Georg Restle: "Von einem Strand wie diesem solle sich künftig kein Flüchtlingsboot mehr nach Europa aufmachen, fordert die Europäische Union. Ein Strand in Tunesien, von wo aus in den letzten Monaten immer mehr Menschen Richtung Italien geflohen sind. Um das zu verhindern, soll ein Deal her mit Tunesien, einem Staat, der von seinem Präsidenten immer autokratischer regiert wird. Im Sommer reiste EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen deshalb zu Tunesiens Herrscher Kais Saied. Ein Mann der die Opposition im eigenen Land massiv unterdrückt, der wenig bis gar nichts von Menschenrechten hält und Geflüchtete in die Wüste verschleppen und dort verdursten lässt. Silke Diettrich und Shafagh Laghai."
El Amra, ein beschauliches Fischerdorf an der Küste von Tunesien. Aber zurzeit spielt sich an Stränden wie diesen eine Flüchtlings-Tragödie ab. Überall verrostete Boote, die es nicht nach Europa geschafft haben. Hedi Ben Bchir Mlik ist Fischer, lebt schon sein ganzes Leben hier. Jeden Tag sieht er, wie Menschen am Strand in Metallboote steigen. Auch solche, die es nicht auf die andere Seite schaffen.
Hedi Ben Bchir Mlik (Übersetzung Monitor): "Immer wieder sehe ich Tote oder abgetrennte Beine oder eine Hand im Meer. Es ist eine große Tragödie, eine Katastrophe."
Sein Strand sei fast schon eine Art Drehkreuz geworden für Migranten, die nach Europa wollten. Manchmal würden sie sich nachts in seinem Garten verstecken, bevor sie in die Boote steigen, erzählt er. Die meisten aber würden in den Feldern außerhalb der Küstendörfer ausharren. Wir machen uns auf die Suche; und tatsächlich, wir fahren nur wenige Kilometer weiter und überall in den Feldern sehen wir hunderte Menschen. Sie leben hier unter freiem Himmel, schutzlos. Kein fließendes Wasser, kaum Decken, keine Matratzen. Hier versuchen auch Josephine und ihr Sohn irgendwie zu überleben, sie kommen aus Guinea-Bissau.
Josephine (Übersetzung Monitor): "Es ist sehr, sehr schwierig für uns hier zu leben, wir schlafen nicht gut, essen kaum. Die Kinder sind ständig krank, sie holen sich Infektionen, wir haben kein sauberes Wasser."
Josephine hat sich mit anderen Migranten zusammengetan, um hier erst einmal durchzuhalten, bevor sie die Fahrt nach Europa versuchen. Die meisten hier hatten mal ein Dach über dem Kopf, viele sogar einen Gelegenheitsjob. Einige erzählen, dass sie eigentlich in Tunesien bleiben wollten, doch dann änderte sich alles.
Mann: "Sie haben uns aus den Häusern vertrieben. Also leben wir jetzt hier. Es ist hart für alle. Hier leben Babys, Mütter, Schwangere, es ist nicht einfach für uns."
Hier in Tunesien können und wollen sie nicht mehr bleiben. Die Stimmung gegen Migranten heize sich immer weiter auf. Und er hat das befeuert: Präsident Kais Saied. Ein autokratischer Herrscher. Sein Land befindet sich in einer tiefen Wirtschaftskrise. Und er schürt Feindbilder. Mit rassistischen Aussagen hetzte er Anfang des Jahres gegen Migranten.
Kais Saied (Übersetzung Monitor): "Sie wollen die Demografie von Tunesien verändern, das ist geplant, dafür werden sie bezahlt. Sie wollen die Identität der tunesischen Bevölkerung verändern."
Seine Aussage löste eine regelrechte Hetzjagd aus. Diese Bilder zeigen, wie Menschen aus Subsahara-Afrika aus ihren Wohnungen getrieben werden, Sicherheitskräfte, die Migranten abführen und zusammentreiben. Sie werden in Busse verfrachtet, raus aus der Stadt, auf abgelegene Felder. Und ausgerechnet diesem Machthaber reicht die EU im Sommer die Hand und beginnt Verhandlungen zu einem Migrations-Deal. Die EU bietet Tunesien Hunderte Millionen Euro für wirtschaftliche Entwicklung und den Grenzschutz. Dafür erwartet sie eine enge Zusammenarbeit im:
Zitat: "Kampf gegen irreguläre Migration"
Was tunesische Sicherheitskräfte darunter auch verstehen, zeigen diese Bilder. Migranten mitten in der Wüste an der Außengrenze von Tunesien. Aufgelesen von libyschen Polizisten – ohne Schutz, der Hitze völlig ausgeliefert. Tunesische Sicherheitsleute sollen sie dorthin verschleppt und einfach ihrem Schicksal überlassen haben. Eine Mutter und ihre Tochter – verdurstet. Und während diese Bilder bereits in der Welt sind wird zeitgleich der Deal der EU mit Tunesien unterzeichnet. Die Menschenrechtsverletzungen haben offenbar keine Rolle gespielt. Ein Deal um jeden Preis?
