Georg Restle: "Ja, es sind Geschichten, die nur schwer zu ertragen sind, Geschichten von Vätern, Brüdern oder Cousins, die ihre Angehörigen verloren haben und von denen wir wissen wollten, was da eigentlich genau geschah in der Nacht des 14. Juni vor der Küste Griechenlands? Als für Hunderte Menschen jede Hilfe zu spät kam und nur 104 überlebten? Vor allem, wer ist dafür verantwortlich? Gemeinsam mit der Rechercheplattform Lighthouse, dem Spiegel und anderen Medienpartnern haben wir in den letzten Wochen mit Überlebenden gesprochen, Positionsdaten von Schiffen und Vernehmungsprotokolle ausgewertet, um einem ungeheuren Verdacht nachzugehen: Hat die griechische Küstenwache Hunderte Menschen sehenden Auges sterben lassen, weil sie Notrufe ignoriert, Rettung zu spät in Gang gesetzt und am Ende sogar das Kentern des Schiffs mitverursacht hat? Falah Elias, Silke Diettrich, Bamdad Esmaili und Herbert Kordes."
Ihre Fahrt begann in Libyen und endete in einer der schwersten Flüchtlingskatastrophen der vergangenen Jahre: Ein völlig überfüllter Fischkutter mit mehr als 700 Flüchtlingen an Bord sank in der Nacht des 14. Juni vor Griechenland. Mehr als 500 Menschen kamen ums Leben.
Kamal (Übersetzung Monitor): "Wir haben gehört, wie die Menschen unten im Schiff panisch auf Metall klopften. Dann begann das Schiff langsam zu sinken."
Warum mussten so viele Menschen sterben? Eine internationale Kooperation aus Journalisten von MONITOR, Lighthouse Reports, dem SPIEGEL, El PAÍS und weiteren Medien hat mit Überlebenden in Griechenland gesprochen. Sie beschreiben detailliert, wie sie die entscheidenden Minuten des Unglücks erlebten. Das Flüchtlingslager in Malakasa nahe Athen, hier sind die gut 100 Überlebenden untergebracht. Schon wenige Tage nach der Schiffskatastrophe sind unsere Kollegen von WDRforyou hier unterwegs, versuchen, mit Überlebenden in Kontakt zu treten. Das Lager ist gut abgeschirmt. Sicherheitsleute sorgen dafür, dass nicht zu viel nach außen dringt. Wir schaffen es trotzdem, in einen der Container zu gelangen. Hier treffen wir Kamal. Er möchte nicht erkannt werden.
Kamal, Überlebender des Unglücks (Übersetzung Monitor): "Der Motor war kaputt, wir hatten keinen Mechaniker an Bord. Wir wussten nicht, was wir tun sollten. Die griechische Küstenwache kam zu uns und warf uns ein blaues Tau zu. Sie befestigten es an unserem Boot und begannen, uns zu ziehen."
Hat die griechische Küstenwache das Boot so zum Kentern gebracht? Klar ist, wir treffen bei unseren Recherchen auf eine Fülle von schweren Fehlern und Versäumnissen, die am Ende in die Katastrophe führten.
Versuch einer Rekonstruktion: Dienstag, 13. Juni. Gegen 11:00 Uhr morgens erhält die griechische Küstenwache Nachricht aus Rom über ein Schiff mit vielen Migranten. Es sind noch 15 Stunden bis zur Katastrophe. Es geht um diesen alten Fischkutter. Er ist vollkommen überfüllt, keiner darauf trägt offenbar eine Rettungsweste. Unter Deck sind Frauen und Kinder, die in der Falle sitzen werden, als das Schiff später untergeht. Die Zustände an Bord sind nach mehreren Tagen auf See unerträglich, erzählt Kamal, den wir einige Tage nach unserem ersten Interview außerhalb des Lagers wieder treffen.
Kamal, Überlebender des Unglücks (Übersetzung Monitor): "Wir hatten kein Wasser mehr. Am vierten Tag konnte ich den Durst nicht mehr ertragen. Wir sammelten Urin in kleinen, leeren Wasserflaschen und tranken es. Am fünften Tag mischten wir den Urin mit Meerwasser wegen des Geschmacks."
Um 12:47 Uhr filmt die Besatzung eines Flugzeugs der EU-Grenzschutzagentur FRONTEX den Kutter. Spätestens jetzt hätten die Behörden Rettungsmaßnahmen einleiten müssen, sagt der Jurist Maximilian Pichl von der Universität Kassel.
Maximilian Pichl, Rechtswissenschaftler, Universität Kassel: "Bei den Bildern, die wir gesehen haben über das Schiff, ist eindeutig von einer objektiven Seenotrettungslage auszugehen, weil das Boot war überladen. Es gab offensichtlich keine Rettungswesten an Bord. Dieses Boot – selbst wenn es fährt – war offensichtlich immer in Gefahr, seeuntüchtig zu werden. Also Frontex hätte definitiv auch einen Mayday-Ruf absetzen müssen."
