Silvesterkrawalle: Verfehlte Debatte über Integration Monitor 19.01.2023 08:21 Min. UT Verfügbar bis 30.12.2099 Das Erste Von Herbert Kordes, Andreas Spinrath, Julia Linn

MONITOR vom 19.01.2023

Silvesterkrawalle: Verfehlte Debatte über Integration

Die gewalttätigen Ausschreitungen an Silvester in Berlin führten zu einer hitzigen Debatte. Über eine angeblich mangelnde Integrationsbereitschaft von Flüchtlingen und Menschen mit Migrationshintergrund, die von CDU-Chef Merz als "kleine Paschas" abgestempelt wurden. Zurück bleiben Verletzungen, Menschen, die sich verunglimpft fühlen und sich fragen, ob ihre Herkunft jemals keine Rolle mehr spielen wird.

Von Herbert Kordes, Andreas Spinrath, Julia Linn

Georg Restle: "Bilder von griechischen Autofähren, wie sie viele Touristen kennen. Auch wenn keiner der Reisenden auf dem Oberdeck wohl ahnt, was sich da tief unten im Inneren dieser Schiffe regelmäßig abspielt, wenn Menschen in solchen Orten illegal gefangen gehalten werden. Guten Abend und willkommen bei MONITOR.

Über unsere Recherchen auf diesen Fähren werden wir gleich ausführlich berichten. Erstmal aber zu der Debatte, mit der dieses neue Jahr so wenig rühmlich begonnen hat. Wieder mal Krawalle an Silvester, wieder mal Angriffe auf Polizei und Rettungskräfte – und wieder mal die gleiche Leier. Von Menschen, die angeblich allein deshalb besonders zur Gewalt neigen würden, weil ihre Vorfahren vor Jahrzehnten nach Deutschland eingewandert sind. Rund 22 Millionen Menschen mit so genanntem Migrationshintergrund leben in diesem Land, also jeder Vierte. Allein daran sieht man schon, wie absurd diese ganze Diskussion ist, mal ganz abgesehen davon, dass es den politischen Wortführern dieser Debatte wohl um etwas ganz anderes geht. Um Wählerstimmen nämlich aus einem Milieu, bei dem man offenbar meint, mit solch schlichten Parolen Punkte machen zu können. Herbert Kordes, Julia Linn und Andreas Spinrath"

Berlin-Neukölln, Ende vergangener Woche. Wir treffen Enes Erol. Der 27-jährige war Zeuge der Silvester-Ausschreitungen und führt uns zu dieser Unterführung – nicht weit entfernt von seiner Wohnung. An Silvester stand hier ein Bus in Flammen.

Enes Erol: "Hier hat der Bus gebrannt. Die Jugendlichen standen alle auf der Seite, haben von der Seite dann halt mit Feuerwerkskörpern rüber geschossen, genau auf den Bus, bis halt irgendwann die erste Scheibe kaputtging. Und haben die anderen dann als Vorlage genutzt und haben reingeböllert."

Das Bild vom brennenden Bus wurde zu einem der Symbole der Silvester-Ausschreitungen. Vor allem aber empörten die Angriffe auf Polizei und Rettungskräfte. Die Berliner Polizei meldete 145 Festnahmen in der Nacht – meist Ausländer, hieß es. Für viele stand damit fest, auch für die Angriffe seien vor allem Ausländer verantwortlich. Jetzt liegen dazu detailliertere Zahlen vor. Demnach wird aktuell gegen 44 Tatverdächtige ermittelt, 26 Deutsche, davon zehn mit doppelter Staatsangehörigkeit, und 18 Ausländer. Die meisten, junge Männer unter 25 Jahre. Die Fakten heute. Doch schon kurz nach Silvester beginnt in Deutschland eine hitzige Debatte, mit vermeintlichem Wissen über die Täter und die Gründe für die Gewalt.

 Debatte: “Wir müssen auch über gescheiterte Integration, über die Schattenseiten von Migration reden”. –  “...die kleinen Paschas…” – “...sucht Euch bitte ein anderes Land…”

Tagelang wird das Thema diskutiert – eine Debatte, die aus Sicht von Experten, wie dem Rassismusforscher Karim Fereidooni, allerdings in die völlig falsche Richtung geht:

Prof. Karim Fereidooni, Rassismusforscher, Ruhr-Universität Bochum: "Ich bin auch schockiert von diesen Vorfällen. Und ich wünsche mir eine lückenlose Aufklärung, wenn es sie denn geben kann. Also ich warne vor diesen Diskursen, das Aussehen oder die Kultur von Menschen zu Rate zu ziehen, um zu sagen, die einen sind weniger kriminell und die anderen sind kriminell. Diese Debatten führen zu nichts, sie sind hochgradig unwissenschaftlich. Es gibt keine Nähe zwischen bestimmten Kulturen und Kriminalität."

