MONITOR vom 12.03.2020

Exodus von Pflegekräften: Wie Deutschland Osteuropa ausbluten lässt

Bericht: Golineh Atai, Andreas Maus

Exodus von Pflegekräften: Wie Deutschland Osteuropa ausbluten lässt Monitor 12.03.2020 08:04 Min. UT Verfügbar bis 30.12.2099 Das Erste Von Golineh Atai, Andreas Maus

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Georg Restle: „Aber was droht erst in den Ländern, die über kein vergleichbares Gesundheitssystem verfügen? Wo schwere Corona-Fälle nicht behandelt werden können, weil die Gesundheitsversorgung am Boden liegt – auch weil es nicht ausreichend ausgebildetes Personal gibt.“ Auf dem Balkan zum Beispiel, wo die Bundesregierung gerade alles dafür tut, um ausgebildete Pflegekräfte nach Deutschland zu holen. Was vielleicht gut für Deutschland ist, verschärft dort einen Notstand, der gerade in dieser Zeit schlimme Folgen haben könnte. Golineh Atai und Andreas Maus.“

Deutschland war für sie eine Kopfentscheidung. Sie wollten vernünftig sein, die bessere Zukunft wählen. Die Eltern, die Freunde von Amelia Smajic und Daria Stanojewic blieben zurück in Bosnien. Sie folgten dem Ruf nach Deutschland, entschieden sich für einen Job im Kölner Heilig-Geist-Krankenhaus.

Amelia Smajic, Krankenschwester: „Das ist wirklich, war sehr schwer und traurig. Am Anfang wirklich, wirklich sehr schwer. Aber durch die Zeit haben wir uns dran gewöhnt.“

Mittlerweile kämen nicht nur die Jungen. Auch Ältere – selbst angestellte Kolleginnen über fünfzig – machten sich auf nach Deutschland.

Amelia Smajic, Krankenschwester: „Wenn man das Wort Deutschland sagt, das ist was Großes. Bei viele meine Kollegen und wie gesagt also, haben hier eine Hoffnung.“

290 Pflegekräfte hat das Krankenhaus im Kölner Norden, davon 70 aus dem Ausland. Die meisten aus Bosnien-Herzegowina – Tendenz steigend. Ausländische Pflegekräfte: Die Bundesregierung wirbt massiv um sie. Aber was bedeutet es für die Länder, aus denen sie kommen, die sie ausgebildet haben? Wir fahren auf den Balkan, nach Bosnien-Herzegowina. Ein Netto-Exporteur für Humankapital – wie Experten es nennen – fast jeder zweite hat die Heimat verlassen. 25 Jahre nach dem Krieg ist politische Stabilität ein Wunschtraum. Die Jungen gehen, die Alten bleiben, die Bevölkerung schrumpft rasant. Das Krankenhauszentrum Mostar im Süden des Landes. Menschen drängen sich vor der Aufnahme. Früh haben sie hier gelernt, zu improvisieren – auch weil erfahrenes Personal ins Ausland gegangen ist. Sie ist geblieben, Helena Mandaric, leitende Schwester auf der chirurgischen Station. In manchen Monaten werde es schon eng, sagt sie nach einigen Nachfragen. Vor allem wenn erfahrene Kolleginnen gehen – die durch ganz junge ersetzt werden müssen.

Helena Mandaric, Krankenschwester, Krankenhauszentrum Mostar (Übersetzung Monitor): „In unserer Abteilung weiß ich von vier, fünf, die schon weg sind. Und ich weiß von mehreren, die planen, wegzugehen. Wir haben gerade noch darüber gesprochen, dass darunter viele Kolleginnen mit vielen Jahren Arbeitserfahrung sind.“

In nur zwei Jahren haben 80 Krankenschwestern und etwa 15 Ärzte die Klinik verlassen. Ihr Chef sieht die Kontinuität der Arbeit bedroht.

