MONITOR vom 06.10.2022

Krisenpolitik: Der Abstieg der Mittelschicht

Bericht: Jan Schmitt, Andreas Maus, Lutz Polanz

Krisenpolitik: Der Abstieg der Mittelschicht Monitor 06.10.2022 08:52 Min. UT Verfügbar bis 30.12.2099 Das Erste Von Jan Schmitt, Andreas Maus, Lutz Polanz

Georg Restle: "Eine glückliche Familie und ihr Traum vom Eigenheim. Gut möglich, dass solche Werbefotos bald eingestampft werden müssen, denn immer weniger Familien aus der Mittelschicht werden sich künftig überhaupt noch eine Immobilie leisten können. Das hat viel mit einer Krise zu tun, die den Graben in unserer Gesellschaft weiter vergrößert, vor allem zwischen denen, die Vermögen haben und denen, die von ihrem Arbeitseinkommen leben müssen. Wer darauf angewiesen ist, sein Leben allein mit seinem Lohn oder Gehalt zu finanzieren, den trifft die aktuelle Krise jetzt mit voller Wucht. Die rasant steigende Inflation reißt hier tiefe Löcher ins Budget. Und das hat jede Menge mit einer chronisch ungerechten Politik zu tun, die die Einkommen stark belastet und die Vermögen der Reichsten schont. Jan Schmitt, Andreas Maus und Lutz Polanz."

Die Besser/Wolfs sind eine ganz normale Familie. Sie gehören zur Mittelschicht. Zwei Einkommen, gemeinsam fast 4.000 Euro netto. Sie haben zwei Kinder, das dritte ist unterwegs. Vor einem Jahr sind sie aufs Land gezogen, weil sie die hohen Mieten in der Stadt nicht mehr zahlen konnten. Vermögen haben sie nicht, und kaum Geld gespart.

Christoph Besser: "Wir sind komplett darauf angewiesen, dass unsere Hände und Köpfe arbeiten, die eben ein Geld uns auf die Konten bringen. Und bei vielen oder bei einigen anderen Menschen ist das halt nicht so, die einfach sagen können, jo, egal ob ich jetzt arbeiten gehe oder nicht, ich habe genug auf der hohen Kante, das ist jetzt egal. Für uns ist es nicht egal. Für uns ist es existenziell, dass wir genügend Geld bekommen, damit wir auch unsere Familie durchbringen können. Und dass … da sind wir ja noch in der etwas privilegierten Situation als ganz viel andere Menschen in der Gesellschaft."

Und nun die Krise. Energiekosten und Inflation treffen sie so hart, dass es unmittelbar an die Substanz geht. Vorher konnten sie noch 300 Euro pro Monat zurücklegen, das ist jetzt nicht mehr drin.

Christoph Besser: "Bei vielen Dingen können wir eben nicht mehr so … nicht mehr groß sparen. Also unser Stromverbrauch ist schon, ja ..."

Miriam Wolf: "...unterdurchschnittlich."

Christoph Besser: "Weit unterdurchschnittlich. Also da … da bringt das jetzt nicht mehr viel. Ähm, da könnte man höchstens tatsächlich beim Essen noch was sparen – so traurig das auch ist."

So geht es vielen in der Mittelschicht. Einer aktuellen Schätzung zufolge mussten vor einem Jahr nur 15 Prozent der Menschen ihr gesamtes monatliches Einkommen zur Lebenshaltung aufwenden. Dieses Jahr werden es bis zu 60 Prozent sein, bei denen am Monatsende nichts mehr übrig bleibt.

Ellen Ehmke, Robert Bosch Stiftung: "Das heißt, wir haben eine Vervierfachung der Menschen, die ihr gesamtes Einkommen im Moment jetzt schon – also bevor diese ganz hohen Gasrechnungen da sind – aufbrauchen für das, was sie im Monat zum Leben brauchen."

Ganz anders sieht es bei denen aus, die auch in der Krise auf teils riesige und steigende Vermögen zurückgreifen können. Insgesamt gibt es in Deutschland über 15,75 Billionen Euro Privatvermögen. Aber das Geld ist extrem ungleich verteilt. Den reichsten 20 Prozent gehören 80 Prozent des gesamten Vermögens. Die ärmsten 40 Prozent haben gar nichts, und 60 bis 70 Prozent fast nichts. Darunter viele Menschen aus der Mittelschicht, die jeden Tag arbeiten gehen, aber kein Vermögen haben.

Ellen Ehmke, Robert Bosch Stiftung: "Also, es gibt einfach eine extreme Ungleichverteilung dieses Vermögens, indem die Reichs … das reichste Prozent oder dann die Allerreichsten, also die, die Milliardäre und die Millionäre, die Deutschland haben – in den letzten Jahren wahnsinnige Gewinne gemacht haben, ihre Vermögen vergrößern konnten, auch in der Krise ihre Vermögen vergrößern konnten. Und demgegenüber steht eben ein großer Teil der Gesellschaft – nicht nur die Ärmsten, sondern die unteren 50, 60, 70 Prozent – die immer mehr Geld ausgeben müssen für den … für Kosten des täglichen Bedarfs."

Sein Vermögen hat sich vergrößert, ohne viel Zutun. Antonis Schwarz wird hunderte Millionen Euro erben. Aber er will einen Großteil davon der Gesellschaft zurückgeben, weil er findet, Arbeit würde viel zu hoch und Vermögen viel zu gering besteuert.