Der Berliner Bezirk Neukölln gilt schon lange als so genannter Problemkiez: Rund 329.000 Menschen leben hier. Die Jugendarbeitslosigkeit liegt aktuell bei 13,6 Prozent – dreimal so hoch wie im Bundesschnitt. Konfliktpotenzial gibt es genug, aber was hat das mit der Herkunft zu tun? Nichts, sagt Professor Menno Baumann. Er forscht seit Jahren zu Jugendgewalt. Offenbar habe sich an Silvester eine explosive Stimmung hochgeschaukelt, die ganz andere Ursachen habe.

Prof. Menno Baumann, Gewaltforscher, Fliedner-Fachhochschule Düsseldorf: "Das sind Prozesse, die wir immer wieder erleben. Es passiert in den Stadtteilen, in dem wir den niedrigsten Kipppunkt haben für solche Szenarien. In dem wir das höchste Gewaltpotenzial sicherlich auch versammelt haben und so eine Gruppendynamik am schnellsten passieren kann. Aber das liegt nicht daran, ob da Deutsche oder Migranten wohnen, sondern es liegt daran, dass dort in den Straßen mehr … sich mehr Perspektivlosigkeit, mehr Langeweile und natürlich auch ein Stück weit mehr Konfrontation mit Ordnungskräften versammelt."

Enes Erol verurteilt die Ausschreitungen. Die meisten hier tun das, sagt er. Zusammen mit seiner Familie hat er ein Café in Neukölln gegründet. Seine Eltern kamen Ende der 70er Jahre nach Deutschland. Der 27-Jährige selbst ist ausgebildeter Wirtschaftsingenieur, und sieht sich in Debatten regelmäßig in Mithaftung genommen.

Friedrich Merz (CDU), Parteivorsitzender, 10.01.2023: "Wir haben hier ein Problem mit mangelnder Integration von Menschen, die nicht aus unserem kulturellen Umfeld kommen, die in Deutschland leben, teilweise in zweiter, dritter Generation."

Enes Erol: "Durch solche Aussagen meint er zwar nicht mich direkt, er meint aber meinen Kulturkreis. Die Leute, die eventuell ähnlich aussehen wie ich und dementsprechend werde ich halt auch die Konsequenzen eines Tages tragen müssen. Und schiefe Blicke ernten, Beleidigungen ernten, Ausgrenzungen ernten."

Diese Erfahrung machen auch andere. Suat Baran kam im Alter von fünf Jahren mit seinen Eltern nach Deutschland. Er ist Textilhändler, lebt seit 53 Jahren hier und ist genervt von solchen Debatten.

Suat Baran: "Ich persönlich kann das wirklich nicht hören. Ich … wenn man das so sagen kann, ich bin integriert. Also wir arbeiten, wir gehen ganz normal unserem Beruf hinterher, was ganz normaler Bürger … machen wir auch. Es ist wirklich egal, wie lange Sie hier in Deutschland leben, aber als Migrationshintergrund werden Sie niemals als Deutscher anerkannt."

Sätze, wie diese, hören wir hier öfter.

Prof. Karim Fereidooni, Rassismusforscher, Ruhr-Universität Bochum:  "Wenn ich immer höre, ich gehöre nicht dazu oder du bist kein rechtmäßiges Mitglied unserer Gesellschaft; du denkst zwar, du bist Deutscher, aber eigentlich akzeptieren wir dich nicht als Deutscher, als Deutschen. Dann führt es dazu, dass ich mich verschließe. Dann führt es dazu, dass ich meine Teilhabechancen nicht nutze. Dann führt das dazu, dass ich gar nicht mehr sozusagen mich in der Gesellschaft einbringen möchte. Und ich glaube, das ist ein verheerendes Zeichen, denen konservative und rechte Politiker:innen da aussenden an Menschen mit internationaler Familiengeschichte."

Insgesamt entstand nach Silvester das Gefühl eines außergewöhnlich gewalttätigen Jahreswechsels in Deutschland. Aber stimmt das? Wir haben die Innenministerien aller 16 Bundesländer gefragt. Sie schreiben von einer "insgesamt eher ruhigen Silvesternacht", "überwiegend friedlich" und "ohne herausragende Vorkommnisse". Man sah eine "Vielzahl silvestertypischer Einsatzanlässe" "im Vergleich zu Berlin auf einem deutlich geringeren Niveau". Es gab zwar kritische Situationen in mehreren Städten, teils wurde eine Zunahme der Gewaltintensität beobachtet. Die Debatte hängte sich aber vor allem an den dramatischen Bildern aus Berlin auf. Und solche Schlagzeilen setzten den Ton: "Es reicht!" Politiker schweigen zu gewalttätigen Migranten."

Prof. Menno Baumann, Gewaltforscher, Fliedner-Fachhochschule Düsseldorf:"Da kommt dann natürlich genau diese Bilder an. Die … wir verlieren die Kontrolle über die Ausländer. Und das ist eine ganz problematische Wahrnehmung, dieses, es wird immer alles schlimmer, es wird immer alles gefährlicher. Wir verlieren. Und das spielt natürlich politischen Kräften, die genau darauf setzen. Wählt uns, weil wir schützen euch vor den Ausländern. Solchen politischen Kräften spielt das genau in die Hand."

