MONITOR vom 09.01.2020

Raus aus der Wohnung: Wenn sozialer Abstieg zum Existenzproblem wird

Bericht: Lara Straatmann

Raus aus der Wohnung: Wenn sozialer Abstieg zum Existenzproblem wird Monitor 09.01.2020 07:12 Min. UT Verfügbar bis 09.01.2099 Das Erste Von Lara Straatmann

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Angela Merkel: „Wir wollen, dass alle Menschen Zugang zu der Bildung haben, die sie für diesen Wandel brauchen. Wir wollen, dass sie auch in Zukunft einen guten und sicheren Arbeitsplatz haben, und im Alter eine verlässliche Rente.“

Georg Restle: „Gleiche Bildungschancen, gute Arbeitsplätze, sichere Renten. Klingt gut, was die Kanzlerin da in ihrer Neujahrsansprache verkündet – und ist doch so weit entfernt von den Realitäten zu Beginn dieses neuen Jahrzehnts. Guten Abend und willkommen bei MONITOR.

Genau das wollen wir Ihnen heute zeigen. Wie gerecht – oder besser ungerecht – es eigentlich zugeht in Deutschland, im immerhin 15. Jahr der Kanzlerinnenschaft von Angela Merkel. Was sagen die Zahlen und – vor allem – wie geht es den Menschen in diesem Land? Fangen wir an mit einem Blick auf die Vermögen in Deutschland.

Den reichsten 10 Prozent gehören 56,1 Prozent aller Vermögen in diesem Land. Dagegen verfügen die ärmeren 50 Prozent über gerade mal 1,3 Prozent aller Vermögenswerte. Vermögen heißt oft Immobilien: Grundstücke, Häuser und Wohnungen. Wer hat da eigentlich profitiert vom Immobilienboom der letzten Jahre? Die reichsten 20 Prozent der Haushalte hatten 2011 ein Immobilienvermögen von durchschnittlich 210.000,- Euro. Die ärmsten 20 Prozent von gerade mal 1.000,- Euro. Bis 2018 stieg der Wert bei den reichsten 20 Prozent auf 335.000,- Euro an, also um 60 Prozent, während es beim ärmsten Teil der Bevölkerung überhaupt keinen Zuwachs gab, Steigerung 0 Prozent. Warum das so dramatisch ist für diese Gesellschaft? Weil Menschen, die kein Vermögen haben, auch keine Sicherheiten haben für Krisenfälle. Wehe, da geht was schief, dann droht der Absturz ins Bodenlose. Lara Straatmann hat eine erfolgreiche  Akademikerin besucht, die sich eigentlich keine Sorgen machte, bis ihr das Leben plötzlich einen Strich durch die Rechnung machte.“

Hanna Krieg aus Hamburg, 44 Jahre, Diplom-Medienwirtin, lange erfolgreiche Unternehmensberaterin. Was kann da schon passieren?

Hanna Krieg: „Das habe ich auch mal gedacht. Wenn Sie in Lohn und Brot sind, gut verdienen und Sie haben ne super Ausbildung gemacht, dass einen das nicht betrifft oder dass einem das nicht passieren kann, das stimmt ja nicht. Das sehen Sie ja an mir. Natürlich muss ich sagen, es kann jeden treffen.“

Eine Krankheit warf sie vor fünf Jahren aus der Bahn, als Selbstständige musste sie kürzer treten. Aktuell bekommt sie Arbeitslosengeld II. Und erlebt die Vorurteile in den Köpfen.

Hanna Krieg: „Meine Eltern, die … zu denen habe ich gar keinen Kontakt gerade. Die ignorieren das, weil die das nicht sehen wollen. Die haben sich ein Haus gebaut, die haben eine sichere Rente. Die sind jetzt Anfang 70 usw. – und meine Probleme verstehen die gar nicht. Das ist direkt im familiären Umfeld leider auch der Fall. Deswegen ist das auch so ein Problem von Menschen, die dann so abdriften oder Arbeit verlieren oder ein Einkommen verlieren, und dann vielleicht noch die Wohnung verlieren.“

Elf Jahre lebt sie in ihrer Mietwohnung in Groß-Flottbek, hat Freunde in der Nachbarschaft. Das Durchschnittsgehalt liegt hier bei 88.000,- Euro. Früher konnte sie da noch finanziell mithalten. Jetzt nicht mehr – und das hat Folgen. Das Haus, in dem sie zur Miete lebt, wurde verkauft. Es folgte eine kräftige Mieterhöhung. Weit über dem Satz, den das Jobcenter üblicherweise zahlt. Und dabei blieb es nicht. Der Vermieter kündigte – wegen Eigenbedarfs. Sie muss raus.

