Bericht: Markus Zeidler, Naima El Moussaoui, Jana Heck
Georg Restle: „So lange hatten sie auf diesen Moment gewartet. Zwei junge Iraker, die seit sechs Jahren in Deutschland leben. Eine jesidische Familie aus dem Nordirak, am Ende eines langen Fluchtweges. Bilder, die wir vor ein paar Tagen in Passau aufgenommen haben. Bilder, die uns auch daran erinnern sollten, dass bei allem Gerede über eine Flüchtlingskrise in Deutschland die eigentliche Tragödie immer noch ganz woanders stattfindet, in den Herkunftsländern der Flüchtlinge und auf ihrem Weg nach Europa.
Guten Abend und willkommen bei Monitor. Wer sich die Bilderflut der letzten Wochen angeschaut hat, kann ja tatsächlich auf den Gedanken kommen, über Deutschland sei so etwas wie eine Naturkatastrophe ungeahnten Ausmaßes hereingebrochen. Dabei reden wir von bisher rund 400.000 registrierten Flüchtlingen, die aus größter Not in diesem Jahr nach Deutschland gekommen sind. 400.000, das klingt für manche ziemlich viel. Klingt allerdings gar nicht mehr so viel, wenn man sich die Zahlen der Flüchtlinge anschaut, die Deutschland in der Vergangenheit schon aufgenommen hat. Allein in den vier Jahren nach dem zweiten Weltkrieg sind rund 12 Millionen Menschen aus den sogenannten ehemaligen deutschen Ostgebieten nach Deutschland geflohen oder vertrieben worden. 12 Millionen, die Arbeit und Wohnraum in einem völlig zerstörten Land suchten. Die zweite große Zuwanderungswelle dann in den 60er und 70er Jahren. Vor allem die sogenannten Gastarbeiter. Allein im Jahr 1973 kamen rund eine Million Ausländer nach Deutschland; insgesamt waren es zwischen 1969 und 1973 sogar 3,4 Millionen. Der nächste Höhepunkt nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion und dem Fall der Mauer. Spätaussiedler und Asylbewerber aus Osteuropa, allein im Jahr 1992 waren es rund 700.000. Insgesamt kamen zwischen 1988 und 1993 3,1 Millionen Menschen nach Deutschland. Hat das Land alles gut überstanden. Auch deshalb täte uns allen ein bisschen weniger Drama vielleicht ganz gut - trotz aller Herausforderungen. Herausforderungen, auf die die deutsche und europäische Politik fast nur eine Antwort zu kennen scheint. Zäune hoch und Grenzen wieder dicht, wenn’s sein muss auch innerhalb Europas.
Aber was würde eigentlich passieren, wenn wir die Grenzen stattdessen einfach öffnen würden, auch um das sinnlose Sterben tausender Menschen endlich zu beenden? Viele mögen das für wahnsinnig halten, weil sie fürchten, Deutschland würde dann von Flüchtlingen überrannt werden. Es gibt aber Wissenschaftler, die die globalen Flüchtlingsströme seit Jahren sehr genau analysieren - und die sehen das ganz anders. Markus Zeidler, Naima El Moussaoui und Jana Heck beginnen ihren Film an einem Ort, an dem sich das Elend geschlossener Grenzen zurzeit ziemlich gut beobachten lässt.“
Hundegebell und der wärmende Auspuff eines Polizeiautos. So beginnt für diese Männer aus Afghanistan ihr neues Leben in Deutschland. Für die Polizisten beginnt der neue Arbeitstag so wie der alte aufhörte. Unterwegs mit der bayerischen Polizei im Raum Passau, nahe der österreichischen Grenze. Der Funk meldet bereits die nächsten Flüchtlinge. „Komplett ausgebucht“, die Kollegen am Limit; auch wenn Hauptkommissar Alexander Schraml das vor der Kamera so vielleicht nicht sagen würde.