Und das hat Folgen – auch für die deutsche Wirtschaft. Rund 400.000 ausländische Fachkräfte braucht Deutschland pro Jahr, um dem Arbeitskräftemangel zu begegnen, sagt das arbeitgebernahe Institut der deutschen Wirtschaft. Doch wegen solch aufgeheizter Debatten laufe Deutschland Gefahr, potenzielle Zuwanderer zu verschrecken, sagen Wissenschaftler.

Prof. Karim Fereidooni, Rassismusforscher, Ruhr-Universität Bochum: "Die Debatte führt dazu, dass Menschen, die vielleicht mal überlegen, nach Deutschland zu kommen, sich andere Zielländer suchen, weil sie nicht glauben, dass sie als vollwertige Bürger:innen hier anerkannt werden. Ich glaube, diese Debatte schädigt die … beschädigt sozusagen die Attraktivität des Wirtschaftsstandortes Deutschland."

Enes Erol will bald sein zweites Café in Berlin aufmachen. Und er wünscht sich, dass diese immer gleichen Debatten endlich ein Ende finden.

Georg Restle: "Und nochmal, es geht natürlich nicht darum, Straftaten kleinreden zu wollen. Sondern schlicht darum, die Ursachen solcher Gewaltexzesse vernünftig zu analysieren – und darauf zu verzichten, Millionen Menschen in diesem Land wieder und wieder auszugrenzen."

Startseite Monitor

Kommentare zum Thema

  • Anonym 25.01.2023, 17:07 Uhr

    Ein Messermann hat wieder zugestochen mit 2 Toten im Regionalzug in SHS: Das war bestimmt wieder der dt. Michel ! Man, sind die brutal geworden,;. innerhalb von nur 7,5 Jahren ab Herbst 2015 !

    • Anonym 05.02.2023, 10:25 Uhr

      Dieser Kommentar wurde gesperrt, weil er gegen unsere Netiquette verstößt. (die Redaktion)

    • Anonym 09.02.2023, 21:51 Uhr

      Das hier zu Grunde liegende Problem der Massenmigration aus der3. Welt mit vollig unterschiedlicher Kultur,Werten,Lebenswürfen, Religion , etc. hatte bereits Ex-Kanzler Schmidt klar thematisiert und prblematisiert, noch bis kurz vor seinem Tod u.a. bei "Maischberger und der NZZ. und war deswegen immer ein entschiedener Gegner dieser wahnhaften Entwicklung gewesen, besonders wegen , wie er sich ausgedrückt hatte, der "Unvereinbarkeit der Religionen ! Aber weil die Intelligenz in D bereits seit Jahren keine Chance mehr hat, ist das halt alles totgeschwiegen und ignoriert worden. So ist das eben, wenn es in einem Staat weit mehr Doofe als Schlaue gibt ! Daß das auch weiterhin gilt, zeigt sich auch aktuell, obwohl Kommunalpolitiker sich die Finger wund schreiben und die Ampel zur Umkehr drängen. Daß das Politestablishment die Weisheit mit Löffeln gefressen hat, kann man ja nun nicht gerade behaupten. Jetzt kommt auch noch eine deftige Rezession hinzu, so daß es noch richtig schlimm wird.

  • Markus Rühle 25.01.2023, 11:37 Uhr

    Die sinnlose Endlosdebatte wegen Integration! Wer sich hier integrieren will, kann sich hier problemlos integrieren. Wer sie hier nicht integrieren will, wird zum Problem oder ist es längst. Fahre ich für einige Wochen ins Ausland, weiß ich spätestens nach der ersten Woche, wie der Hase dort im Großen und Ganzen läuft und richte mich danach, will ich mit den Einheimischen in Frieden auskommen. Merz hat nicht Unrecht mit dem Begriff von den "kleinen Paschas". Dass sich diese Jungs in Schulen nichts von Frauen als Lehrerinnen sagen lassen, ist eindeutig die Mitschuld eines Matriarchats, das man sich hier breitzumachen zunehmend zulässt. Frauen wollen zu oft neue Vorschriften machen, halten sich dagegen aber auffallend selten an bereits geltende Vorschriften. Insofern fließt nun schlechtes Wasser zur Quelle zurück. Es scheint betreffend der Silvesterkrawalle 2022/23 auch wieder ums Relativieren zu gehen, indem man bevorzugt Bio(!)-Deutsche unter den Randalierern herauszufiltern versucht.

  • Lothar Schmidt 22.01.2023, 00:28 Uhr

    Zufällig die Sendung gesehen. Mit anderen Worten: Mehr als peinlich, wie man Tatsachen vernichtet. Die Verwahrlosung weiterer Stadtteile, ist somit freigegeben.