Achim Pollmeier: "In unserem nächsten Film geht es um ein großes Versprechen der deutschen Politik. Vielleicht erinnern Sie sich an diese Bilder: Jesidinnen und Jesiden im Nordirak auf der Flucht vor dem sogenannten Islamischen Staat. Tausende wurden getötet, über 400.000 Menschen verloren ihre Heimat. Es war ein Völkermord. Das hat der Bundestag erst Anfang dieses Jahres festgestellt – mit eben jenem großen Versprechen: Jesidinnen und Jesiden sollten sich in Deutschland sicher fühlen können. Können sie aber nicht – denn seither hat sich etwas geändert. Seit Wochen kündigt die Regierung an, die Zahl der Abschiebungen zu erhöhen, also müssen Kanzler und Innenministerin nun auch liefern. Und nun schiebt man vermehrt auch Jesiden ab. Menschen, die sich endlich in Sicherheit fühlten und alles getan haben, um sich hier ein Leben aufzubauen, erzählen Lisa Seemann und Lutz Polanz."
Zu Gast bei Bascal und Jmana. Die beiden kamen als jesidische Flüchtlinge nach Deutschland. Eigentlich lief es gut für sie – bis vor wenigen Wochen. Bis ihre Eltern und die minderjährigen Geschwister abgeschoben wurden, zurück in den Irak.
Jmana: "Wie läuft es bei euch?"
Schwester am Telefon: "Also nicht so, Mutter hat Stress und ist traurig."
Jmana: "Und wie ist es für dich?"
Schwester am Telefon: "Auch schlecht, weil da bin ich alleine. Weil da kann ich nicht in die Schule gehen? Und ich habe euch vermisst. Meine Schule, meine Freunde."
Jmana: "Ja, wir haben dich auch vermisst, euch alle."
Die Familie von Bascal und Jmana gehört zu einer verfolgten Minderheit, den Jesiden. Immer wieder mussten sie vor der Terrormiliz des IS fliehen. Seit 2019 sind sie in Deutschland geduldet, planten hier ihre Zukunft; bis zu dem Tag, der alles veränderte.
Bascal: „Plötzlich, Mama kommt in Zimmer und sagt, die Polizei sind da. Wir sind aufgestanden und im Flur waren so ca. 20 Polizisten."
Mutter, Vater und zwei Geschwister wurden direkt mitgenommen.
Jmana: "Ich konnte meine Eltern, Geschwister nicht verabschieden, außer die Kleine, eine Umarmung und so."
Die Angst ist allgegenwärtig. Angst um Eltern und Geschwister, die jetzt wieder dort sind, wo sie einst vor der Terrormiliz flüchten mussten. Ein traumatisches Erlebnis.
Jmana: "Also, 03.08.2014, mussten wir, auch wir aus unserem Dorf weg und so. Familie war getrennt. Und wir waren dann in Lalish. Wir wollten nicht irgendwo anders gehen, weil wir auch meinten, wenn wir sterben müssen, dann sterben wir hier."
Eine neue Perspektive bekamen die beiden Schwestern erst wieder in Deutschland. Sie machten ihren Schulabschluss und jetzt eine Ausbildung zur Pflegehelferin. Doch auch sie sind bislang nur geduldet, ohne dauerhaftes Bleiberecht. Sie haben Angst, schon wieder ihre Heimat zu verlieren.
Der Verlust der Heimat, ist bei vielen Jesiden ein tiefsitzendes Trauma. Seit Jahrhunderten lebten sie im Norden des Irak, im Sinjar-Gebirge und rund um ihre heilige Stadt Lalish. Von dort wurden sie 2014 von der Terrormiliz des IS vertrieben. Etwa 5.000 Jesiden wurden getötet. Frauen und Kinder verschleppt, vergewaltigt, versklavt.
Im Januar hat der Bundestag diese Gräueltaten als Völkermord anerkannt und einstimmig gefordert:
Zitat: "… Êzîdinnen und Êzîden weiterhin unter Berücksichtigung ihrer nach wie vor andauernden Verfolgung und Diskriminierung im Rahmen des Asylverfahrens Schutz zu gewähren…”.
Und auch in einer Antwort der Bundesregierung auf eine kleine Anfrage hieß es im März:
Zitat: "Für jesidische Religionszugehörige aus dem Irak (…) ist es – ungeachtet veränderter Verhältnisse – nicht zumutbar, in den früheren Verfolgerstaat zurückzukehren.”
Und trotzdem häufen sich jetzt Berichte, dass Jesiden abgeschoben werden. Die Menschrechts-aktivistin Düzen Tekkal wirft der Bundesregierung Wortbruch vor.
Düzen Tekkal, Menschenrechtsaktivistin: "Ich bewerte das Vorgehen der Bundesregierung als brutal und skrupellos. Gemessen daran, dass die Anerkennung dieses Völkermordes an der Religionsgemeinschaft der Jesiden in diesem Jahr verkündet und erfolgt ist mit dem Versprechen, dass es einen Schutzstatus geben soll für Jesiden."
Trotzdem passiert, was lange tabu war. Warum? Die Zahl der Asylsuchenden steigt. Der Druck von rechts wächst und damit die Forderung, die Zahl der Abschiebungen solle steigen.
Carsten Linnemann: "Die müssen mit den Sozialstandards runter. Wir müssen mehr abschieben."
Olaf Scholz: "… muss auch wieder zurückgeführt werden."
Friedrich Merz: "… schnell und konsequent zurückzuführen."
Nancy Faeser: "Wir sorgen dafür, dass Menschen ohne Bleiberecht schneller unser Land verlassen."
