MONITOR vom 02.11.2017

Türkei ein Rechtsstaat? Kein Asyl für Erdogan-Gegner

Bericht: Nikolaus Steiner, Baysal Marti, Hüseyin Topel

Türkei ein Rechtsstaat? Kein Asyl für Erdogan-Gegner Monitor 02.11.2017 07:06 Min. Verfügbar bis 30.12.2099 Das Erste

Georg Restle: „Was war das für eine Erleichterung letzte Woche in Istanbul: Die Freilassung des deutschen Wissenschaftlers Peter Steudtner hat Einigen Hoffnung gemacht: Auf einen Kurswechsel in der Türkei oder wenigstens Entspannung im deutsch-türkischen Verhältnis. Doch davon kann keine Rede sein. Praktisch zeitgleich zu Steudtners Freilassung wurden zahlreiche türkische Wissenschaftler angeklagt, nur weil sie sich für Frieden in der Türkei eingesetzt haben. Und Journalisten wie Deniz Yücel oder Mesale Tolu sitzen wie tausende Oppositionelle immer noch in Haft. Da sollte man eigentlich davon ausgehen, dass politisch Verfolgte aus der Türkei wenigstens hier in Deutschland Asyl erhalten. Falsch gedacht. Die allermeisten Asylanträge werden zurzeit abgelehnt. Und das mit einer erstaunlichen Begründung: Die Türkei sei schließlich ein Staat, in dem die europäischen Menschenrechte gelten würden. Und nein, das ist kein schlechter Witz, sondern bitterer Ernst. Vor allem für diejenigen, die davon unmittelbar betroffen sind.“

Ein Spielplatz, irgendwo im Süden Deutschlands. Diese Familie hat Angst, will auf keinen Fall erkannt werden. Angst vor Erdogans Anhängern in Deutschland. Angst davor, in die Türkei zurück zu müssen. Der Vater hatte jahrelang als Lehrer in einer Gülen-Schule gearbeitet. Vor kurzem sind sie nach Deutschland geflohen, haben politisches Asyl beantragt.

Vater: „Ich habe meinen Job verloren. Viele meiner Freunde und Arbeitskollegen wurden verhaftet. Als ich die Pässe meiner Familie verlängern wollte, sagte man mir, ich sei ein Terrorist. Ich hätte für eine Terrororganisation gearbeitet. Ich hatte große Angst. Und schließlich empfahl mir sogar mein Anwalt zu fliehen.“

Kein Einzelfall. Die Zahl der Asylbewerber aus der Türkei war jahrelang konstant. Doch mit dem Krieg gegen die Kurden im Südosten und infolge des Putschversuchs stiegen die Zahlen seit letztem Jahr massiv an. Wir treffen türkische Asylbewerber, darunter die Familie, an einem geheimen Ort. Es sind Akademiker, Rechtsanwälte, Lehrer. Sie alle sympathisieren mit dem Prediger Fetullah Gülen, aber mit dem Putschversuch hätten sie nichts zu tun, sagen sie. Ahmed, so nennen wir ihn, hat jahrelang als Schulleiter an einer Gülen-Schule gearbeitet. Seine Familie ist noch in der Türkei, deshalb will er nicht offen sprechen.

„Ahmed“: „Mein Bruder wurde festgenommen, er ist im Gefängnis. Die Polizei hat mein Haus durchsucht, als ich gerade nicht da war. Dann bin ich monatelang untergetaucht, habe mich versteckt. Irgendwann war mir klar, dass ich so nicht weiterleben konnte und bin nach Deutschland geflohen. Wenn ich zurück in die Türkei muss, werde ich sofort eingesperrt.“

Doch der Asylantrag sowohl von Ahmed, als auch der der Familie wurden vom Bundesamt für Migration abgelehnt. Mit der Begründung: „Eine konkrete Gefahr für den Antragsteller (...) ist nicht ersichtlich“.

Keine konkrete Gefahr? Für den Asylrechtsanwalt Thomas Galli ist eine solche Begründung unbegreiflich.