Hanna Krieg: „Das sind echt schlaflose Nächte, das ist ja, Sie verlieren ein Obdach – das einzige, was der Mensch … oder eins der wichtigsten Dinge. Bevor Sie überhaupt irgendwie sind, brauchen sie ein Dach über dem Kopf, bevor Sie überhaupt irgendwas machen können im Leben.“

Rechtlich kann sie nichts machen. Die neuen Eigentümer wollen selbst in die Wohnung einziehen. Spätestens im August muss sie raus. Als Hartz-IV-Empfängerin muss sie nun eine neue Wohnung finden – für maximal 495,- Euro Kaltmiete. Parallel mit tausenden anderen Hamburgern.

Hanna Krieg: „Es ist nie schön, wenn man arbeitslos ist, egal was. Und was dann da an Rattenschwanz dahinterkommt mit den finanziellen Einschränkungen, ist bestimmt auch nicht schön. Und wenn dann noch ne Kündigung kommt und man muss mit diesen finanziellen Einschränkungen dann eine Wohnung suchen, ist der Supergau. Sie sehen plötzlich ganz viele Obdachlose um sich herum. Kann ich Ihnen zeigen, da vorne unter der Brücke wohnt einer. Das sind Horrorszenarien, da können Sie nachts dann nicht schlafen.“

Hanna Krieg gibt aber nicht auf, sucht im Internet und über Bekannte. Selbst eine nette Wohngemeinschaft kann sie sich vorstellen. Sie hofft auf einen Zufallstreffer. Mit ihren Existenzängsten ist sie nicht allein. Mietrechtsexpertin Sylvia Sonnemann erlebt solche Ängste nahezu täglich. Menschen mit geringem Einkommen würden nicht nur aus den angestammten Vierteln verdrängt, sie hätten Not, überhaupt etwas zu finden.

Sylvia Sonnemann Geschäftsführerin Hamburger Mieterverein: „Wenn Sie sich als ALG-2-Bezieherin oder als Grundsicherungsempfänger eine Wohnung suchen, da müssen Sie sich an Mietobergrenzen halten, und diese Mietobergrenzen sind angemessen, auf einem Wohnungsmarkt nicht anzumieten, diese Wohnungen. Die einzige Chance, die man wirklich hat, ist bei einer Genossenschaft oder bei einem staatlichen Wohnungsunternehmen unterzukommen. Sonst ist man da chancenlos.“

Ihre letzte Hoffnung ist die SAGA, das städtische Wohnungsunternehmen. Jedes Jahr baut das Unternehmen 1.000 neue Sozialwohnungen. Hamburg gilt damit bundesweit als Vorbild. Doch es reicht bei weitem nicht. Ihr Anruf bringt Ernüchterung.

Hanna Krieg: „Mein Gesuch ist jetzt einer von tausend in der Warteliste, und sollte was Passendes dabei sein, werde ich benachrichtigt. Innerhalb von ein bis zwei Stunden sind die meistens weg, wenn sie im Internet stehen. Also müsste ich dann 24 Stunden auf die Website gucken. Da bin ich dann sprachlos. SAGA ist ja einer der größten Anbieter überhaupt hier in Hamburg. Ja, keine Chance.“

Die meiste Angst hat sie davor, ihr ganzes soziales Umfeld zu verlieren. Raus aus der Wohnung, raus aus ihrem Leben.

