Max Reich steht vor einer Wand mit Bildern und lächelt in die Kamera

Der Unfall, der alles veränderte: Wenn das Gehirn wieder neu lernen muss

Wuppertal | Füreinander

Stand: 14.10.2023, 13:06 Uhr

Max Reich hatte einen brachialen Unfall, der sein Gehirn nachhaltig schädigte. Unermüdlich trainierte der damals 27-Jährige sein Gedächtnis, bis seine Neuronen neue Brücken bauten. Heute leitet er ehrenamtlich eine Gehirntrainingsgruppe im Sozialpsychiatrischen Zentrum Wuppertal Elberfeld.

Von Florian Vitello

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13 Meter in die Tiefe: "Von da an war nichts mehr so wie früher"

In der Nacht zum 31. Oktober 2009 kehrt Max Reich nach einer Party im Club bei einem Freund ein, bei dem er übernachtet. Der damals 27-jährige Maschinenbaustudent ist in seinem Umfeld bekannt als scharfzüngig und geistreich. Dann fällt er aus dem Fenster. 13 Meter in die Tiefe. Mit seinem Sturz, endet nicht nur sein bisheriges Leben, sondern auch sein Erinnerungsvermögen. Er hatte getrunken, sich eine Zigarette angemacht, was dann genau passiert ist, weiß der heute 40-Jährige nicht mehr. "Die einen munkeln, ich wäre geschlafwandelt, das halte ich aber für Blödsinn. Ich vermute, dass ich mich zum Rauchen aus dem Fenster gelehnt und dann das Gleichgewicht verloren habe", sagt er.

Reich ist laut Deutscher Gesellschaft für Neurochirurgie einer von mehr als 300.000 Menschen in Deutschland jährlich, die eine Schädel-Hirn-Verletzung erleiden. Diese ist für Menschen unter 45 Jahren, insbesondere sportliche und aktive Menschen, die häufigste Todesursache. Reich gehört zur Zielgruppe, hat jedoch Glück im Unglück. Er wacht aus dem Koma auf, kämpft anfangs mit Sprachfindungsstörungen. Sie gehören, so erklärt ihm sein Arzt, neben weiteren kognitiven Defiziten, Kopfschmerzen, epileptischen Anfällen, Immobilität, Depressionen und weiteren Einschränkungen zu den typischen Krankheitszeichen eines schweren Schädel-Hirn-Traumas.

Betroffene erfassen die Folgen meist völlig unerwartet. Laut Hannelore-Kohl-Stiftung machen Verkehrsunfälle und Stürze wie der von Reich die häufigsten Unfallursachen aus. Binnen Sekunden wird dann aus einem gesunden Menschen ein schwerkranker. Im Fall von Reich sind viele Details aus seiner Vergangenheit unscharf oder ganz verschwunden. "Ich wusste zum Beispiel nicht mehr, dass ich schon ein Vordiplom hatte. Als mein Vater mir das erzählt hat, habe ich mich zum zweiten Mal gefreut", sagt er mit Sarkasmus in der Stimme. Seine Geschichte muss er im Sitzen erzählen, denn seit dem Aufprall, bei dem seine gesamte rechte Körperhälfte stark verletzt wurde, leidet er unter starken Zuckungen einer Spastik im rechten Bein.

Eine bittere Erkenntnis

Reich wird kurz nach dem Unfall mit einer weiteren bitteren Realität konfrontiert: Er wird nach seinem Studium an der RWTH Aachen und seinem Studium in Bochum nie als Maschinenbau-Ingenieur arbeiten können. Er kann keinen Sport mehr treiben und auch seine Partnerin, mit der er fünf Jahre zusammen war, trennt sich von ihm. Doch trotz aller Verluste behält er sich Hoffnung bei: "Man muss immer optimistisch bleiben, sonst lohnt sich das Leben nicht."

Wie kam Reich dazu, selbst Gehirntraining anzubieten?

00:36 Min. Verfügbar bis 06.10.2025

Also kämpft er sich im ersten Jahr zurück. Reich macht unzählige Gedächtnistrainings in Krankenhäusern und bei der Ergotherapie. "Ich habe wieder gelernt, zu denken", sagt er. Er besteht das letzte mündliche Examen seines Studiums, holt ein Praktikum bei LOI in Essen nach, das ihm die Firma offengehalten hatte, und schreibt sogar eine Diplomarbeit über dreidimensionale Lasertechnik. Bis ihn schließlich ein Wutausbruch bei der Arbeit auf den Boden der Realität zurückholt und in eine tiefe Depression stürzt: "Ich hab da gemerkt, mit mir stimmt etwas nicht. Ich werde nie wieder mathematisch-technisch arbeiten können, schon gar nicht Vollzeit."