Prof. Jürgen Bast, Europarechtler, Universität Gießen: “Für mich steht diese Politik in einer Kontinuität, einer Abwehrpolitik gegenüber Flüchtlingen. Und die Europäische Union sollte eigentlich, wenn sie ihre Werte ernst nimmt, einen Beitrag zum internationalen Flüchtlingsschutz leisten. Statt sie in einem Staat wie Tunesien festzuhalten, wo ganz klar ist, dort werden sie keinen sicheren Aufenthalt finden."
Von Flüchtlingsschutz ist in dem Abkommen nirgendwo die Rede. Stattdessen geht es um:
Zitat: "effektive Grenzmaßnahmen"
und den
Zitat: "Kampf gegen kriminelle Menschenschmuggel-Netzwerke"
Kriminelle Menschenschmuggler – damit könnten dann auch die Küstenbewohner in Tunesien gemeint sein. Für sie seien Migranten derzeit oft die einzige Einnahmequelle, erzählt Ousama Yangui. Er würde die Bewohner hier nicht als Schlepper bezeichnen, auch sich selbst nicht.
Ousama Yangui (Übersetzung Monitor): "Die Wirtschaft hier ist am Boden. Unsere Taschen sind leer. Also haben die Leute die Flüchtlinge als gute Quelle gesehen, um schnelles Geld zu verdienen. Dann wurden Boote wie diese verkauft. Zu einem viel höheren Preis, als sie eigentlich wert sind. Alle hier haben die Gelegenheit ergriffen, um davon zu profitieren."
Mittlerweile werden Fischerboote von den Behörden registriert, damit sie nicht mehr an Migranten verkauft werden. Es gibt mehr Kontrollen an der Küste. Migration aufhalten würde das nicht, erzählt uns Ousama; die Geschäfte liefen nun eben unter der Hand ab. Der Migrationsforscher Gerald Knaus kritisiert den Deal mit Tunesien. Weil er Geflüchtete ihrem Schicksal überlasse, ohne irreguläre Migration zu begrenzen.
Gerald Knaus, Migrationsforscher, European Stability Initiative: "Die Schlüsselfrage, wie Tunesien irreguläre Migration reduzieren soll, die ist überhaupt nicht geklärt. Also die Idee, dass man irgendwen nach Tunesien zurückschicken könnte, weil dort die Menschenrechte geachtet würden oder ein Zugang zu einem Asylsystem bestehe, die ist da gar nicht drin. Denn das gibt es nicht in Tunesien. Und das sieht so aus, als wäre man bereit die Augen zu schließen und den Tunesiern zu sagen, macht, was immer ihr wollt, solange es die Leute nur abschreckt, in die Hafenstädte zu kommen und in die Boote zu steigen."
Der Deal mit Tunesien. Er hat genau das Gegenteil bewirkt. Seitdem haben sich sogar noch mehr Menschen auf den Weg gemacht, weil sich die Lage für sie in Tunesien immer weiter verschlechtert. Wie reagiert die EU darauf? Auf unsere Anfragen antwortet die Kommission nicht. Und so bleibt weiterhin nur die gefährliche Route über das Mittelmeer: Es ist die einzige Möglichkeit, auch für asylberechtigte Flüchtlinge nach Europa zu kommen. Die meisten steuern die italienische Insel Lampedusa an. Pietro Bartolo hat rund 30 Jahre lang auf seiner Heimatinsel Lampedusa als Arzt gearbeitet. Wegen der vielen Toten ist er in die Politik gegangen. Als Abgeordneter im Europäischen Parlament will er eine andere Migrationspolitik erreichen.
Pietro Bartolo (Partito Democratico), Mitglied des Europaparlaments (Übersetzung Monitor): „Das ist eine Vereinbarung, die man nicht eingehen darf. Europa basiert auf grundlegenden Prinzipien und eins davon ist die Einhaltung der Rechtsstaatlichkeit. Und wir machen einen Deal mit jemandem, der überhaupt nicht weiß, was das bedeutet."
Auch in Tunesien steht der Winter bevor: Eine weitere Gefahr für die Menschen, die hier festsitzen. Und ein weiterer Grund, die gefährliche Reise über das Mittelmeer zu wagen.
Georg Restle: "Sicheres Herkunftsland nennt sich das."
Kommentare zum Thema
Dieser Kommentar wurde gesperrt, weil er diskriminierend ist. (die Redaktion)
Das ist schlicht kriminell, was sich in Tunesien abspielt. Und die EU macht voll mit. Die Menschenrechte für Geflüchtete sind somit ganz über Bord geworfen worden. Das kommt all den rechten Parteien gerade recht, die die EMRK sowieso ablehnen. "Gut" gemacht, EU. 🥴
"No way" wie Australien, Asyl wie Dänemark und Einwanderung nach kanadischem Modell, das sollten die Vorbilder sein.