Doch Frontex belässt es dabei, die griechischen Behörden zu informieren. Allerdings habe man zweimal angeboten, erneut ein Flugzeug zu dem Boot zu schicken. Die griechische Seite habe darauf nicht reagiert, so Frontex. Wollte die Küstenwache vermeiden, dass zu viele Zeugen und Kameras vor Ort sind? 13:50 Uhr – noch zwölf Stunden bis zur Katastrophe. Seit der ersten Meldung an die griechische Küstenwache sind inzwischen fast drei Stunden vergangen. Die Behörde schickt aber erstmal nur einen Hubschrauber zu einem Aufklärungsflug Richtung Flüchtlingsschiff. Um 15:35 Uhr kommt der Hubschrauber bei dem Schiff an. Jetzt endlich schickt die griechische Küstenwache ein Boot los. Es liegt allerdings in Chania vor Kreta und wird lange brauchen, um zum Ziel zu kommen. Warum wurden keine Schiffe geschickt, die näher lagen? Darauf bekommen wir keine Antwort. Bei der Nichtregierungsorganisation "Alarm Phone" melden sich unterdessen mehrere Insassen des Flüchtlingsbootes und schildern ihre Lage. Um 17:53 Uhr sendet "Alarm Phone" per Mail eine dringende Nachricht an die Behörden in Europa.
Zitat: "… Mehrere Menschen, darunter auch einige Babys, sind sehr krank. Die Menschen auf dem Boot sagen, dass sie nicht weiterfahren können. Sie bitten dringend um Hilfe."
Doch die griechische Küstenwache belässt es dabei, zwei Frachtschiffe – die "Lucky Sailor" und die "Faithful Warrior" – anzuweisen, die Menschen auf dem Kutter mit Nahrungsmitteln und Wasser zu versorgen. Sonst passiert offenbar nichts. Es sind nur noch acht Stunden bis zur Katastrophe. Um 22:40 Uhr – fast zwölf Stunden nach der ersten Meldung – erreicht das Küstenwachboot aus Kreta endlich den Fischkutter. Die Küstenwache behauptet, das Schiff habe keine Hilfe verlangt. Doch selbst, wenn das so wäre, es sei irrelevant, sagen Experten.
Maximilian Pichl, Rechtswissenschaftler, Universität Kassel: "Es kann ja nicht davon abhängen, ob die Personen auf diesem Schiff beispielsweise ihre Lage falsch einschätzen, sondern die griechische Küstenwache ist nach internationalem Recht dazu verpflichtet, Hilfe für Menschen in Seenot zu leisten."
Es sind jetzt nur noch dreieinhalb Stunden bis zur Katastrophe. Die Küstenwache sagt, man habe das Fischerboot in dieser Zeit nur beobachtet; Überlebende bestreiten das, sie schildern die Ereignisse so:
Kamal, Überlebender des Unglücks (Übersetzung Monitor): "Die Küstenwache warf uns ein blaues Seil zu, das darauf die Jungs auf dem Boot befestigten."
Was dann passierte, schildern die Überlebenden so: Das Boot der Küstenwache habe quer vor dem Flüchtlingsboot gelegen. Nachdem das blaue Seil am Bug befestigt worden sei, habe die Küstenwache ruckartig Gas gegeben. Der Kutter habe sich leicht zur Seite geneigt, viele Menschen seien auf die andere Seite gelaufen. Dann habe die Küstenwache in Gegenrichtung gewendet. Der Fischkutter habe sich schlagartig nach rechts geneigt, der Bug sei unter Wasser geraten, das Schiff kenterte. So schildern es mehrere Überlebende unabhängig voneinander. Rund 15 Stunden nach der ersten Meldung an die Behörden sinkt das Boot morgens gegen ca. 2:00 Uhr. Die meisten Menschen hatten keine Chance – sie steckten entweder im Rumpf fest oder wurden vom Strudel des sinkenden Schiffes in die Tiefe gezogen.
Kamal, Überlebender des Unglücks (Übersetzung Monitor): "Ich habe Leichen gesehen, Menschen in Panik, schreiende Menschen, Dinge, die ich kaum beschreiben kann. Stell dir vor, du schwimmst und siehst eine Leiche vor dir. Oder jemand greift nach deiner Hose, deinem Unterhemd oder deinem Bein und du stößt ihn weg, weil du ihm nicht helfen kannst."
