MONITOR vom 15.10.2015

Luftschläge auf Krankenhaus in Kundus: Vertuschung eines Kriegsverbrechens?

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Bericht: Philipp Jahn, Markus Zeidler, Andreas Maus

Luftschläge auf Krankenhaus in Kundus: Vertuschung eines Kriegsverbrechens? Monitor 15.10.2015 08:43 Min. Verfügbar bis 15.10.2099 Das Erste

Georg Restle: „Und jetzt zum Angriff der US-Luftwaffe auf das Krankenhaus in der afghanischen Stadt Kundus. Die Stadt, in der vor kurzem noch die Bundeswehr stationiert war. Für Ärzte, Pfleger und Patienten muss die Nacht zum 3. Oktober ein wahrer Alptraum gewesen sein. Dauerbeschuss aus der Luft. Ein OP-Saal in Flammen; Patienten, die am lebendigen Leib in der Intensivstation verbrennen. US-Präsident Obama behauptet bis heute, es habe sich bei dem Angriff um ein Versehen gehandelt. Keinesfalls habe man das Krankenhaus gezielt beschossen. Doch an dieser Version gibt es jetzt erhebliche Zweifel, wie unsere Recherchen vor Ort belegen. Philipp Jahn und Markus Zeidler.“

Nur diese Fotos sind ihm geblieben von seinen Arbeitskollegen und Freunden. Sie sind tot. Hashmatullah war Krankenpfleger im Krankenhaus von Ärzte ohne Grenzen in Kundus - und er war dabei in dieser Nacht vom 2. auf den 3. Oktober.

Hashmatullah, Krankenpfleger Ärzte ohne Grenzen (Übersetzung Monitor): „Es war halb drei und wir waren mit Patienten beschäftigt. Auf einmal wurde es sehr laut. Das ganze Krankenhaus hat gebebt.“

Fast 200 Menschen sind im Krankenhaus, als die ersten Geschosse einschlagen, darunter 80 Mitarbeiter von Ärzte ohne Grenzen, und auch viele Kinder. Der Strom fällt aus und binnen weniger Minuten brennt das ganze Hauptgebäude, in dem sich Intensivstation, Notaufnahme und Physiotherapie befinden. Patienten verbrennen in ihren Betten.

Hashmatullah, Krankenpfleger Ärzte ohne Grenzen (Übersetzung Monitor): „Einer rief, meine Hand ist ab! Ein anderer, mein Körper ist verbrannt! Ein anderer, mein Fuß ist ab! Alle schrien um Hilfe. Ein Arzt schaute aus dem Fenster, sein Körper war verbrannt. Er rief mir zu, Hashmat, rette mich! Aber es wurde immer noch geschossen und wir konnten nicht raus, um ihm nicht helfen.“

14 Mitarbeiter und zehn Patienten sterben. Hashmatullah und seine Kollegen suchen Schutz in der Kantine, erst Stunden später wagen sie sich nach draußen. Dort finden sie viele Verletzte, versorgen sie in hastig eingerichteten Operationsräumen.

Hashmatullah, Krankenpfleger Ärzte ohne Grenzen (Übersetzung Monitor): „Ich hatte keine Hoffnung mehr, da lebend raus zu kommen. Ich habe meinen Vater angerufen und ihm gesagt: Wenn ich in meinem Leben irgendeinen Fehler gemacht habe, dann bitte vergib mir!“

Was ist passiert in der Nacht vom 2. auf den 3. Oktober in Kundus? Der Versuch einer Rekonstruktion. Über der Stadt kreist ein US-Flugzeug wie dieses vom Typ AC-130, das oft Bodenoperationen aus der Luft unterstützt. Um 2:08 Uhr feuert es die ersten Geschosse auf das Krankenhaus. Ärzte ohne Grenzen schlägt sofort Alarm, beim afghanischen und beim US-Militär. Doch das Flugzeug kehrt mehrfach zurück, feuert immer wieder auf das Krankenhaus, immer wieder auf das Hauptgebäude. Erst nach mehr als einer Stunde ist der Horror endlich vorbei. Wie konnte es passieren, dass ausgerechnet ein Krankenhaus Ziel eines amerikanischen Luftangriffs wurde? In den Tagen danach liefert das US-Militär fast jeden Tag eine andere Erklärung. Zunächst heißt es, US-Soldaten seien selbst unter Feuer geraten. Später dann, dass afghanische Soldaten beschossen worden seien und um Hilfe gebeten hätten.

General John F. Campbell (6.10.2015), Befehlshaber U.S. Forces Afghanistan (Übersetzung Monitor): „Am Samstagmorgen leisteten unsere Streitkräfte Luftunterstützung für afghanische Truppen auf deren Bitte hin. Um es klar zu sagen: Die Entscheidung dafür war eine US-Entscheidung innerhalb der US-Befehlskette. Ein Krankenhaus wurde irrtümlicherweise getroffen.“

So sehr sich die Erklärungsversuche der US-Militärs über die Tage verändert haben, eines blieb gleich: Die Angriffe hätten in der Nähe („nearby“)des Krankenhauses stattgefunden, in dessen Umgebung („in vicinity“), es sei nur versehentlich getroffen worden („accidentially“), irrtümlicherweise („mistakenly“). Das widerspricht dem, was Augenzeugen von Ärzte ohne Grenzen in dieser Nacht erlebt haben.