Antonis Schwarz: "Und das ist … das ist eben sozialer Sprengstoff und so kann es auch langfristig nicht weitergehen. Und deswegen ist es eigentlich für mich jetzt ganz wichtig, dass endlich mal auch ein bisschen symbolisch, vielleicht kann man schon sagen, die Reichen auch mitsteuert werden, ja."

Tatsächlich werden Einkommen in Deutschland im Verhältnis viel höher besteuert als Vermögen. Eine Umverteilung wäre gerade jetzt dringend nötig, sagen Experten.

Prof. Marcel Fratzscher, Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung: "Sowohl aus sozialer als auch ökonomischer Perspektive wäre es ganz wichtig, das Steuersystem dahingehend zu verändern, dass man Vermögen stärker zur Kasse bittet, damit Arbeit entlastet werden kann."

Erstens beim Spitzensteuersatz auf Einkommen. Er wurde im Jahr 2000 von 51 auf 45 Prozent gesenkt. Zweitens mit einer Vermögensteuer. Sie wird seit 1997 gar nicht mehr erhoben. Drittens bei der Erbschaftssteuer, Hunderte Milliarden Euro an Erbschaften werden jedes Jahr in Deutschland weitergegeben. Dabei gelingt es vor allem bei großen Vermögen, die Erbschaftssteuer ganz legal zu umgehen.

Gerhard Schick, Bürgerbewegung Finanzwende e. V.: "Wenn man sich die über hundert größten Erbschaften und Schenkungen der letzten Jahre anschaut, dann ist da im Durchschnitt ein Steuersatz von etwa ein Prozent gezahlt worden. Da sieht man die enorme Schieflage, die große Begünstigung der ganz großen Vermögen, die in Deutschland bei der Erbschaftsteuer besteht."

SPD und Grüne wollten die dadurch entstehende Ungleichheit eigentlich verringern, die Vermögensteuer wieder erheben und Schlupflöcher bei der Erbschaftsteuer schließen. Aber die FDP blockierte die Pläne, so wie sie es schon im Wahlkampf angekündigt hatte.

Christian Lindner (FDP), Parteivorsitzender, 19.09.2021: "Jetzt führen wir zur Schließung der Vermögensschere eine Debatte darüber, wie können wir die großen Vermögen kleiner machen? Durch Vermögenssteuer, Erbschaftssteuer, Spitzensteuersatz. Wie machen wir die großen Vermögen kleiner, damit das Geld dann zum Staat kommt, um in seinen klebrigen Fingern zu verbleiben?"

Eigentlich sollte das Geld nicht in den Fingern des Bundesfinanzministers verbleiben, sondern die Arbeitnehmer entlasten.

Prof. Marcel Fratzscher, Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung: "Ich sehe im Augenblick kein Anzeichen, dass die Bundesregierung eine Veränderung im Steuersystem vornehmen will. Es ist ein klares Bekenntnis der FDP, ja auch zu sagen, man will keine Steuererhöhung, jegliche Steuererhöhung. Und deshalb sehe ich im Augenblick kein Anzeichen dafür. Aber das wird Deutschland wirtschaftlich wie sozial auf die Füße fallen."

Mit dem dritten Kind muss Familie Besser/Wolf sich wohl bald eine neue Wohnung suchen. Aber die Mieten für größere Wohnungen oder Häuser sind mittlerweile auch auf dem Land enorm. Und Kaufen ist überhaupt nicht mehr drin.

Miriam Wolf: "Das System ist ja irgendwie darauf ausgelegt, ein Eigenheim zu haben oder zumindest sich selber eine Sicherheit zu schaffen – in welcher Form auch immer. Und dass jetzt wir, die wir kein schlechtes Einkommen haben, dazu nicht oder vielleicht nicht in der Lage sind, finde ich schon extrem absurd. Wenn ich mir dann halt überlege, wie andere, die ein geringeres Einkommen haben, das überhaupt hinkriegen."

So geht es vielen in der Mittelschicht. Wer nicht längst Eigentum hat, wird es sich vom Einkommen allein kaum noch leisten können. Denn während die Mieten in Deutschland zwischen 2010 und 2020 im Schnitt schon um ca. 50 Prozent stiegen, schossen die Preise für Eigenheime und Baugrundstücke um 75 Prozent in die Höhe; und die Preise für Eigentumswohnungen um fast das Doppelte. Nun liegt es also an der Regierung, gegenzusteuern, bevor die Spaltung zwischen Einkommen und Vermögen so groß wird, dass sie die Gesellschaft zerreißt.

Ellen Ehmke, Robert Bosch Stiftung: "Wenn die Politik … wenn jetzt nicht gegengesteuert wird, dann droht eben, dass … dass die gesellschaftliche Stimmung irgendwo auch kippt. Also weil das Vertrauen fehlt, dass die Regierung die sozialen Probleme der Menschen dauerhaft – nicht nur jetzt so für die nächsten zwei Monate – sondern dauerhaft löst. Und das ist höchst gefährlich, auch weil wir diesen gesellschaftlichen Zusammenhalt brauchen, um diese Krise zu lösen."

Für die Familie Besser/Wolf ist es noch eine Frage des täglichen Lebens und könnte doch bald zur Existenzfrage werden.

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Kommentare zum Thema

  • Klein 10.10.2022, 19:51 Uhr

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  • Emil 10.10.2022, 13:10 Uhr

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  • Das ist haugemacht ! 10.10.2022, 11:26 Uhr

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