MONITOR vom 27.09.2018

Freifahrtschein für Erdogan: Die „Normalisierung“ der deutsch-türkischen Beziehungen

Bericht: Andreas Maus, Baysal Marti

Freifahrtschein für Erdogan: Die „Normalisierung“ der deutsch-türkischen Beziehungen Monitor 27.09.2018 07:02 Min. Verfügbar bis 30.12.2099 Das Erste

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Georg Restle: „Berlin-Tegel heute Mittag kurz vor 13 Uhr. Der türkische Präsident Erdogan landet zum Staatsempfang. Roter Teppich für einen Gegner der Demokratie, einen Feind der Menschenrechte, einen Partner der Bundesregierung.

Guten Abend und willkommen bei Monitor. Realpolitik gehört zu den wenigen deutschen Begriffen, die es in den internationalen Wortschatz geschafft haben. Gemeint ist damit im Wesentlichen die Durchsetzung machtpolitischer Interessen, jenseits von Idealen und Grundwerten. In diesem Sinne ist der heutige Staatsbesuch des türkischen Präsidenten geradezu ein Paradebeispiel für deutsche Realpolitik. Immerhin wird da ein Mann zum Staatbankett geladen, der gerade die Demokratie im eigenen Land mehr oder weniger abgeschafft hat, der Europas Grundwerte mit Füßen tritt und der seine politischen Gegner weiterhin unerbittlich verfolgen lässt. Andreas Maus und Baysal Marti.“

Die Kölner Zentralmoschee heute Mittag - Vorbereitung für den Staatsbesuch. Am Samstag soll hier der türkische Präsident Erdogan auftreten vor tausenden Anhängern. Kritik von der Bundesregierung hat er hier jedenfalls nicht zu erwarten. Das Motto für den Staatsbesuch hat sie schon vor Wochen vorgegeben.

Heiko Maas (SPD), Bundesaußenminister, 06.09.2018: „Wir haben auch immer gesagt, wir wollen eine Normalisierung des Verhältnisses. Wir stehen dafür zur Verfügung.“

Eine „Normalisierung der Verhältnisse“? Bilder der letzten Wochen aus der Türkei. Am 25. August geht die Polizei in Istanbul mit Tränengas und Plastikgeschossen gegen den Protest der sogenannten „Samstags-Mütter“ vor. Sie fordern seit Jahrzehnten Aufklärung über das Schicksal verschwundener Angehöriger. Laut Medienberichten gibt es dutzende Festnahmen. Am 1. Juli diese Bilder: eine Veranstaltung von Lesben und Schwulen wird von Sicherheitskräften gewaltsam aufgelöst. Auch hier: Tränengas, Plastikgeschosse, Festnahmen.

Udo Steinbach, ehem. Leiter Deutsches Orient Institut: „Man gibt sich Illusionen hin, die Illusion, dass man durch eine Art von Annäherung - man nennt das Normalisierung - die Türkei sozusagen, und zwar insbesondere Herrn Erdogan selbst, auf den Weg der Demokratisierung führen könnte, und das ist unmöglich.“

Das Istanbuler Hochsicherheitsgefängnis Silivri. Hunderte Oppositionelle sind hier eingesperrt. Nach offiziellen Angaben sitzen auch fünf Deutsche aus politischen Gründen immer noch in der Türkei in Haft. Einer von Ihnen ist der Kölner Journalist Adil Demirci. Der Vorwurf gegen ihn: Propaganda für eine Terrororganisation - weil er auf Beerdigungen von kurdischen Kämpfern war, die gegen den sogenannten Islamischen Staat gekämpft hatten. Dieses Foto zeigt ihn noch Mitte April mit seiner kranken Mutter in Istanbul, einen Tag später stürmten Spezialeinheiten die Wohnung. Die Familie in Köln. Bruder Tamer und Vater Eyip kämpfen seit Monaten für seine Freilassung. Das Auswärtige Amt teilt zwar mit, dass man sich um Adil Demirci kümmere, dennoch fühlt sich die Familie von der Bundesregierung im Stich gelassen.