104 Menschen wurden noch gerettet, doch Hunderte ertranken im Mittelmeer, weil europäische Behörden ganz offensichtlich keine ernsthaften Rettungsmaßnahmen eingeleitet haben. Dabei ist bekannt, dass die griechische Küstenwache brutal mit Flüchtlingen umgeht. Sie zog Flüchtlingsboote immer wieder rechtswidrig aufs offene Meer hinaus – so genannte Pushbacks. Sie brachte Menschen mit ihren Schiffen auf See und setzte sie dort einfach aus – wie hier. Vergangenes Jahr verurteilte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte Griechenland wegen eines Manövers 2014 in der Ägäis, bei dem elf Menschen starben. Im Urteil ist von
Zitat: "Unterlassungen und Verzögerungen der nationalen Behörden bei der Durchführung und Organisation der Rettung von Flüchtlingen.”
die Rede. Erik Marquardt sitzt für die Grünen im Europaparlament. Er ist Experte für Migration und Menschenrechte und glaubt an ein stillschweigendes Übereinkommen innerhalb der EU.
Erik Marquardt (B'90/Grüne), Mitglied des Europäischen Parlaments: "Die Behörden brechen mit politischer Unterstützung dort das Gesetz und diese Absprache, die es zu geben scheint – also die Außengrenzstaaten sorgen dafür, dass weniger Menschen ankommen, koste es, was es wolle. Und die anderen Staaten gucken dabei zu, aber schauen auch an entscheidenden Stellen weg – diese Absprache muss endlich gebrochen werden."
Nach außen zeigt sich die EU angesichts von 500 Toten entsetzt. Und Kommissionspräsidentin Von der Leyen verspricht zu handeln.
Ursula von der Leyen, EU-Kommissionspräsidentin (Übersetzung Monitor): "Es ist schrecklich, was passiert. Und umso dringender ist es, dass wir handeln."
Ansonsten vertraut die EU-Kommission auf die Ermittlungen der griechischen Behörden zu dem Vorfall. Angehörige und Experten fordern dagegen eine unabhängige, internationale Untersuchung, weil sie den griechischen Justizbehörden zutiefst misstrauen.
Maximilian Pichl, Rechtswissenschaftler, Universität Kassel: "Die Europäische Kommission kann nicht darauf vertrauen, dass Griechenland hier unabhängige und effektive Untersuchungen vornimmt. Ganz im Gegenteil, in der Vergangenheit haben die Strafverfolgungsbehörden diese Aktion der griechischen Küstenwache auch immer wieder gedeckt."
Und dafür gibt es auch dieses Mal Hinweise. Überlebende berichten uns, sie hätten die Havarie mit ihren Mobiltelefonen aufgenommen. Gegenüber unserem Reporter erklärt sich einer bereit, zu sprechen.
Überlebender (Übersetzung Monitor): "Man kann alles klar darauf erkennen. Ich habe alles mit dem Handy gefilmt. Den Moment, als sie das Seil angebracht haben, den Moment, als sie uns gezogen haben und als sich das Boot nach links neigte."
Aber genau diese Handys sind ihnen nicht wieder ausgehändigt worden. Sie befürchten, dass die griechischen Ermittler Beweismaterial vernichten oder manipulieren könnten. Dafür spricht auch die Aussage eines anderen Überlebenden. Er sagt, dass Aussagen, die die Küstenwache belastet haben – etwa zum Abschleppen des Kutters – nicht ins Vernehmungsprotokoll aufgenommen wurden. Bei der Sichtung mehrerer Vernehmungsprotokolle fällt uns auf: Aussagen, die die Küstenwache entlasten, wurden anscheinend in unterschiedliche Dokumente hineinkopiert, denn sie sind absolut wortgleich. Aussagen wie diese:
Zitat: "… Das Boot war alt. Es gab keine Schwimmwesten und der Motor stoppte ständig. Deshalb ist es gesunken."
Ein alter Kutter wird zur Todesfalle – auch, weil die Retter versagt haben. Hinterbliebene und Überlebende fordern deshalb ihre Rechte ein.
Kamal, Überlebender des Unglücks (Übersetzung Monitor): "Ich fordere unser Recht auf Herausgabe der Leichen, damit sie zu ihren Familien zurückkehren können. Die Ertrunkenen im Meer – nur Gott weiß was mit ihnen ist. Er wird sich um die kümmern. Aber die Toten, die hier im Krankenhaus sind, dürfen nicht in diesem Land bleiben. Ich möchte auch nicht in einem Land leben, das versucht hat, mich zu töten und das meine Freunde getötet hat. Unmöglich."
Hunderte Menschen haben diese Überfahrt nicht überlebt. Ihre Leichen werden wohl für immer auf dem Grund des Mittelmeers verbleiben.
Georg Restle: "Ja, und es sind wahrscheinlich noch sehr viele mehr: 1.871 Menschen sind allein in diesem Jahr schon im Mittelmeer ertrunken oder werden vermisst. Und die Zahl der Toten steigt seit Monaten wieder an."
Kommentare zum Thema
Dieser Kommentar wurde gesperrt, weil er gegen unsere Netiquette verstößt. (die Redaktion)
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Statt Löwenjagd in Berlin hätte man das Geld iieber für die Hatz von kriminellen Musels ,Nervensägen aus der grünen Sekte und dem Staatsfunk verwenden sollen. ,