MONITOR vom 03.12.2015

Die Terroristen von Paris: Alles unter den Augen der Behörden?

Bericht: Anja Bröker, Philipp Jahn, Andreas Spinrath

Die Terroristen von Paris: Alles unter den Augen der Behörden? Monitor 03.12.2015 07:58 Min. Verfügbar bis 30.12.2099 Das Erste

Georg Restle: „Der Krieg gegen den Terror, er soll nicht nur in Syrien, sondern auch im Inneren geführt werden. Die Rezepte sind die immer gleichen, mehr Überwachung, mehr Rechte für die Geheimdienste, schärfere Gesetze. Dabei lehren die Terroranschläge von Paris vor allem eins: Viele der Attentäter waren den Behörden längst bekannt. Man wusste um ihre Gefährlichkeit - und ließ sie offenbar trotzdem kreuz und quer durch Europa und nach Syrien reisen. Philipp Jahn, Anja Bröker und Andreas Spinrath über die gefährliche Ignoranz von Sicherheitsbehörden.“

13. November - Terror mitten in Paris. 130 Menschen sterben, beim Konzert, in Straßencafés, vor dem Stadion. Verantwortlich dafür soll vor allem dieser Mann sein: Abdelhamid Abaaoud, Belgier mit marokkanischen Wurzeln. Gab es wirklich keine Möglichkeit, ihn zu stoppen?

Nathalie Gallant, Anwältin des Vaters von Abaaoud (Übersetzung Monitor): „Die Bedrohung wurde unterschätzt. Niemand hat gedacht, dass Abdelhamid Abaaoud selbst hierher kommen würde.“

Jan Philipp Albrecht, B‘90/Grüne MEP, Innenpolitischer Sprecher: „Es ist mir völlig schleierhaft, wie die Informationen über die Reisebewegungen von bekannten Gefährdern, dass die nicht aufgefallen sind.“

Brüssel 2010, Abaaouds Terror-Karriere beginnt unter den Augen der Behörden - im Gefängnis. Hier startet der Weg vom Kleinkriminellen zu einem der gefährlichsten Islamisten Europas. Abaaoud sitzt wegen eines bewaffneten Überfalls und Körperverletzung ein - als er im September 2012 wieder rauskommt, ist er ein anderer.

Nathalie Gallant, Anwältin des Vaters von Abaaoud (Übersetzung Monitor): „Er hatte plötzlich eine sehr harte Sicht auf den Westen, seine Denkweise war sehr radikal und antieuropäisch. Er hat seinem Vater vorgeworfen, seine Kinder zu europäisch erzogen zu haben.“

Nathalie Gallant spricht zum ersten Mal im deutschen Fernsehen. Sie ist die Anwältin von Abaaouds Vater, sie kennt die Ermittlungsakten. Nach der Zeit im Gefängnis wohnt Abaaoud wieder im Brüsseler Stadtteil Molenbeek. Hier findet er gefährliche Freunde, radikale Verführer, die auch ihn für den Kampf in Syrien rekrutieren. Wie so viele andere, zieht bald auch Abaaoud in den Dschihad. Vermutlich im Jahr 2013 schließt er sich in Syrien islamistischen Kämpfern an. Dann kehrt er zurück und rekrutiert selbst Nachwuchs. Seinen kleinen Bruder Younes holt er am 20. Januar 2014 selbst in Molenbeek ab, fährt mit ihm zum Flughafen Köln/Bonn: Im Gepäck Tickets für einen Flug nach Istanbul. Erstaunlich: Die Bundespolizisten am Flughafen fragen ihn lediglich nach seinen Reiseplänen. Denn von den belgischen Behörden ist Abaaoud zu diesem Zeitpunkt nur „zur Kontrolle“ ausgeschrieben - nicht zur Festnahme. Wie kann das sein? Ein radikaler Islamist, der schon einmal in Syrien war, auf der klassischen Reiseroute in den Dschihad, noch dazu mit seinem kleinen Bruder. Abaaoud wird nicht aufgehalten, kann ohne Probleme in die Türkei fliegen - Ziel: Syrien. Sein Vater wendet sich sofort an die belgische Polizei, ruft um Hilfe.