Thomas Galli, Rechtsanwalt für Asylrecht: „Ich finde diese Argumentation menschenverachtend. Jeder, der an einer Gülen-Schule oder an einer sonstigen Gülen-Einrichtung in der Türkei tätig ist oder tätig war, der kann sich ausrechnen, dass er der Nächste sein wird.“

Die Behörde argumentiert, dass die Schutzquote von Türken im Vergleich zum letzten Jahr erheblich angestiegen sei. Aber: Von mehr als 9000 Asylbewerbern in diesem Jahr, erhielt nicht einmal ein Viertel Schutz in Deutschland. Allerdings geht das Bundesamt in den Begründungen der Ablehnungsbescheide noch weiter. Es bestünde auch deshalb keine Gefahr, weil die Türkei ein „Vertragsstaat der Europäischen Menschenrechtskonvention“ sei. Die Türkei quasi ein Rechtsstaat? Schwer zu fassen, angesichts der massiven Einschränkungen von Presse- und Meinungsfreiheit in den letzten Jahren und der massiven Verfolgung von Oppositionellen. Noch immer sitzen laut regierungsnahen Medien etwa 50.000 Menschen infolge des Putschversuchs in Haft. Darunter zahlreiche Journalisten, Wissenschaftler, Menschenrechtsaktivisten.

Wenzel Michalski, Direktor Human Rights Watch Deutschland: „Die Menschenrechtssituation momentan in der Türkei ist katastrophal und sie wird immer schlimmer. Es sind Menschen eingesperrt, zum Teil aus fabrizierten Gründen, ausgedachten Gründen, angeblich, weil sie Terroristen sind. Die freie Meinungsäußerung gibt es nicht mehr, freie Medien gibt es nicht mehr, Versammlungsfreiheit gibt es nicht mehr. Das heißt, es wird immer schlimmer.“

Auch den nach Deutschland Geflohenen drohe in der Türkei die Inhaftierung, sagen sie. Trotzdem wurden ihre Asylanträge abgelehnt, da für sie keine Gefahr für Leib und Leben bestünde, sagt das BAMF. In den MONITOR vorliegenden Ablehnungsbescheiden heißt es: Es könne davon ausgegangen werden, dass die Türkei Folter und Misshandlung unterbinden wird „um den Beitritt zur Europäischen Union nicht zu gefährden.“

Keine Folter und Misshandlungen in der Türkei? Für diese Frau klingt das wie Hohn. Kurz nach dem Putschversuch wurde sie von der Polizei festgenommen, weil ihr Mann verdächtigt wurde Gülen-Anhänger zu sein.

„Sevim“: „Die Polizisten führten mich durch einen langen Korridor. Am Boden lagen überall Männer. Ihre Augen waren verbunden, Hände und Beine gefesselt. Einer der Polizisten trat dauernd auf die Männer ein. Sie brachten mich in einen Raum. Einer schlug auf mein linkes Bein, der andere auf mein rechtes. Dann wurden die Schläge immer stärker. Sie schrien: „Sprich endlich“. Dann drohten sie mir, mich nackt auszuziehen und zu anderen Männern in eine Zelle zu stecken. Die hätten schon lange keine Frau mehr gehabt.“

Nach anderthalb Tagen kam sie frei und floh nach Deutschland. Bis heute habe sie Alpträume, könne kaum schlafen. Ob ihrem Asylantrag stattgegeben wird, weiß sie nicht.

Die Ärztin Mechthild Wenk-Ahnson kümmert sich in Berlin um Folteropfer und Traumatisierte aus der Türkei. Sie und ihre Kolleginnen beobachten, dass die Patienten mittlerweile aus allen Teilen der türkischen Gesellschaft kommen.

