ihr vorsichtig die Hand auf den Rücken, macht eine leichte streichelnde Bewegung. So schiebt sie die Freundin durch die Tür einer Arztpraxis. Zur Arzthelferin am Empfang sagt sie erklärend: "Ich bin zur Begleitung da." Kurz darauf im Wartezimmer fassen sich die beiden Frauen fest an den Händen.

Scheppes Freundin hat Angst. Angst, zum Arzt zu gehen. Ein Gefühl, das Scheppe selbst nur allzu gut kennt. Die 59-Jährige leidet seit Jahrzehnten unter einer Angststörung. Doch mit gegenseitiger Unterstützung klappt es im Alltag besser. Dafür hat Scheppe eine Selbsthilfegruppe gegründet.

Wie wichtig gegenseitige Unterstützung ist

00:29 Min. Verfügbar bis 23.10.2026

Feuchte Hände vor einer Prüfung, Herzrasen beim Gang durch eine dunkle Gasse. Das sind ganz natürliche Formen der Angst. Ist die Situation vorbei, ist die Angst wieder weg. Doch Angst kann auch zum ständigen Begleiter werden. Rund 20 Prozent der Frauen und knapp 10 Prozent der Männer in Deutschland leiden laut der Stiftung Gesundheitswissen unter einer Angststörung. Manche haben Angst vor größeren Menschenmengen. Andere meiden Menschen, weil sie Angst vor Bewertung oder Peinlichkeiten haben. Wieder andere haben ganz konkrete Ängste, vor Spinnen oder vor großer Höhe zum Beispiel.

Angst als ständiger Begleiter

Andere Betroffene unterstützen, das wäre für Scheppe vor einiger Zeit noch undenkbar gewesen. Viel zu sehr hat sie ihre eigene ständige Angst gelähmt.

"Eigentlich ist Angst ja was Gutes. Angst ist ein Gefühl, das uns beschützt. Wenn wir keine Angst hätten, würden wir wahrscheinlich lauter Dummheiten machen und alle mit spätestens 20 tot sein", sagt Scheppe mit ernstem Blick.

Wenn man Angst hat vor Dingen, die gar nicht gefährlich sind, wird es kritisch. Dann schränkt es das Leben so ein, dass man irgendwann eigentlich alles verpasst. Lina Scheppe, Gründerin einer Selbsthilfegruppe für Angststörung

Doch wann wird Angst eigentlich krankhaft? "Der entscheidende Punkt ist die Vermeidung", sagt Matthias Sperl von der Universität Siegen. Er forscht zu Angststörungen, arbeitet auch als Therapeut. "Sobald ich Dinge nicht mehr tue, die ich eigentlich gerne machen möchte, und darunter leide, dann wird die Angst zur Krankheit."

Die Diagnose ist nicht immer einfach. So war es auch bei Scheppe: "Ich bin mit der Angst aufgewachsen. Ich habe immer schon Angst gehabt. Bis ich gemerkt habe, dass das Ganze krankhaft ist, hat es wirklich, wirklich lange gedauert." Scheppe hatte gerade einen neuen Job angefangen, "super toll, super Kollegen", sagt sie. Doch nach sechs Wochen kann sie nicht mehr.

"Ich hatte nur noch Schmerzen im ganzen Körper." Scheppe fängt danach an, sich mit ihren Ängsten auseinanderzusetzen, macht Kurse und Therapien. Irgendwann bekommt sie ihre Diagnose: Sie hat eine generalisierte Angststörung.

Hilfe für Menschen mit Angsterkrankungen

Betroffene von Angststörungen leiden teilweise extrem. Sie spüren die Angst am ganzen Körper. "Die Patienten sind unter hohen Stresszuständen", sagt Therapeut Sperl. Scheppe kennt das nur zu gut. Die Angst vor Ablehnung, die Angst vor Fehlern, die Angst, auf Menschen zuzugehen. All das hat ihr jahrzehntelang große Probleme bereitet.

Wie sich die Angst für Lina Scheppe anfühlt

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Bei Angststörungen helfen Therapien. Das klingt zunächst einfach, ist es für die meisten Betroffenen aber nicht, sagt Psychologe Sperl. "Es ist sehr viel Scham dabei, über die Angst zu sprechen." Betroffene trauen sich deshalb oft nicht, mit einem Therapeuten Kontakt aufzunehmen. Doch wenn dieser Schritt erst einmal gemacht ist, lernen Betroffene effektive Methoden, mit den Ängsten umzugehen.

Hilfe bei Angststörungen in NRW

Welche Arten von Angststörungen gibt es? Und wie können sie behandelt werden? Dazu geben die Experten von der LWL-Klinik in Dortmund weitere Informationen. Bei der Suche nach der passenden Behandlung hilft auch der Verein Pro Psychotherapie e.V. In seiner Therapeutensuche sind mehr als 14.000 Therapeuten in Deutschland erfasst. Und das Selbsthilfenetz vom Paritätischen Wohlfahrtsverband bietet eine Selbsthilfegruppen-Suche an. Allein in NRW sind fast 200 Gruppen zum Thema Angst aufgelistet.

"In der Therapie versuchen wir, dass Patienten die Dinge, die sie gerne machen möchten, wieder aufnehmen können und ihre Angst regulieren können", sagt Sperl, "die Angst wird immer noch kommen, aber Patienten können sie so abschwächen, dass sie zurechtkommen".

Gegenseitige Unterstützung in der Selbsthilfegruppe

Scheppe setzt vor allem auf Hilfe zur Selbsthilfe. Sie will ihre gewonnene Stärke an andere weitergeben. Zusammen mit der DRK Selbsthilfekontaktstelle in Olpe hat sie eine Gruppe ins Leben gerufen: "Keine Angst vor der Angst" heißt sie. Hier tauschen sich Betroffene regelmäßig aus. Sie unterstützen sich bei den Treffen, sind aber auch im Alltag füreinander da, zum Beispiel beim Arztbesuch.

Gemeinsam kämpfen sie auch gegen Vorurteile. Scheppe hat sich lange nicht getraut, über ihre Angststörung zu sprechen. Als sie das endlich konnte, musste sie sich dafür rechtfertigen. Mittlerweile sagt sie ganz selbstbewusst: "Ich weiß, dass ich nicht Schuld daran bin. Und wer es nicht glaubt, der hat halt Pech."

Über dieses Thema haben wir auch am 12.07.2024 im WDR Fernsehen berichtet: Lokalzeit Südwestfalen, 19.30 Uhr.