Reporter: „Wann hat das begonnen?“
Alexander Schraml: „Ich meine, das hat so die letzten zwei, drei Monate, hat sich das jetzt sukzessive gesteigert. Die letzten Wochen pendeln wir uns also so ein, dass wir im Schnitt am Tag bis zu 700 Flüchtlinge haben und etwa zehn bis zwölf Schleuser festnehmen können. Da ist kein Ende in Sicht.“
„Kein Ende in Sicht“, sagt er. „Personen auf der Fahrbahn“ warnt das Navi den ganzen Morgen
Reporter: „Was ist jetzt der nächste Einsatzort, wo wir hinfahren?“
Alexander Schraml: „Es wurden also mehrere Personen am Standstreifen an der Autobahn gemeldet auf Höhe Passau Mitte. Da fahren wir jetzt hin und schauen mal.“
Doch es kommt erst einmal anders. Unweit der Autobahn - Zugriff. Der Mann und sein Fahrzeug kommen aus Ungarn. Im Auto, eine Familie aus Syrien. Für sie ist es das Ende einer wochenlangen Odyssee. Der mutmaßliche Schleuser ist einer von über 700, die den Fahndern bislang allein in Bayern ins Netz gegangen sind.
Alexander Schraml: „Der wird jetzt zur Bundespolizei verbracht und dort eben dann weiter bearbeitet. Der wird vernommen und dann wahrscheinlich auf Antrag der Staatsanwaltschaft einem Haftrichter vorgeführt und geht vermutlich in Untersuchungshaft. Die Flüchtlinge werden auch zur Bundespolizei transportiert, dort registriert und dann in die Bearbeitungsstraße nach Deggendorf und dann in eine Erstaufnahmeeinrichtung verbracht.“
Alltag auf den Straßen rund um Passau. Jetzt - so will es die Politik - soll der Fahndungsdruck auf die Schleuser noch weiter erhöht werden. Ob dadurch weniger Flüchtlinge kommen? Nein, sagt die Internationale Organisation für Migration in Genf. Mehr Militär oder Polizei gegen Schleuser, das ändere gar nichts an der Zahl der Flüchtlinge.
Joel Millman, Internationale Organisation für Migration (Übersetzung Monitor): „Das funktioniert nicht. Das zeigt die Vergangenheit. Das ist wie im Drogenkrieg. Den Drogenhandel mit Polizeitaktiken zu bekämpfen, stoppt nicht das Problem der Drogenabhängigkeit.“
Prof. François Gemenne, Migrationsforscher (Übersetzung Monitor): „Man muss zur Kenntnis nehmen, dass die europäische Politik und die Schließung der Grenzen überhaupt erst die Voraussetzungen schaffen für das Geschäft der Schleuser. Es gibt Millionen Flüchtlinge, von denen viele gerne nach Europa oder in andere Industriestaaten wollen. Aber die geschlossenen Grenzen sind die Grundlage des Schleuser-Business.“
Europa macht seine Grenzen dicht und Tausende, die eigentlich Schutz für ihr Leben suchen, finden den Tod. Die, die überleben, lassen sich weder von Polizeiknüppeln aufhalten, noch von Stacheldraht. Solange Grenzen dicht bleiben, wird es solche Bilder geben.
Sie sind vorerst in Budapest gestrandet. Diese Gruppe Syrer wird die Nacht im Freien verbringen müssen. Eine der Frauen ist schwanger.
Syrer (Übersetzung Monitor): „Ich glaube nicht, dass sie uns wirklich helfen wollen. Sonst hätten wir das alles nicht erleiden müssen. Wir hätten legal einreisen können, mit dem Flugzeug, so wie jeder andere auch. Mit einem Visum. Das wäre viel sicherer, wenn sie diese Tür öffnen würden. Aber so mussten wir durch diese Not, durch diese Hölle gehen, um irgendwann nach Deutschland zu kommen.“
Visa für Flüchtlinge? Legale Fluchtwege statt Stacheldraht? Für den Migrationsforscher François Gemenne von der renommierten Pariser Hochschule Sciences Po ein Gebot der Moral, aber auch der Vernunft.
