MONITOR vom 30.07.2020

Schattenwelten: Wie Arbeiter aus Osteuropa mit Werkverträgen ausgebeutet werden

Bericht: Jan Schmitt, Aiko Kempen, Leon Kaschel

Schattenwelten: Wie Arbeiter aus Osteuropa mit Werkverträgen ausgebeutet werden Monitor 30.07.2020 09:38 Min. Verfügbar bis 30.07.2099 Das Erste Von Jan Schmitt, Aiko Kempen, Leon Kaschel

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Georg Restle: „Aber wer interessiert sich schon wirklich für die Situation osteuropäischer Arbeiter und Arbeiterinnen, die hier seit vielen Jahren für uns die Drecksarbeit machen – zu miesesten Löhnen, unter sklavenähnlichen Bedingungen und in erbärmlichen Unterkünften. Nicht nur in Schlachtbetrieben, sondern auch in der Landwirtschaft, in der ambulanten Pflege oder bei der Paketzustellung. Die meisten von ihnen wehren sich nicht dagegen, weil sie die Sprache nicht beherrschen, weil sie von ihren Arbeitgebern unter Druck gesetzt werden und weil sie selbst auf das wenige Geld dringend angewiesen sind. Seit vielen Jahren geht das so, ohne dass sich daran irgendetwas ändert. Jetzt soll sich daran etwas ändern, hat Bundesarbeitsminister Heil versprochen und einen Gesetzentwurf vorgelegt. Ob der auch wirklich was verändert, haben sich Jan Schmitt, Aiko Kempen und Leon Kaschel genauer angeschaut.“

Nistor Nicoara zeigt uns die Unterkunft, in der er mit seinem Sohn seit zwei Monaten lebt. Gekommen sind sie aus Rumänien, um als Lkw-Fahrer und Bauhelfer hier zu arbeiten. Und das haben sie auch, 50 Stunden pro Woche seit Ende Mai. Der Lohn wurde im Vertrag vorher festgehalten.

Reporter: „2.800,- Euro.“

Arbeiter (Übersetzung Monitor): „Ja.“

Reporter: „Haben Sie 2.800,- Euro bekommen?“

Arbeiter (Übersetzung Monitor): „Nein, ist zero Konto.“

Null, nichts auf dem Konto nach fast zwei Monaten Arbeit und krankenversichert wurden sie auch nicht. Sie haben sich Hilfe gesucht bei Catalina Guia vom Verein „Arbeit und Leben“, die sich um Fälle wie diesen kümmert.

Reporter: „Setzen die Firmen dadrauf, dass die Leute dann … die werden schon nicht klagen?“

Catalina Guia, Arbeit und Leben NRW e. V.: „Ja ja, genau, das ist der Muster, das ist die Konstellation. Sie sind sicher, dass die Menschen nicht mächtig sind in der Sprache. Dass sie sich nicht gut organisieren können, sogar gewerkschaftlich, weil sie keine Zeit dafür haben. Und sie können sich kaum Hilfe holen.“

Die Nicoaras haben für Nokia Glasfaserkabel verlegt, angestellt waren sie aber bei einem Subunternehmen. Vor zehn Tagen fragten sie nach, warum sie keinen Lohn bekommen. Die Antwort des Unternehmens kam prompt, per WhatsApp-Nachricht:

WhatsApp-Nachricht: „Ich bitte Sie, am Mittwoch die Unterkunft zu verlassen. Ab Mittwoch werde ich Ihren Arbeitsvertrag auflösen.”

Reporter: „Wissen Sie, wo Sie hingehen, wo Sie schlafen?“

Nistor Nicoara: „Wo, weiß nicht. In Auto, in Straße, habe nicht Geld für gehen nach Haus.“

Gekündigt? Ohne Grund? Wir fragen nach. Das Subunternehmen antwortet über einen Rechtsanwalt. Man dürfe aus datenschutzrechtlichen Gründen

Zitat: „keine Angaben über die Beschäftigungsverhältnisse …”

der Mitarbeiter machen. Man halte sich aber stets

Zitat: „an die gesetzlichen und tariflichen Bestimmungen …“

Das Subunternehmen erfüllt für Nokia Arbeiten mithilfe eines sogenannten Werkvertrags. Dabei beauftragt ein Unternehmen ein Subunternehmen, das sich über einen Vertrag verpflichtet, ein Werk, also eine genau bestimmte Arbeitsleistung zu erbringen. Das Subunternehmen beauftragt dann ein weiteres Subunternehmen oder stellt direkt Arbeitnehmer für die Arbeiten ein. Unter solchen Konstruktionen leiden in Deutschland Hunderttausende Arbeitnehmer vor allem aus Osteuropa, insbesondere in Branchen, wie Logistik, Bau, der Fleischindustrie oder der Pflege. Damit lassen sich Tarifverträge umgehen und Verstöße gegen das Arbeitsrecht verschleiern, sagen Experten.

