MONITOR vom 02.04.2020

Am Rand der Gesellschaft: Wie die Corona-Krise Armut verschärft

Bericht: Niklas Schenk, Andreas Maus

Am Rand der Gesellschaft: Wie die Corona-Krise Armut verschärft Monitor 02.04.2020 09:44 Min. UT Verfügbar bis 02.04.2099 Das Erste Von Niklas Schenk, Andreas Maus

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Georg Restle: „Eine private Trauerfeier in einem Kölner Seniorenheim. Eigentlich hätten sie gerne in einer Kirche gebetet, aber das wäre in diesen Zeiten zu gefährlich gewesen.

Heute wäre wohl nicht mal mehr eine solche Feier möglich. Guten Abend und willkommen bei MONITOR. Die Aufnahmen haben wir schon vor einigen Tagen gemacht. Die Gemeindereferentin, die Sie da gerade gesehen haben, haben wir zwei Wochen lang begleitet. Sie arbeitet in einem Stadtteil von Köln, den viele als sozialen Brennpunkt bezeichnen, weil ein großer Teil der Menschen dort von geringem Einkommen oder Hartz-IV leben muss. Was bedeutet die Corona-Krise vor allem für diejenigen, die ohnehin schon wenig haben, wenn soziale Hilfsangebote wegfallen und es nicht mal mehr Flaschen zum Sammeln gibt? Andreas Maus und Niklas Schenk über Menschen, die gerade aus dem Blick zu geraten drohen.“

Köln-Vingst, einer der ärmsten Stadtteile Kölns. Wir sind unterwegs mit Marianne Arndt. Sie arbeitet hier als Gemeindereferentin in der katholischen St. Theodor-Gemeinde. Seit der Corona-Krise ist sie rund um die Uhr im Einsatz.

Marianne Arndt, Gemeindereferentin Kath. Kirchengemeinde St. Theodor, Köln-Vingst: „Also für mich zeichnet sich Vingst aus, dass es besonders arm ist, weil es viele, viele Menschen hat, die Hartz-IV-Empfänger sind, alleinerziehend sind, aus unterschiedlichen kulturellen Gegebenheiten kommen, viele Menschen mit geringerem Bildungsniveau. Und all dies sammelt sich leider Gottes hier in diesem Stadtteil an, und das ist eine Ballung.“

Ein sozialer Brennpunkt. 13.000 Menschen leben in Vingst. 15 Prozent sind arbeitslos. Laut Kirchengemeinde sind 26 Prozent der Haushalte überschuldet und mehr als die Hälfte der Kinder von Armut betroffen. Zwei Wochen haben wir Marianne Arndt bei ihrer Arbeit begleitet. Sie erlebt täglich, wie die Corona-Krise die Armut noch weiter verschärft. Über sie lernen wir die Familie Olberz kennen. Die Familie hat fünf kleine Kinder zwischen 10 Monaten und 7 Jahren – und ist in Not. Die Kinder hatten Kontakt mit einem Corona-Positiven und sind in Quarantäne. Wir dürfen nicht mit in die Wohnung. Deswegen bitten wir Christoph und seine Frau Melanie, für uns in der Wohnung zu filmen. Christoph Olberz ist freier Fotograf, Alleinverdiener. Mit dem Verdienst kommt die Familie sonst gerade so über die Runden. Und nun sind alle fünf Kinder den ganzen Tag in der Wohnung. Da ist arbeiten kaum möglich. Und, Aufträge bleiben wegen Corona aus.

Christoph Olberz, Familienvater: „Ernährer einer siebenköpfigen Familie und dann selbstständig, und nur Ein-Mann-Unternehmen, und dann nicht arbeiten zu können, das sieht dann natürlich nach einem finanziellen Gau aus.“

Was die Corona-Krise für die einkommensschwächsten der Gesellschaft bedeutet? Im Park treffen wir diese Männer. Sie leben von Hartz-IV, einer ist obdachlos. Kleine Zuverdienste wie Flaschensammeln fallen für sie jetzt weg.

Mann im Park: „Früher war das ganz normal, dass überall Flaschen waren. Und dass man sich nicht aufgehalten hatte. Und jetzt findet man kaum Flaschen so.“

Detlef Hammer hatte eigentlich einen Ein-Euro-Job als Park-Reiniger. Doch der Zuverdienst ist gestrichen. Das Jobcenter Köln hat viele dieser Jobs vorerst ausgesetzt – die Leute sollen sich so wenig wie möglich begegnen, teilt man uns auf Anfrage mit.