Ante Kvesic, Krankenhauszentrum Mostar (Übersetzung Monitor): „Das ist ein großes Problem. Die Menschen, die weggehen, sind die besten Fachkräfte, die wir haben, mit bester Ausbildung und Erfahrung. Sie haben ihren Beruf gelernt, gearbeitet. Und dann gehen sie weg. Es wäre gut, wenn Deutschland uns zumindest finanziell helfen würde – und Deutschland würde das nicht viel kosten.“

Der Aderlass von medizinischem Personal trifft ein Land, dessen Gesundheitssystem chronisch unterfinanziert und ohnehin am Limit ist. Von einer Epidemie wie Corona ganz zu schweigen. Auf tausend Patienten kommen in Bosnien gerade einmal 6,3 Krankenpflegekräfte. In Deutschland sind es – trotz Pflegenotstand – mit 13,2 mehr als doppelt so viel. Nicole Kießling kennt die Lage in Bosnien. Die Bremerhavenerin hat eine private Vermittlungsagentur für medizinisches Personal aus dem Ausland. Ausgebildete Pflegekräfte bekommt sie kaum noch in Bosnien.

Nicole Kießling, Personalvermittlungsagentur für Pflegekräfte: „Und von daher ist jetzt im Moment gerade so diese Welle von Pflegehilfskräften. Die werden hier in Deutschland aber tatsächlich auch noch benötigt, das heißt, die haben das nächste Problem. Wir haben nicht nur die Pflegefachkräfte, die wir dem Land entziehen, nein, wir haben auch noch die Pflegehilfskräfte, die wir dem Land entziehen.“

Beheben wir unseren Pflegenotstand also auf Kosten von Ländern wie Bosnien oder Serbien? Gesundheitsminister Jens Spahn widerspricht.

Jens Spahn (CDU), Bundesgesundheitsminister: „Das eine ist die individuelle Entscheidung von Pflegekräften, etwa aus Serbien oder Bosnien-Herzegowina nach Deutschland oder in andere europäische Länder zu gehen. Die  können wir so rum oder so rum ja nicht beeinflussen, das ist ja dann eine freie Entscheidung. Das andere ist, ob es aktive Bemühungen seitens der Bundesregierung gibt in den jeweiligen Ländern. Und das ist in Serbien und Bosnien nicht der Fall.“

Keine aktiven Bemühungen seitens der Bundesregierung? Tatsächlich gibt es ein staatliches Programm zur Gewinnung von ausländischen Pflegekräften, auch in Bosnien. Triple Win – ein Projekt der Bundesagentur für Arbeit und der Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit. Über 3.000 Pflegekräfte kamen in den letzten Jahren so nach Deutschland. Davon viele aus Bosnien und Serbien. Triple Win verspricht, dass alle Seiten gewinnen. Pflegekräfte sollen nur in Ländern geworben werden,

Zitat: „… die einen Überschuss an gut ausgebildeten Pflegekräften aufweisen.“

Aber gewinnen wirklich alle Seiten? Auch in Bosnien?

Helena Mandaric, Krankenschwester, Krankenhauszentrum Mostar (Übersetzung Monitor): „Ich denke nicht, dass wir profitieren. Die Familien die nach Deutschland gehen ja, die führen da ein normales Leben. Aber wir prosperieren hier nicht, wenn sie weggehen.“

Mehr als 14.000 medizinische Fachkräfte aus Bosnien arbeiten bereits in Deutschland. Aus dem Nachbarland Serbien sind es mehr als 8.000. Aus dem kleinen Kosovo schon über 2.700. Hier im Kosovo will der Bundesgesundheitsminister – wörtlich – „jungen Menschen eine Perspektive geben, die ansonsten mal arbeitslos werden“. Die Bevölkerung sei ja im Schnitt sehr jung, heißt es. Doch der Kosovo verliert langsam seine junge Generation. Und: obwohl es arbeitslose Ärzte und Pflegekräfte gibt, ist die Bevölkerung medizinisch unterversorgt. Weil es an Geld fehlt – für ambulante und stationäre Versorgung. Ausgerechnet die, die man am dringendsten braucht, würden jetzt aus Deutschland abgeworben, kritisiert der Pflegerverband.