Prof. Dr. Christiane Brors, Carl von Ossietzki Universität Oldenburg: „Arbeitgeber spielen mit der Arbeitszeit, lassen Arbeitnehmer viel, viel länger arbeiten und das Arbeitszeitgesetz wird nicht beachtet, die Ruhepausen werden nicht eingehalten. So kommt es zu den menschenunwürdigen Arbeitsbedingungen und niemand geht dagegen vor.“

Er will nun dagegen vorgehen. Bundesarbeitsminister Heil verspricht…

Hubertus Heil, Bundesminister für Arbeit und Soziales, 02.07.2020: „Es ist nämlich tatsächlich eine Schande, dass Menschen aus Mittel- und Osteuropa, aus Bulgarien und Rumänien, in dieser reichen Gesellschaft ausgebeutet werden! Das werden wir beenden an dieser Stelle.“

Anlass für die plötzliche Eile, die Corona-Infektionen bei Tönnies. Auch die Menschen, die hier Fleisch zerlegen, arbeiten oft für Subunternehmen über Werkverträge. Ihr Verdienst liegt meist deutlich unter dem vorgeschriebenen Mindestlohn. Nun haben sie sich reihenweise infiziert und gefährden damit auch die einheimische Bevölkerung. Auch deswegen legt Arbeitsminister Heil nun einen Gesetzentwurf vor. Es geht darin um Werkverträge, elektronische Arbeitszeiterfassung, Arbeitsschutzkontrolle und Unterkünfte. Aber was bringt der Gesetzentwurf wirklich? Werkverträge sollen verboten werden, jedoch nur in der Fleischindustrie. Aber ändern sich dadurch auch die Konditionen, zu denen osteuropäische Arbeitnehmer hier arbeiten müssen?

Prof. Stefan Sell, Hochschule Koblenz: „Der Gesetzentwurf des Bundesarbeitsministers gibt eine nur sehr eingeschränkte Antwort für den Bereich der Fleischindustrie, ohne dort wirklich die originären Probleme lösen zu können. Und das ist die hundsmiserable niedrige Bezahlung und das ist der Missbrauch der totalen ungleichgewichtigen Lage der Arbeitnehmer.“

Und für andere Billiglohn-Branchen ändert dieses Verbot gar nichts. Die Arbeitszeiterfassung soll zukünftig elektronisch sein. Ein richtiger Schritt, aber wieder nur für die Fleischbranche. Und um das zu überprüfen, braucht man Arbeitsschutzkontrollen. Das Problem bisher, weder Arbeitszeiten noch Arbeitsschutz werden angemessen kontrolliert. Stand 2007 wurden Betriebe noch durchschnittlich alle 10,5 Jahre kontrolliert. Im Jahr 2018 nur noch alle 25 Jahre. Ein Vierteljahrhundert – da lässt sich vieles verbergen. Was soll sich daran mit dem Gesetz ändern? Tatsächlich soll der Arbeitsschutz in allen Branchen nun öfter kontrolliert werden: zukünftig „fünf Prozent“ der Betriebe jährlich. Durchschnittlich also alle 20 statt bisher alle 25 Jahre. Das aber erst ab „… 2026 …“.

Prof. Stefan Sell, Hochschule Koblenz: „Es reicht nicht, sozusagen eine allgemeine wolkige Zielbestimmung in ein Gesetz zu schreiben, in ein paar Jahren sollen mal 5 % aller Betriebe jedes Jahr kontrolliert werden. Sie müssten sagen, es gibt bestimmte Risikobranchen und dort gibt es auch viele schwarze Schafe unter den Arbeitgebern. Und dort wird massiv auch mehrmals im Jahr unangemeldet kontrolliert.“

Und dann noch die Unterkünfte. Zukünftig sollen Unternehmen dokumentieren, wo Menschen in Sammelunterkünften untergebracht sind. Und die Unterkunft soll „angemessen“ sein. Angemessen heißt dann aber nur Wohn-, Schlaf-, Wasch- und Kochmöglichkeit. Wucherpreise dafür wären aber weiter erlaubt. Wie das aussieht, hat Clara Stoica in München erlebt. Sie ist mit einem Rezept vom Arzt auf dem Weg in die Apotheke. Sie ist krankgeschrieben, aber die Zuzahlung für die Medikamente kann sie sich nicht leisten.

Clara Stoica (Übersetzung Monitor): „15,- Euro hab ich nicht. Das für mich sehr teuer.“

Clara Stoica kam vor drei Monaten aus Rumänien nach Deutschland. Zuletzt hat sie bis zu 60 Stunden pro Woche über ein Subunternehmen für Amazon Pakete verteilt, mit einem Transporter von diesem Verteilzentrum aus. Amazon, das in der Corona-Krise Milliardengewinne gemacht hat. Clara Stoica wohnt im ersten Stock dieses heruntergekommenen Hauses. Bis zu 15 Arbeiter leben hier, Bett an Bett. Jeder einzelne zahlt dafür etwa 350,- Euro im Monat, insgesamt Tausende. An solch überhöhten Mieten ändert das Gesetz – nichts. Bei den Mietern hier zahlt das Subunternehmen die Miete an einen Geschäftspartner und zieht sie dann vom Lohn ab. So kam es für Clara Stoica im Juni sogar zu einem negativen Verdienst. Auf ihrer Abrechnung steht: minus 192,65 Euro.