Detlef Hammer: „Wir kriegen kein Geld, wir sind einen Monat freigestellt. Man sollte uns mindestens 80 Cent geben als Entschädigung.“

2. Mann: „Einen Ausgleich.“

Detlef Hammer: „Als Ausgleich.“

Reporter: „Was haben Sie denn jetzt momentan in der aktuellen Zeit? Was bleibt Ihnen noch?“

Detlef Hammer: „209,- Euro.“

Reporter: „Im Monat?“

Detlef Hammer: „Im Monat.“

Ohne den Ein-Euro-Job fehlten ihm 230 Euro, sagt er. Direkthilfen für Ein-Euro-Jobber sind in den Milliardenprogrammen vom Bund nicht vorgesehen.

Detlef Hammer: „Da muss die Regierung auch für uns was tun. Nicht nur für die Großen, auch für die Kleinen. So sieht das aus.“

Sie fühlen sich allein gelassen. Und es gibt noch ein Problem. Am Tag, nachdem die bundesweite Kontaktsperre verhängt wurde, hat auch in Vingst die Tafel geschlossen. Für viele ein gravierender Einschnitt, wie uns Marianne Arndt zeigt. Jeden Dienstag kamen bis zu 200 Menschen hierher, um sich mit Essen zu versorgen. Menschen, die auf die Tafel angewiesen sind. Doch zu groß war die Sorge, dass sich die vielen Bedürftigen und die Tafel-Mitarbeiter auf so engem Raum gegenseitig anstecken. Wo sich der Sozialstaat zurückzieht, verschärft sich nun die Not.

Norbert Zeys, Lebensmittelausgabe St. Theodor, Köln-Vingst: „Für die Leute ist das absolut der Gau. Und wenn ich für meine Mitarbeiter sprechen darf, denen geht das auch nicht anders.“

Marianne Arndt, Gemeindereferentin Kath. Kirchengemeinde St. Theodor, Köln-Vingst: „Das ist ja hier auch Kommunikation und gibt eine Wochenstruktur. Und natürlich noch die Hilfe der Lebensmittel, ne. Das heißt also, es ist eine doppelte Armut, die jetzt hiermit noch mal produziert wird.“

In Köln hat rund die Hälfte der 35 Tafeln zu dieser Zeit die Arbeit eingestellt. In Vingst ist das besonders dramatisch, denn die Menschen werden hier nicht nur mit Essen versorgt, sondern auch mit Kleidung und anderen Dingen des täglichen Bedarfs. Fast 30 Prozent der Menschen leben im Stadtteil Vingst von Hartz-IV. Die Tafel ist vor allem für sie überlebenswichtig. Ohne diese Hilfe wird das Leben teurer. Aber eine Erhöhung der Regelsätze ist in den Plänen der Bundesregierung nicht vorgesehen.

Marianne Arndt, Gemeindereferentin Kath. Kirchengemeinde St. Theodor, Köln-Vingst: „Meines Erachtens müsste jetzt aktuell ein Sofortprogramm starten und pro Hartz-IV-Empfänger und Kind 50,- Euro mehr bezahlt werden. Und wenn das mit der nächsten, monatlichen Rate denen auf das Konto kommt, dann könnte ich mir vorstellen, dass das eine Hilfe wäre.“

Zurück zur Familie Olberz. Über eine Woche schon dauert jetzt die Quarantäne der siebenköpfigen Familie. Wir fragen durchs offene Fenster. Der Lagerkoller macht allen zu schaffen – und vor allem die Geldsorgen.

Christoph Olberz, Familienvater: „Natürlich ist hier die Panik, wenn man nicht zum Arbeiten kommt, nicht weiß, ob man die Familie ernähren kann. Ich schreie dann zwischendurch rum, weil ich dann einmal kurz ruhen müsste, um irgendeine Tätigkeit mal fertig zu bekommen, irgendein Mailing oder irgendeine Abrechnung.“

Die drei ältesten Kinder essen sonst täglich in der Kita oder Schule, nun müssen sie jeden Tag zu Hause bekocht werden. Und viele günstige Produkte sind in den Supermärkten schnell vergriffen. All das heißt für die Familie weniger Einkommen, höhere Kosten – wegen der Corona-Krise. Etliche soziale Einrichtungen haben mittlerweile geschlossen. Dichtmachen war hier beim Sozialdienst Katholischer Männer keine Option. Hierher kommen die, die überhaupt keine Lobby haben, suchtkranke Menschen und Obdachlose. Das Café ist geschlossen, aber die Essensausgabe läuft weiter. Für viele ist die Beratungsstelle der letzte Rettungsanker in Zeiten von Corona. Für Kevin etwa.