Nathalie Gallant, Anwältin des Vaters von Abaaoud (Übersetzung Monitor): „Er hat unmittelbar die Polizei kontaktiert und gesagt, Abdelhamid habe ihn gerade angerufen, sie seien in der Türkei. Er habe Younes mitgenommen und dem Vater vorgeworfen, er sei nicht fähig, ihn zu erziehen.“

Die Behörden wissen also Bescheid - noch bevor die Brüder in Syrien ankommen. Mit gerade einmal 13 Jahren wird Younes zum jüngsten Islamisten Europas, und zum Propagandaerfolg für den IS.

Bruno Schirra, Autor „ISIS - Der globale Dschihad“: „Warum fragt die deutsche Bundespolizei sich an jenem Tag nicht, was will der Mann hier? Wo will der hin? Wo will der wirklich hin? Da hat die Bundespolizei versagt.“

In Syrien wird Abaaoud jetzt zum Idol der belgischen Dschihadisten. Er rückt in der Hierarchie des IS auf, veröffentlicht ab Frühjahr 2014 grausame Propaganda, Bilder von Gräueltaten. Eine Radikalisierung, die den Behörden nicht entgangen sein kann. Und er hat sogar Kontakte zu deutschen Dschihadisten, aus Dinslaken. Diese Fotos zeigen seine engsten Vertrauten mit deutschen Kämpfern, dieses sogar Abaaoud selbst mit einem Deutschen. Selbstmordattentäter, Folterer, Mörder. UAbaaoud - einer von ihnen, offensichtlich hochgefährlich. Und trotzdem dauert es noch Monate, bis die belgischen Behörden am 28. August 2014 einen internationalen Haftbefehl für Abaaoud ausstellen. Dieser hätte eigentlich sofort im so genannten Schengen-Informationssystem eingetragen werden müssen, um Abaaoud am Reisen innerhalb Europas zu hindern. Genau das sei aber nicht passiert, behauptet Islamismus-Experte Bruno Schirra.

Bruno Schirra, Autor „ISIS - Der globale Dschihad“: „Der internationale Haftbefehl ist allen westlichen Behörden erst im Januar 2015 bekannt geworden. Er ist ausgestellt worden im August. Von August bis Januar konnte Herr Abaaoud seine Terrorkarriere deswegen weiter professionalisieren.“

Wegen solcher Versäumnisse der Behörden kann Abaaoud plötzlich wieder unbehelligt in Europa auftauchen. Von Athen aus soll er Anschläge in seiner Heimat Belgien geplant haben. Nur wenige Tage nach den Attentaten auf Charlie Hebdo in Paris stürmen Polizeikommandos ein Versteck in Verviers, das Abaaoud mit zwei Begleitern angelegt hat. Abaaouds Begleiter werden dabei getötet, ihn finden die Spezialkräfte nicht - obwohl sein Handy geortet wird. Selbst US-Behörden warnen mittlerweile vor dem untergetauchten Belgier. Das Heimatschutzministerium stellt fest:

Zitat: „(...) dass die Gruppe inzwischen fähig ist, weitere komplexe Operationen im Westen zu starten.“

und

Zitat: „(...) dass die Zelle auch europäische Länder wie Frankreich, Griechenland, Spanien und die Niederlande im Visier hatte.“

Bruno Schirra, Autor „ISIS - Der globale Dschihad“: „Er geht zurück nach Europa, mehrmals. Er hätte auffallen müssen. Man hätte ihn abgreifen können. All dies ist nicht geschehen. Er führt sie alle an der Nase herum, kreuz und quer durch Europa.“

Noch einmal reist Abaaoud zurück nach Syrien, brüstet sich im Propagandamagazin des IS, wie er ungehindert zwischen dem selbsternannten Kalifat und Europa hin- und herpendeln konnte, macht sich über die Sicherheitsbehörden lustig.