Florian Westphal, Geschäftsführer Ärzte ohne Grenzen Deutschland: „Was wir vor Ort gesehen haben und was unsere Mitarbeiter von vor Ort berichtet haben, deutet wirklich klar darauf hin, dass gezielt das Hauptgebäude des Krankenhauses angegriffen wurde. Also dass es nicht so war, dass man auf ein anderes, nahegelegenes Ziel fokussiert hätte und sich geirrt hätte.“

Wiederholte präzise Angriffe, mehr als eine Stunde lang - wie kann das sein? Die Koordinaten des Krankenhauses waren bekannt, immer wieder hatte Ärzte ohne Grenzen sie an afghanische und amerikanische Militärs übermittelt - zuletzt vier Tage vor dem Angriff. Völkerrechtlich ein klarer Fall?

Prof. Michael Bothe, Völkerrechtler: „Zunächst einmal ist dieser Angriff eine Rechtsverletzung, eine Völkerrechtsverletzung. Es ist aber sicherlich interessant zu wissen, ob das auch ein Kriegsverbrechen war. Das setzt voraus, dass hier absichtlich gehandelt wurde und dazu muss man dann wissen, wer warum diesen Befehl gegeben hat.“

Wurde das Krankenhaus tatsächlich absichtlich angegriffen? Dafür spricht, dass nur das Hauptgebäude zerstört wurde, es an umliegenden Gebäuden so gut wie keine Schäden gibt. Und dafür spricht auch die Darstellung der afghanischen Regierung am Morgen danach.

Sediq Sediqi, Sprecher Innenministerium Afghanistan (Übersetzung Monitor): „Zehn bis 15 Taliban hatten sich in dem Krankenhaus versteckt, als es angegriffen wurde. Die Terroristen wurden alle getötet.“

Taliban, die sich im Krankenhaus versteckt hielten - an dieser Version gibt es jetzt erhebliche Zweifel. Krankenpfleger Hashmatullah erzählt uns den Verlauf der Nacht ganz anders.

Hashmatullah, Krankenpfleger Ärzte ohne Grenzen (Übersetzung Monitor): „Um 23:00 Uhr wurde ein Verletzter von den Taliban eingeliefert. Er hat geblutet. Nachdem wir ihn versorgt hatten, haben sie ihn wieder mitgenommen. Die Taliban wollten ihre Kämpfer sowieso nie bei uns lassen. Als dann der Luftangriff begann, waren keine Taliban mehr im Krankenhaus.“

Reporter (Übersetzung Monitor): „Haben Sie überhaupt einmal bewaffnete Taliban im Krankenhaus gesehen?“

Hashmatullah, Krankenpfleger Ärzte ohne Grenzen (Übersetzung Monitor): „Jeder, der in das Krankenhaus kam, musste vorher seine Waffen abgeben. Nein, ich habe noch nie einen Bewaffneten in diesem Krankenhaus gesehen.“

Obwohl also laut Augenzeugen keine Bewaffneten im Krankenhaus waren, wurde es offenbar gezielt beschossen. Um vermeintliche Taliban dort auszuschalten? Wenn es so war, dann wäre das ein Kriegsverbrechen.

Prof. Michael Bothe, Völkerrechtler: „Krankenhäuser sind durch die Genfer Konvention geschützt, sie dürfen nicht angegriffen werden. Auf Verwundete und Kranke, die sich in einem Krankenhaus befinden, schießt man nicht, obwohl die wieder gesund werden könnten und dann wieder an den Kämpfen teilnehmen. Also die einfache Gegenwart von Kämpfern in dem Krankenhaus schließt diesen Schutz nicht aus.“

Wurde das Krankenhaus zum Ziel, weil es unabhängig war und auch Taliban-Kämpfer behandelte? Haben die US-Militärs den Afghanen zu blind vertraut? Hätten sie es besser wissen müssen? Viele offene Fragen. Die USA wollen die Ereignisse nur intern untersuchen lassen. Ärzte ohne Grenzen reicht das nicht und will, dass eine unabhängige internationale Kommission den Fall untersucht.

Joanne Liu, Internationale Präsidentin Ärzte ohne Grenzen (Übersetzung Monitor): „Wir können uns nicht auf interne Militär-Untersuchungen von US-, NATO- und afghanischen Streitkräften verlassen. Wir streben eine Untersuchung des Angriffs von Kundus durch die Internationale Humanitäre Ermittlungskommission an.

Florian Westphal, Geschäftsführer Ärzte ohne Grenzen Deutschland: „Wir erwarten ganz klar von der deutschen Bundesregierung, dass sie sich dafür einsetzt, dass diese Kommission aktiviert wird, dass sie sich dafür einsetzt, dass diese Kommission ihre Arbeit in unabhängiger und unparteilicher Weise aufnehmen kann.“

Doch dafür sieht die Bundesregierung im Moment keinen Anlass. Sie setzt darauf, dass die bereits laufende Untersuchung:

Zitat: „…gründlich, objektiv und transparent durchgeführt wird.“ (Auswärtiges Amt, 15.10.2015)

Der Krankenpfleger Hashmatullah hatte Glück, ihn hat in dieser Nacht nur ein Bombensplitter am linken Bein getroffen.

Hashmatullah, Krankenpfleger Ärzte ohne Grenzen (Übersetzung Monitor): „Wir hätten nie gedacht, dass unser Krankenhaus bombardiert werden könnte, weder von der Regierung noch von den Taliban. Weil das Krankenhaus von Ärzte ohne Grenzen war und auf keiner Seite stand. Unser Ziel war es doch nur, den Verletzten zu helfen.

Jetzt kann den Verletzten in Kundus keiner mehr helfen. Das Krankenhaus von Ärzte ohne Grenzen gibt es nicht mehr.

Georg Restle: „Heute hat US-Präsident Obama beschlossen, den Rückzug der US-Armee aufzuschieben. Damit dürften auch hunderte Bundeswehrsoldaten noch länger in Afghanistan bleiben. Ob das dem Land wirklich Frieden bringt, daran darf - auch wegen der Ereignisse in Kundus - mit Recht gezweifelt werden.“

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