Tamer Demirci: „Also es ist, als hätte die Bundesregierung schon akzeptiert, dass es normal ist, dass deutsche Staatsbürger in der Türkei inhaftiert werden. Druck, öffentlicher Druck von der politischen Landschaft aus, dass sich die Bundesregierung für die Freiheit für Adil einsetzt, öffentlich einsetzt, das vielleicht zu einer politischen Krise macht, das hat es nicht gegeben.“

Das war vor einigen Monaten noch anders. Im Fall des Journalisten Deniz Yücel und des Menschenrechtsaktivisten Peter Steudtner riskierten Merkel und Co. eine politische Krise und forderten mehrfach öffentlich die Freilassung der inhaftierten Deutschen - mit Erfolg. Aber öffentlicher Druck, das war einmal. Letzten Freitag organisierte die Familie Demirci deswegen eine Solidaritätsveranstaltung. Auch Politiker waren eingeladen, es kam keiner. Mesale Tolu dagegen ist gekommen. Acht Monate war sie wegen angeblicher Terrorpropaganda in der Türkei inhaftiert. Sie arbeitete für die gleiche Agentur wie Adil Demirci.  Auch sie kam erst frei, als der politische Druck zunahm.

Mesale Tolu: „Ich hab auch eigentlich gedacht, dass hier verschiedene politische Vertreter sein werden. Ich hätte mir gewünscht, dass die hier sind. …es ist einfach so, es gibt kein Unterschied zwischen mir und Adil. Es gibt keinen Unterschied zwischen Adil und Deniz Yücel, und auch nicht zwischen Peter Steudtner und Adil.“

Eine „Normalisierung“ der Beziehungen zur Türkei hält Mesale Tolu für gefährlich.

Mesale Tolu: „Es hat sich eigentlich von der Menschenrechtslage nichts verändert, sondern sogar verschlechtert. Es sind heute noch mehr Menschen inhaftiert. Es sind heute immer noch Abgeordnete, Studenten, Journalisten und Anwälte inhaftiert. Und die ganzen Straßendemonstrationen, dieses Recht auf Demonstration wurde den Menschen weggenommen und das wird immer schlimmer eigentlich.“

Wie dramatisch die Lage in der Türkei nach wie vor ist, belegen aktuelle Zahlen der Menschenrechtsorganisation Amnesty International. Demnach sitzen zurzeit mehr als 70.000 Menschen ohne Anklage und Gerichtsverfahren im Gefängnis. Über 130.000 Angehörige des öffentlichen Dienstes wurden seit dem Putschversuch 2016 entlassen. Und über 170 Medienhäuser wurden geschlossen. Jetzt eine Normalisierung der Verhältnisse? Für Vertreter der Opposition im Bundestag absolut unverständlich.

Sevim Dağdelen, (Die LINKE), MdB, Auswärtiger Ausschuss: „Es ist nichts anderes als blanker Hohn für Millionen Menschen in der Türkei, die sich erhofften eigentlich aus dem Ausland, dass man das Regime Erdogan nicht mehr weiter unterstützt, vor allen Dingen nach der Implementierung der Alleinherrschaft, der Präsidialdiktatur in der Türkei. Dass jetzt gerade die Bundesregierung trotz der ganzen Spannungen und Vorwürfe und Provokationen jetzt eine Normalisierung anstreben möchte, ist nichts anderes als ein … ja, als ein Verrat. Auch an den Menschen, die für Demokratie und Rechtsstaatlichkeit auf die Straße gehen.“

Morgen wird der türkische Präsident vom Bundespräsidenten empfangen. Der Staatsbesuch sei „kein Ausdruck von Normalisierung“, sagte Steinmeier heute. „Aber es könnte ein Anfang sein.“