Zitat: „Mein Name und mein Foto waren überall in den Nachrichten. Trotzdem konnte ich in ihrer Heimat bleiben, Operationen gegen sie planen und sicher ausreisen, als es nötig wurde.“

Und dann: Abaaouds letzte Reise nach Paris. Obwohl er mittlerweile in Brüssel in Abwesenheit zu 20 Jahren Haft verurteilt wurde, schaffte er es angeblich schon im September unerkannt in die französische Hauptstadt. Wieso war das nicht zu verhindern? Junge Terroristen, deren Gefährlichkeit unterschätzt und die nicht verfolgt wurden. Schlupflöcher an den Grenzen, mangelnder Austausch der Behörden. Was müsste getan werden? Noch mehr Daten sammeln, noch schärfere Gesetze - oder schlicht bessere Ermittlungsarbeit?

Jan Philipp Albrecht, B‘90/Grüne, MEP, Innenpolitischer Sprecher: „Also es ist wirklich ein Problem, dass wir wissen in den meisten Fällen, welche Nadeln wir suchen. Aber derzeit eigentlich nur auf die Idee kommen, den Heuhaufen zu vergrößern und immer sozusagen Daten auf einen großen Haufen zu werfen, aus dem wir eigentlich die relevanten Informationen ziehen wollen. Und dass das nicht gut gehen kann, dass das die falsche Richtung ist, das zeigt sich jetzt, glaube ich, auch nach diesen Anschlägen, wo klar wird, wir brauchen die Informationen über die Nadeln und nicht über das ganze Heu.“

Man hätte Abaaouds Terror stoppen können. Hinweise, Indizien, Spuren gab es mehr als genug. Man hätte nur rechtzeitig eingreifen müssen.

Kommentare zum Thema

  • Don.Corleone 05.12.2015, 14:31 Uhr

    @-Betty Erath .: Richtig . Auch bezgl. Sanktionen ist Kein Amt brutaler als d. Arbeits-Amt-System .Darauf ist d. dt.Politik stolz . Da kann sie d. staatl. Keule so richtig schwingen. Bei d. Illegalen Migranten macht man aber beide Augen zu! WER dagegen schäumt, ist gleich ein NAZI o. Rassist ,,, da ist d. Lügenpresse sofort vorstellig . Warum? Zweierlei Justiz, Staatl. Rechtsbeugung ! Ladendiebstähle werden v.d. dt.Justiz nur durchgewunken u. abgehakt ! Keine Strafe , NICHTS ! Das ist von berlin so gewollt ! Alles Negative, Kriminelle muß v.d.Medien u.d.Justiz ignoriert werden, es könnte d. "Dt.Image" schädlich werden ! Nur Kein Dreck ü. merkel u. co. !

  • H.Ewerth 05.12.2015, 13:35 Uhr

    Bekämpft die Ursachen, dann gibt es auch weniger Terror und Flüchtlinge. Solange aber der Westen mit seinen gerade einmal 10% der Weltbevölkerung, den Rest der Welt schon seit Jahrzehnten, wenn nicht schon seit Jahrhunderten, als seine Kolonien zu betrachten und auch so zu behandeln, braucht sich niemand im Westen über Terror und Flüchtlinge beschweren. Warum also protestiert denn so gut wie niemand im Westen, gegen Völkerrechtswidrige Kriege? gegen die Destabilisierung von Ländern? gegen Drohnen Einsätze? gegen Waffenexporte? gegen das leer fischen der Meere durch westliche Fangflotten, gegen das kürzen von Entwicklungshilfe, gegen Landgrapping, gegen einseitige Handelsabkommen, in dessen Folge hunderttausende Existenzen zerstört wurden und werden? Hochsubventionierte Waren die Märkte vor Ort zerstören? Um alles aufzuzählen würde dieses Forum sprengen? Wie schrieb schon Jean Ziegler in seinem Buch sehr treffend: "Der Westen ein Imperium der Schande" Solange der Westen es ...

  • Herbert M. 05.12.2015, 12:10 Uhr

    Die Anzeichen verdichten sich, dass der Pariser Anschlag letztlich als eine LIHOP ("Let it happen on purpose") Operation anzusehen ist, d.h. die Dienste wussten Bescheid und liesen die Attentäter gewähren. Ein unvorstellbare Schlussfolgerung? Nun - nur, wenn man sich nicht mir der Geschichte auskennt und nicht weiss, dass es viele Beispiele für solche Operationen bereits gibt.