Naser Rrustemaj, Krankenpflegerverband Kosovo (Übersetzung Monitor): „Das Beunruhigendste für uns ist, dass wir (Krankenschwestern) verlieren, die in zentralen Stellen arbeiten, wie der Notfall- und Intensivpflege usw. Man weiß, wie viel Zeit eine Krankenschwester braucht, um ihre Fachausbildung abzuschließen und eine Berufserfahrung von 10 oder 15 Jahren zu haben.“

Auf Kosten schwacher, mangelversorgter Gesundheitssysteme den Pflegenotstand in Deutschland beheben – ist das wirklich die richtige Strategie?

Johanna Knüppel, Deutscher Berufsverband für Pflegeberufe: „Man muss sogar befürchten, dass mit jedem, der aus dem Ausland tatsächlich angeworben wird und eine Weile bleibt, der Druck genommen wird im eigenen Land die Hausaufgaben zu machen und die Arbeitsbedingungen zu verbessern, denn hier sind die Arbeitsbedingungen, die die Deutschen Pflegefachkräfte aus ihrem Beruf und von den Arbeitsplätzen wegtreiben.“

Doch weil in den Heimatländern die Bedingungen noch schlechter sind, werden weiter tausende Pflegekräfte vom Balkan nach Deutschland kommen. Ein Stück Europa blutet aus – zur Bekämpfung unseres Pflegenotstands.

Georg Restle: „Man mag sich kaum vorstellen, welche Folgen Covic-19 gerade in solchen Ländern haben wird. Aber vielleicht ist das ja auch mal ein Anlass, darüber nachzudenken, wie solidarisch wir in dieser Krise miteinander umgehen – nicht nur hier in Deutschland.“

Kommentare zum Thema

  • H.M. 22.03.2020, 19:27 Uhr

    Liebe Monitormitarbeiter, um den Ärztenachwuchs zu sichern,forderte Montgomery, Vors. der Bundesärztekammer, schon 2015 eine Erhöhung der Medizinstudienplätze um 10% . Gibt eine ähnliche Problemlage im Ausbildungsbereich der mittleren medizinischen Kräfte in Deutschland? Außerdem müssen einige Schüler für ihre Ausbildung bezahlen! Zustände wie 1900. Es wäre doch interessant zu untersuchen, wie hat sich die Ausbildungskapazität von mittleren medizinischen Personal entwickelt? getrennt nach Berufen (mit den alten Bezeichnungen) Krankenpflege, Altenpflege, Kinderkrankenpflege, Hebammen, Physiotherapeuten, Diätassistenten, Laborassistenten u.a Wie viele Schulplätze gibt es heute im Vergleich zum neu vereinigten Deutschland 1990? (also BRD/DDR zusammengezählt) Wie hat sich die Anzahl und der prozentuale Anteil kostenloser und andererseits schulgeldpflichtiger Plätze seit 1990 entwickelt, wo möglich getrennt nach alten und neuen Bundesländern?

  • Person aus Mostar 18.03.2020, 11:45 Uhr

    Genau 4 Tage nach der Ausstrahlung haben wir den ersten Fall in Mostar. Die Person wurde über Beziehungen in die Lungen-abteilung verlegt und hatte verschwiegen das Sie in Italien war. Somit ist das ganze Krankenhaus kontaminiert.

  • Ralf Henske 13.03.2020, 22:32 Uhr

    MONITOR vom 26.07.2018 Pflegenotstand absurd: kein Bleiberecht für ausländische Pflegekräfte: "Ausgebildete Pflegekräfte, die in ihren Einrichtungen dringend gebraucht werden, müssen damit rechnen, jederzeit in ihre Herkunftsländer abgeschoben zu werden. Auch in Länder, aus denen sie dann wieder angeworben werden." - https://www1.wdr.de/daserste/monitor/sendungen/pflegekraefte-106.html -- Monitor vom 19.09.2019 Pflegenotstand absurd: Wie Flüchtlinge vom Arbeitsmarkt ferngehalten werden: Der Gesundheitsminister im Einsatz gegen den Pflegenotstand: "Jens Spahn auf Welttournee, um Pflegekräfte nach Deutschland zu holen. Hier im Kosovo, und heute schon in Mexiko." - https://www1.wdr.de/daserste/monitor/sendungen/pflegenotstand-124.html - 2018, 2019 und jetzt 2020, die tollste Serie über einen gesundheitsminister beim absurden Handeln. Freu mich schon auf Teil 4 im nächsten Jahr.