Clara Stoica (Übersetzung Monitor): „Ich habe zwei Monate gearbeitet und noch nicht mal Geld für eine S-Bahn-Karte. Das ist ziemlich … tragisch. Wie soll man sich da fühlen?“

Als sie sich krank meldete, wurde ihr umgehend von dem Subunternehmen gekündigt.

Clara Stoica (Übersetzung Monitor): „Ich hätte so etwas nie erwartet. Ich bin in Deutschland, das perfekte und gerechte Land, dachte ich immer. Und habe erwartet, dass alles auch perfekt funktioniert, bei der Arbeit, in Recht und Verwaltung. Aber das ist einfach nicht wahr, gar nicht.“

Das Subunternehmen bestätigt die Abrechnung. Zur Kündigung heißt es, die Krankheit von Frau Stoica sei nur vorgeschoben, angebliche Rezepte unglaubwürdig, man hätte ihr wegen Arbeitsverweigerung gekündigt. Das geplante Gesetz würde weder ihr noch Nistor und Alex Nicoara irgendetwas bringen. Sie mussten Arbeitsstelle und Unterkunft verlassen. Immerhin, einen Tag, nachdem wir das Subunternehmen über unsere Berichterstattung informiert hatten, hat es die erste Rate des Lohns dann doch noch überwiesen. Vater und Sohn sind jetzt wieder zurück in Rumänien.

Georg Restle: „Das perfekte und gerechte Land. Hunderttausende arbeiten in Deutschland unter solch unerträglichen Bedingungen, als hätte es nie Gewerkschaften gegeben, niemals Arbeitnehmerrechte oder nie eine SPD. Vielleicht erinnert sich die Partei mal wieder daran. Könnte ja ein Erfolgsrezept sein.“

Kommentare zum Thema

  • Gerald Wilfried 18.08.2020, 00:03 Uhr

    OHA-Krokodilstränen der Mit-Wisser,System-Tolerierer und Papiertiger-Mahner.Sklaven müssen nicht mehr per alter Seelenverkäufer zu Vermarktung geschifft werden-heute eigenen sich platzsparende Container optimal zum grenzenlosen Antransport.Von Profitängsten gepeinigte „Unternehmer“aus Wirtschaft und Rotlicht gieren nach reibungslosen Nachschub.Denn,wer verbraucht ist-landet wo? Hatten wir so was ähnliches nicht schon mal?Ja,früher hatte nie jemand von was gewusst – jetzt wissen´s alle,aber niemand ist für Tabularasa.Der eigene Sessel immer noch bequemer.Regime schätzen Loyalitäten ihrer Untertanen.Mut für dringend notwendige gesellschaftspolitische Neuausrichtung würde die profanen Eckpfeiler wie Auslandsurlaube,Privatbesitze,Prestige und Karriere der „Gutmenschen“gefährden.Der spießbürgerliche Zeigefinger dieser“Kultur“darf aber oberlehrerhaft wackeln:“Ich war schon immer dafür, dagegen zu sein“.Bundesdeutsche Intelligenz alá BRD pur!

  • Volker 12.08.2020, 01:47 Uhr

    Es gibt hierzulande eine Reihe „alteingesessene ehrwürdige“ Unternehmen, die Menschen nach Strich und Faden betrügen. Da macht es keinen Unterschied ob man gut oder schlecht deutsch spricht. Ich selbst hatte in einer solchen Klitsche einige Jahre gearbeitet und erlebt wie schlecht Mitarbeiter behandelt und das Arbeitsschutzgesetz mit Füßen getreten wurde. Der Chef schreckte auch nicht vor einer Urkundenfälschung zurück, als einmal die Gewerbeaufsicht die Arbeitszeiten sehen wollte. Jeder wußte davon aber keiner wehrte sich. Insofern halte ich die geplanten Änderungen zum Verbot von Werksverträgen in der Fleischindustrie für reinen Aktionismus und Augenwischerei der mit allen legalen und illegalen Tricks umgangen werden wird. Bezeichnend ist auch, dass die Politik ja schon sehr lange über die Zustände bescheid weiß und sich erst durch eine „allgemeine gesundheitliche Gefährdung“ zum Handeln genötigt fühlt. Zudem sind Behörden die das kontrollieren könnten. chronisch unterbesetzt.

  • Gerhard Brandes 04.08.2020, 19:08 Uhr

    Der Bericht ist erschütternd! Das alles verstößt gegen die Menschenrechte und gegen das Grundgesetz - Diese "Politik" der Unternehmen wird unsere Gesellschaft und unser Land ruinieren! - Unsere "Volksvertreter" betreiben ihre eigene Interessenvertretung. Das ist eine Schande für Deutschland.