Hanna Krieg: „Natürlich, gerade wenn Sie krank werden und wenn Sie dann noch finanziell absteigen, können Sie nicht mehr das alles machen, was Sie noch vorher gemacht haben als voll berufstätiger Mensch, der draußen rumgelaufen ist und Action gemacht hat. Oder auch Freunde oder Kollegen oder Bekannte – auch da wird das soziale Umfeld eingeschränkt. Deswegen bin ich ja so froh, dass ich hier wohne. Damit ich auch nach wie vor den Kontakt halten kann zu den Leuten, wie eben dem Chor oder den anderen Menschen, die ich zum Teil betreue oder denen ich weiterhelfe.“

Für die Holtmanns aus der Nachbarschaft ist Hanna Krieg eine gute Freundin. Die ehemalige Unternehmensberaterin unterstützt das blinde Paar beim Einkaufen und holt sie jede Woche für die Kirchenchorproben ab. Hier in Groß-Flottbek wird Hanna Krieg kaum mehr eine Wohnung finden. Als Hartz-IV-Empfängerin ist sie sowieso die große Ausnahme. In der Kirche spielt das keine Rolle. Seit der Gründung des Chors singt sie hier mit. Sie gehört dazu – noch.

Udo Holtmann: „Da würde jemand fehlen, jemand Wichtiges fehlen.“

Dagmar Holtmann: „Auf jeden Fall. Da würde jemand sehr Wichtiges...“

Udo Holtmann: „Auch wir haben mal irgendwann zur Miete gewohnt, das war uns nicht an der Wiege gesungen, dass wir irgendwann ne Eigentumswohnung hätten, und ich finde das bedrohlich. Ich finde das auch bedrohlich für einen Stadtteil, wenn sich da so viel verschieben tut.“

In ihrem Chor hat sie Freunde gefunden. Den meisten hier geht es hier finanziell gut. Auch Hanna Krieg fühlte sich einmal gut abgesichert – jetzt fürchtet sie um ihre Existenz.

Kommentare zum Thema

  • Fischer 27.01.2020, 17:39 Uhr

    Wir brauchen bundesweit Wohnungen die vom Preis und der grösse bezahlbar sind für Singles und auch falls arbeitslosigkeit eintritt von den Ämtern getahlt werden. Ich finde seit über 5 Jahren keine Wohnung mehr, da die Wohnungen zu teuer sind, unbewohnbar da Schimmel, oder in einem Hochhausghetto liegen. Es sollte erlaubt werden in Dchrebergärten zu wohnen oder ein Ziny Haus oder Wohnwagen auf einem Grundstück zu bewohnen solange so viele Menschen ohne Wohning sind!!! Es ist ein Grundrecht einen Platz eine Wohnung zu haben. Doch mehr als 1 Millionen Menschen in Deutschland haben keine Wohnung!!!

  • Hamburger Deern 26.01.2020, 20:42 Uhr

    Es bringt nichts, wenn die Saga sich damit brüstet, jährlich 1000 Sozialwohnungen zu bauen, wenn diese nur groß gebaut werden. Was Hamburg dringend braucht, sind kleine bezahlbare 1,5 Zimmer Wohnungen. Hamburg ist die Singlehochburg in Deutschland. Rentner, Studenten, Auszubildende, Arbeitslose buhlen um kleine Wohnungen

  • Ruhrs 21.01.2020, 20:54 Uhr

    Endlich nicht wieder eine Friseurin, Putzfrau, ein Dachdecker oder Paketzusteller. Mich als Fachjournalistin mit Soz.-Päd-Diplom trifft nach demnächst 45 Jahren Projekt-Jobhopping in Dauerbefristungen bei öffentlichen Einrichtungen und Kirchenarbeitgebern mit zwischenzeitlichen Arbeitslosenzeiten ein ähnliches Armutsschicksal. Ich müsste für die reguläre Rente noch 2,5 Jahre arbeiten. Mich nimmt jetzt aber keine/mehr..zu teuer, zu alt. Ergebnis: 1300 Brutto minus Steuern und Sozialabgaben bis zum Ableben. Aber immer noch zuviel, um von der "Respektrente" zu profitieren. Bis dahin darf ich, wenn ich gesund bleibe 165 Euro neben ALG 1 dazuverdienen. Meine Hoffnung: 2020 wird das Jahr der Aufstände...das Maß ist auf allen Kanälen voll - die Wut auf die Politiker nach Gutsherrenart paart sich mit der Angst vorm eigenen leeren Kühlschrank und unbezahlbar werdenden Mietwohnungen.

    • DozenTree 24.01.2020, 00:08 Uhr

      In Deutschland nennt man sowas Fachkräftemangel. Trotz einer Ausbildung zum Maschinenbau- und REFA- Techniker und Technischen Betriebswirt hatte ich jahrelang nur noch 3 Minijobs.