Georg Restle: „Anfang der Normalisierung? Vielleicht sollte Steinmeier die Gelegenheit wenigstens dafür nutzen, die Freilassung einiger politischer Gefangener zu fordern, die allein deshalb im Gefängnis sitzen, weil sie den türkischen Machthabern im Wege stehen. Osman Kavala, ein türkischer Geschäftsmann, der sich seit 330 Tagen in Haft befindet. Dem engagierten Kämpfer für Menschenrechte wird vorgeworfen, 2013 die friedlichen Geziproteste in Istanbul organisiert zu haben, an denen sich Millionen Türken und Türkinnen beteiligt hatten. Oder Figen Yüksekdag, die ehemalige Co-Vorsitzende der HDP. Sie sitzt seit November 2016 in Haft und steht stellvertretend für die tausenden Inhaftierten der wichtigsten pro-kurdischen Oppositionspartei. Oder Ahmet Altan. Der ehemalige Chefredakteur einer liberalen regierungskritischen Tageszeitung wurde Anfang dieses Jahres zu lebenslanger Haft verurteilt. Er ist einer von mehr als 150 Journalisten, die in der Türkei in Haft sitzen, nur weil sie ihren Job machten. Nur drei von Zehntausenden.“

Kommentare zum Thema

  • Bei einer Aktiengesllschaft spricht man von „Feindlicher Übernahme“. 03.10.2018, 13:15 Uhr

    Für Erdogan gibt es scheinbar keinen alleinigen deutschen Staat. Er fühlt sich für alle ethnisch türkischstämmige Menschen in Deutschland als deren Präsident, gleichgültig ob es türkische Gäste im Land oder deutsche Staatsbürger sind. So fühlte er sich z.B. auch als Schutzherr für den deutschen Fußballspieler Özil. Er fördert durch sein Verhalten eine Zweistaatengesellschaft in Deutschland. Bei einem Aktien-Konzern würde man von einer „Feindlichen Übernahme“ sprechen. Der SPD-Politiker Sarazin hat meiner Meinung nach recht, Deutschland schafft sich ab; besser ausgedrückt: Unsere internationalistischen grün-links-68er orientierten Volksvertreter schaffen Deutschland ab. Heute leben einschließlich Gäste rund 4.5 Millionen ethnisch türkischstämmige Menschen in Deutschland. Durch erhöhte Nachkommenzahl, durch weitere Zuwanderungen aus islamischen Ländern (nicht nur Menschen aus der Türkei) werden in Jahrzehnten mehr Menschen mit Migrationshintergrund leben als ethisch Deutsche.

  • Miriam S 01.10.2018, 13:11 Uhr

    geht's noch schlimmer? Deutschland lädt den Sultan ein, seine "Niederlassungen" hier zu inspizieren und sie zum weiteren Aufbau des Sultanats zu motivieren...sie bekommen von deutscher Seite zwar schon Unterstützung aber es kann ja nie genug sein... Preise dich glücklich , Colonia...ab jetzt kommen die Menschen aus aller Welt, um den Sultan in der Großen Moschee zu preisen und nicht mehr den alten Gott in der ehrwürdigen Kathedrale !

  • Jan 29.09.2018, 21:44 Uhr

    Leben die Bürger der Türkei wirklich schlechter und unfreier als z.B. die ukrainischen Bürger oder verschweigen deutsche Journalisten uns etwas weil politisch gewollt? Mir gefällt auch einiges nicht an der Politik in der Türkei, so z.B. der militärische Übergriff in Syrien. Nach meiner Meinung ist das ein gegen allgemeines Völkerrecht verstoßener Angriffskrieg eines NATO-Landes. Jedoch haben unsere Journalisten wie auch Politiker zu unterlassen Politiker anderer Staaten zu beleidigen. Das ist unstaatsmännisch und entspricht nicht den bei uns in Deutschland beständig betonten „Westlichen Werten“. Wenn ich schon die bei uns immer wieder genannte Rechtfertigung für pauschal ausgedrückte Beleidigungen gegen andere Staatspräsidenten höre dass in dessen Land Schwule und Lesben schlecht behandelt werden, dann sinkt meine Achtung dem Beleidiger gegenüber. Der türkische Präsident ist als Gast bei uns im Land und Gästen gegenüber ist man gastfreundlich und beleidigt sie nicht.