Prof. François Gemenne, Migrationsforscher (Übersetzung Monitor): „Die Leute werden sagen, das ist verrückt. Das wäre eine Katastrophe, die Invasion, die ganze Welt wird kommen. Das liegt daran, dass die Leute die Migrationsrealität nicht kennen. Die Menschen werden nicht kommen, weil die Grenzen offen sind. Die Leute kommen, weil ihr Leben in Gefahr ist.“
Oder sie kommen aus nackter wirtschaftlicher Not. Ein sogenannter Arbeiterstrich, wie es ihn in vielen deutschen Städten gibt. Hier stehen Albaner, Serben, Menschen aus Afrika. Die Wirtschaft greift gerne zurück auf ihre billige Arbeitskraft. Dauerhaft legal bleiben dürfen sie dennoch nicht. „Kein Asyl für Wirtschaftsflüchtlinge“, lautet der Grundsatz im Land. Doch die Armutsflüchtlinge kommen, trotz aller Hürden. So wie auch in den USA. 1993 baute Texas den ersten großen Grenzzaun zu Mexiko. Die Zahl der Flüchtlinge - sie stieg. 1994 riegelten auch Kalifornien und Arizona die mexikanische Grenze ab. Seither steckten die USA Milliarden in die Aufrüstung der Grenzanlagen und in ihre technische Überwachung. Die Flüchtlinge stoppte auch das nicht. Im Gegenteil, seit Anfang der 90er hat sich die Zahl der Migranten aus Mexiko fast verdreifacht. Trotz, aber auch wegen der High-Tech-Grenze haben Experten analysiert.
Joel Millman, Internationale Organisation für Migration (Übersetzung Monitor): „Früher kamen die Menschen aus Mexiko ohne Papiere über die Grenze. Sie suchten Jobs. Vor allem in der Landwirtschaft. Sie kamen in die USA und gingen aber immer wieder zurück, alle ein, zwei Jahre. Jetzt haben sie Angst, zurück in ihr Land zu gehen. Sie fürchten, dass es nächstes Mal viel teurer und gefährlicher wird, in die USA zu kommen. Deswegen bleiben sie ganz in den Vereinigten Staaten, ohne Papiere. Und Gemeinden, die vorher nie Migranten hatten, haben jetzt Zehntausende.“
Ob in den USA oder hier in Ungarn. Grenzzäune hindern Flüchtlinge nicht, zu kommen. Aber sie verhindern, dass die Menschen in ihre Heimat zurückkehren. Zurück nach Passau. Auf dieses Gelände am Stadtrand bringt die Polizei die Flüchtlinge, die sie auf den Straßen rund um die Stadt einsammelt. In Deutschland treffen sie auf Polizisten, die helfen, statt zuzuschlagen. Es ist früher Vormittag und längst sind wieder mehr da, als eigentlich Platz ist. Die Menschen sitzen in Passau und später in überfüllten Auffanglagern, obwohl viele von ihnen ganz woanders hinwollten - zu Verwandten nach Hamburg, Köln, Kopenhagen. Doch als illegal Eingereiste dürfen sie nicht einfach dorthin reisen und sich dort bei den Behörden registrieren lassen. Deshalb werden sie an zentralen Stellen gesammelt. Aber was, wenn die Grenzen offen wären?
Prof. François Gemenne, Migrationsforscher (Übersetzung Monitor): „Gemeinden, die heute überlastet sind, weil sie mit einem Mal Tausende von Flüchtlingen aufnehmen müssen, würden durch die Öffnung der Grenzen entlastet. Die Leute könnten ja frei wählen, wohin sie gehen. Sie müssten dann nicht mehr die zentralen Aufnahmeorte durchlaufen. Das würde natürlich zu einer Entspannung auch zwischen Bevölkerung und Migranten beitragen.“
Manche Polizisten scheinen längst weiter als die Politik.
O-Ton Polizeifunk: „Neue Mitbürger warten da auf Abholung in der Kälte und zittern.“
Neue Mitbürger - statt illegal Eingereiste. Willkommen in Deutschland!
Georg Restle: „Und noch etwas, worüber in dieser Debatte seltsamerweise niemand spricht. Allein in den letzten zehn Jahren haben 5,4 Millionen sogenannte Nichtdeutsche Deutschland wieder verlassen. Jedes Jahr deutlich mehr als eine halbe Million. Und die allermeisten reisen freiwillig aus.“
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