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19 Ehrenamtliche im Sozialpsychiatrischen Zentrum Wuppertal

Es vergehen Jahre, bis die Partnerin eines Freundes Reich das Sozialpsychiatrische Zentrum Wuppertal Elberfeld empfiehlt. Gelegen in einer stillgelegten Tuchfabrik aus dem 19. Jahrhundert, die seinerzeit ihre Abwasser noch in die Wupper vor der Haustüre leitete, bietet die Bergische Diakonie Aprath heute ein niedrigschwelliges Hilfsangebot für Menschen mit psychischen Erkrankungen und kognitiven Einschränkungen. Das Herzstück des Projekts ist ein Begegnungscafé, das im Einklang mit der Ernährungsstrategie der Bundesregierung kostengünstige vollwertige Mahlzeiten anbietet. Reich ist von Anfang an begeistert. "Im SPZ gibt es keinerlei Druck, perfekt sein zu müssen. Das ist in anderen Teilen der Gesellschaft ja durchaus eher der Fall."

Max Reich grübelt über Gehirntraining-Aufgaben

Max Reich knobelt vor den Gruppenstunden selbst an den Denksportaufgaben, damit er den anderen später besser Hilfestellung geben kann.

Mit Herzblut und Disziplin bei der Sache

Insgesamt 19 Ehrenamtliche unterstützen die Hauptamtlichen dabei, ein konstruktives und förderndes Umfeld zu schaffen. Sie bereiten das Essen vor und organisieren ein buntes Programm von Literatur, Kunst und Sport über Selbsthilfegruppen bis hin zu einem Japanisch-Kurs. Die Vielfältigkeit der Angebote inspirierten Reich schnell dazu, Gehirnleistungstraining auch für andere Betroffene anzubieten. Sein Kurs, der immer donnerstags um 18 Uhr stattfindet, gehört inzwischen zu den beliebtesten Aktivitäten im Haus. Die hauptamtlichen Kolleginnen schätzen Reich, weil er sichtlich mit Herzblut bei der Sache ist und gleichzeitig diszipliniert mit den Teilnehmenden arbeitet.

Auf dem Flur ist der Umgangston heiter. "Sie sehen heute wieder so sportlich aus, Frau Hubbertz", sagt Reich, der die Denksportaufgaben für die Gruppenstunde vorbereitet, zur Leiterin des SPZ auf dem Weg zum Kopierer. "Sie machen mir immer so schöne Komplimente, Herr Reich. Wenn es doch nur auch wahr wäre", entgegnet die ihm. Auch wenn Reich das Sprechen zwischenzeitlich merklich schwerfällt, seiner Eloquenz tut das keinen Abbruch.

Gehirntraining-Gruppe sitzt am Tisch und löst Aufgaben

Die Teilnehmer der Gehirntraining-Gruppe sind füreinander da und ermutigen sich gegenseitig

Nach und nach füllt sich das SPZ. Die ersten Teilnehmenden haben bereits in dem mit farbenfrohen Kunstwerken der Malgruppe dekorierten Übungsraum Platz genommen. Andere Teilnehmende sitzen noch im Begegnungscafé, es gibt Pellkartoffeln mit Heringsstipp für 3,50 Euro. Die Mahlzeiten sind nicht nur bezahlbar, sie bieten vielen auch eine willkommene Gelegenheit der Gesellschaft.

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So wie für den 55-jährigen Karsten Tietz, der nach einem Sturz im Camping-Urlaub und anschließendem Schädel-Hirn-Trauma die meisten seiner Freunde verloren hat. "Ich fühle mich oft einsam, darum komme ich so gerne hier her", sagt der gelernte Polier, der seit seinem Unfall unter anderem an Orientierungslosigkeit leidet. Zuhause ist seine Frau seine unerlässliche Stütze, im SPZ kann er mit Begleitung spazieren gehen und findet abwechslungsreiche Beschäftigungen. Das Highlight der Woche ist für ihn aber die Gehirnleistungsgruppe von Max Reich. 

Gegen den Frust: Lockere Knobelaufgaben in heiterer Atmosphäre

Tietz ist der Langsamste der Gruppe beim Lesen spiegelverkehrter Wörter. "regissiB dnuH" steht in der ersten Zeile. Die anderen haben das Übungsblatt bereits ausgefüllt. Geduldig gibt Reich Hilfestellung. "Ach, bissiger Hund!", sagt Tietz erleichtert. Er starrt minutenlang angestrengt auf sein Blatt, weitere Wörter wollen ihm nicht einfallen. Als er bereits sanft zu fluchen beginnt, erlöst ihn ein Alarm, der ihn an das Einnehmen seiner Pillen erinnert. "Das macht doch nichts, vielleicht funktioniert die nächste Übung besser", ermutigt ihn Reich. Und tatsächlich fällt Tietz das Finden von Zahlenpaaren leichter. "Das ist das Schöne an dieser Gruppe", sagt Tietz, "da lacht keiner über dich, wenn es mal nicht klappt. Ich muss hier nicht den starken Mann spielen, das bin ich nämlich nicht mehr."