Dr. Mechthild Wenk-Ansohn, Fachärztin für Allgemeinmedizin u. Psychotherapie, Zentrum Überleben: „Wir haben jetzt seit anderthalb Jahren wieder vermehrt Patienten, die berichten, dass sie schwer gefoltert worden sind in den Polizeistationen, zum Teil auch schwere Verletzungen davon getragen haben, die von exzessiver Polizeigewalt berichten, und zwar authentisch berichten und an den Folgen leiden.“

Keine Folter und Misshandlung in der Türkei? Das Bundesamt antwortet auf unsere Anfrage, eine solche Einschätzung sei so seit März nicht mehr zutreffend, also nicht mehr aktuell. Eigenartig: Monitor liegen mehrere aktuelle Ablehnungen vom Sommer bis Oktober vor, die immer noch genau so begründet wurden. Sie hier befürchten, dass auch ihnen Haft und Misshandlungen drohen, wenn sie in die Türkei zurück müssen. Die Gülen-Anhänger haben Widerspruch gegen ihre Asylablehnungen eingelegt. Sie vertrauen auf den deutschen Rechtsstaat, sagen sie.

Georg Restle: „Wenn Sie mit uns darüber diskutieren wollen, dann tun Sie das, wie immer online bei monitor.de, auf unserer facebook-Seite oder wenn Sie mögen, mit mir persönlich bei Twitter.“

Kommentare zum Thema

  • Squareman 19.11.2017, 08:05 Uhr

    An Egal: Ich frage mich wieso Erdogan Anhänger immer noch in Deutschland leben. Wieso haben die nicht schon längst die Koffer gepackt und sind zu ihrem Führer ins Paradies gezogen, ab in den Süden. Dort gibt es ja inzwischen viele Jobs von den Leuten die entlassen wurden oder in Haft sitzen weil sie angeblich Guelen Anhänger oder PKK Anhänger oder gar beides sind. Was hält Erdogan Anhänger noch in Deutschland?

  • S. 13.11.2017, 11:33 Uhr

    Warum diese Unterschiede? Politisch verfolgte Menschen gibt es in vielen Ländern der Erde. Warum werden hier nur mitleiderregende Einzelfälle türkischstämmiger Menschen genannt? „Türkische Wissenschaftler werden angeklagt nur weil sie sich für Frieden in der Türkei eingesetzt haben“, so steht es oben im Leitbeitrag. Ja, so etwas gibt es in vielen Ländern. Ist zum Beispiel ein Leben in der Ukraine ein Leben wie im friedlichen Schlaraffenland nachdem der sogenannte Westen das Land übernommen hat? Darf man sich dort offen und ungestraft gegen den Krieg in der Ostukraine ausdrücken? Ist bei uns in Deutschland wirklich alles in menschlicher Ordnung? Auch hier im Blog? Werden nicht hier auch einige Beiträge unveröffentlicht weil sie sie nicht dem links-grün-68er ideologischen Gedankengut entsprechen? Beim ideologischen „Filtern“ von Meinungen fängt die eingeschränkte Meinungsfreiheit an. In vielen politischen Foren hier im Land wird der Ideologie entsprechend gefiltert und gestrichen.

  • Friedlich Leben 13.11.2017, 11:10 Uhr

    Was ist ein „Rechtsstaat“? Meinem Empfinden nach ein Staat in welchem das Recht und die Verfassung einem Staates im Staat gelten und eingehalten wird. Um genau zu prüfen ob jeder Staat der Erde ein Rechtsstaat ist dazu haben wir Deutsche kein Recht und bekommen mit Sicherheit auch nicht von anderen Staaten das Recht deren Staaten zu zertifizieren. Sollten wir alle Menschen der Staaten aufnehmen bei welchen wir hier in Deutschland willentlich anzweifeln ob diese Staaten Rechtsstaaten sind oder nicht, so müssten wir letztendlich Millarden Menschen aufnehmen und sozial versorgen. Ab diesem Moment würde unser Staat nicht mehr rechtsstaatlich funktionieren können weil in oder durch unserem Staat nicht Milliarden Menschen menschenwürdig versorgt werden können. Es kann nicht eine Minderheit von rund dreißig Millionen sozialabgabenpflichtigen Berufstätigen ein Herr von Milliarden Sozialhilfeempfänger versorgen. Es käme zu Massenunruhen und die staatliche Gemeinschaft würde zerstört.