Innenministerin Nancy Faeser rühmte sich zuletzt damit, dass die Abschiebungen in diesem Jahr um 27 Prozent gestiegen sind im Vergleich zum Vorjahr. Dazu trägt wohl auch eine Vereinbarung der Bundesrepublik mit dem Irak bei. Im Mai verständigten sich beide Seiten auf eine engere Zusammenarbeit in Migrationsfragen. Wie die genau aussieht, dazu schweigt die Bundes-regierung. Doch seitdem schiebt Deutschland zunehmend Jesiden in den Irak ab. Die Kritik an diesem Vorgehen wächst, auch in der Regierungskoalition.
Max Lucks (B'90/Grüne), MdB, Obmann Ausschuss für Menschenrechte: "Meines Erachtens ist die Innenministerin politisch für diese Situation verantwortlich. Es wird versucht, die Zahlen der Abschiebung nach oben zu treiben und dabei wird über jedwede Verluste hinweggesehen."
Ein Schicksal, das auch Alia Hassan droht. Dabei baut sie sich gerade erst in Deutschland ihr Leben auf. Die 25-jährige Jesidin lebt seit 2019 in Mülheim an der Ruhr, macht ihr Abitur auf einem Abendgymnasium.
Alia Hassan: "Wenn man Zuhause sitzt und nichts macht und die Muttersprache spricht, dann wird man auch nicht weiter integriert. Daher versuche ich immer neben meiner Schule, neben den Sprachkursen noch Arbeiten, damit ich richtig tief mich integrieren kann."
Auch Alias Familie ist vor Terror und Verfolgung des IS geflohen. Trotzdem wurde vor wenigen Wochen Alias Asylantrag abgelehnt und die Abschiebung angedroht.
Alia Hassan: "Die Flüchtlingeigenschaften werden nicht zu anerkannt. Dass der Antrag auf Asylerkennung wird abgelehnt und dass ich nach Irak gehen soll, dass ich abgeschoben werden sollte und das ist in 30 Tagen."
Im Irak drohe ihr keine Gefahr für Leib und Leben, schreibt das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge BAMF. Keine Gefahr?
Erstaunlich ist, das BAMF bezieht sich bei seinen Entscheidungen laut Bundesinnenministerium insbesondere auf die aktuell gültige Lageeinschätzung des Auswärtigen Amtes. MONITOR liegt diese vor. Darin heißt es:
Zitat: "Der irakische Staat kann den Schutz der Minderheiten nicht sicherstellen."
Aktuelle Bilder aus dem Sinjar-Gebiet zeigen das große Ausmaß der Zerstörungen in der Heimat der Jesiden. Noch immer ist das Gebiet umkämpft. Rund 300.000 Jesiden leben deshalb bis heute in Flüchtlingscamps.
Der Psychologe Jan Kizilhan organisiert im Nordirak die Therapie traumatisierten Jesiden. Zuletzt war er vor sechs Wochen dort.
Prof. Jan Kizilhan, Duale Hochschule Baden-Württemberg: "Sie können nicht in ihre Siedlungsgebiete, weil dort verschiedene Rebellenorganisationen gegeneinander kämpfen. Insofern ist das lebensgefährlich. Und gleichzeitig haben wir eine rassistische Verhaltensweise gegen Jesiden durch die Mehrheit der Muslime."
Der Hass, den der IS säte, ist immer noch da. Das zeigen auch aktuelle Videos von Imamen, die in sozialen Medien geteilt werden. Jesiden werden dort als Teufelsanbeter bezeichnet.
Imam-Video (Übersetzung Monitor): "... kämpfen Sie gegen sie, wo immer sie sind … Ich schwöre bei Gott, dass wir uns an dir rächen und dir eine Lektion erteilen werden!"
Solche Erkenntnisse würden bei Abschiebungen nicht ausreichend berücksichtigt, sagen Kritiker.
Max Lucks (B'90/Grüne), MdB, Obmann Ausschuss für Menschenrechte: "Jetzt schieben wir diese Leute allen Ernstes dorthin zurück, wo sie nicht sicher sind. Das ist aus meiner Sicht ein moralischer Bankrott für unser Land."
Alia Hassan klagt jetzt gegen ihre Abschiebung. Ob es hilft, ist ungewiss. Nur eins ist klar. Bei den Jesiden in Deutschland ist die Angst zurück.
Achim Pollmeier: "Am Ende geht es um mehr als um Flüchtlingspolitik. Es geht auch um die Frage, was das Versprechen dieser Gesellschaft an eine Minderheit noch bedeutet, wenn der Druck von rechts zunimmt."
Kommentare zum Thema
Auch wenn die Zeichnerzahl sehr gering ist und nur noch zwei Tage verbleiben, gibt es zu diesem Problem eine Petition 159286 (Epetitionen des Deutschen Bundestages).
Gebrochene Versprechen? Wundert mich bei dieser Regierung überhaupt nicht. Alternative: Nicht mehr wählen und/oder beim Bundesverfassungsgericht verklagen.
Menschenverachtend - verantwortungslos - zynisch, was diese Regierung den leidgeprüften Jesiden antut. Nicht in meinem Namen und ich schäme mich für mein Land! Ich Frage mich: Ist das überhaupt noch mein Land? Weil ich es zunehmend nicht mehr wiedererkenne. Ich fürchte, dass der moralische, humanitäre und wertebasierte Kompass immer weiter verloren gehen wird! Danke an MONITOR für die Berichterstattung und ich hoffe sehr, dass Sie an dem Thema dran bleiben!