Reporter: „Wie ist denn Ihre Situation? Beschreiben Sie mal ein bisschen.“

Kevin: „Ja, so ohne Wohnung und so weiter. Also das ist nicht so interessant.“

Reporter: „Aber wo wohnen Sie denn gerade?“

Kevin: „Auf der Straße. Deswegen finde ich gut, dass die hier noch weiter aktiv sind und den Leuten was zu essen anbieten und so weiter, weil mit leerem Magen ist nicht so schön.“

Und dann doch noch eine gute Nachricht. Vorgestern öffnete auch die Vingster Tafel wieder. Lebensnotwendig hier, wo das Existenzminimum nicht mehr ausreicht, in Zeiten von Corona. Deswegen hat man eine neue Lösung gefunden.

Norbert Zeys, Lebensmittelausgabe St. Theodor, Köln-Vingst: „Wir wollen innen drinne, damit das abgeschottet ist und nicht dem Sonnenlicht ausgesetzt ist, innen drinne in Tüten verpacken, dann die Tüten wieder raustragen und dann den Leuten in die Hand drücken sozusagen, in die Hand drücken.“

So ist die Ansteckungsgefahr geringer. Hilfe kommt vom Fußball-Bundesligisten 1. FC Köln. Mitarbeiter des Vereins achten darauf, dass die Menschen Abstand halten. Der Bedarf ist groß, es kommen mehr als 100 Menschen.

Zurück zur Familie Olberz. Zwei Wochen Quarantäne sind vorbei. Endlich wieder Besuch: Marianne Arndt kommt, um der Familie zu helfen.

Marianne Arndt: „Da hast du schon angefangen, Antrag auf Soforthilfe 2020.“

Als selbstständiger Fotograf könnte Familienvater Christoph die Soforthilfe aus den Hilfspaketen der Bundesregierung erhalten. Eine Unterstützung, die er dringend braucht. Genauso wichtig für ihn aber: die Hilfe aus der Gemeinde.

Christoph Olberz: „Also wenn wir diese Hilfe nicht bekommen hätten, wären wir absolut verzweifelt. Das gibt Hoffnung und das bringt frischen Wind rein, diese Herzlichkeit, das ist also wirklich en Geschenk des Himmels, das ist zauberhaft.“

Endlich wieder raus mit der ganzen Familie. Und die Hoffnung nicht aufgeben. So wollen sie hier in Köln-Vingst irgendwie durchkommen durch die Krise.

Kommentare zum Thema

  • Sylvia 12.09.2020, 23:36 Uhr

    Inwieweit verschärft Corona bestehende Armutsproblematiken in Deutschland?

  • Squareman 21.04.2020, 08:28 Uhr

    Die letzten beißen die Hunde, das war schon immer so. Der deutsche Staat hat sich aus dem Sozialen schon lange zurückgezogen und hat das an ehrenamtliche Helfer delegiert. Sozialstaat kostet Geld, also hat man ihn abgeschafft. Die Krise ist mal wieder eine riesige Umverteilung von unten nach oben. Wenn Adidas Milliarden bekommt muss das auch jemand bezahlen. Und das sind im Endeffekt die armen Arbeiter und Angestellten die sich nicht arm rechnen können und die kleinen Unternehmer die ihre Gewinne nicht ins Ausland verschieben können. Profitieren werden die Reichen und die Großkonzerne, denen wird das Geld nachgeschmissen.

  • Horst Necker 12.04.2020, 13:02 Uhr

    Wenn ich Steinmeier sehe, singt bei mir im Hinterkopf eine Stimme: „Agenda, Agenda ..“. Der systemrelevante Regaleinräumer als Aufstocker würde sich über einen höheren Mindestlohn bestimmt mehr freuen als über den Applaus von Großverdienern. Ist nicht genug Arbeit da braucht man ein Grundeinkommen, das auf alle Fälle höher ist als Hartz4; Peter Hartz ist auch von höheren Beträgen ausgegangen aber Gerd Schröder hat für den besten Niedriglohnsektor mit Altersarmut gesorgt. Ein „Existenzminimum“ das „nicht ausreicht“ ist kein Existenzminimum. Ohne Maßnahmen gegen Lohndumping kann man das Problem nicht beheben, dass von der Mitte immer mehr an den „Rand der Gesellschaft“ gedrückt werden aber wenn man an Freihandel in der Globalisierung festhalten will, kann man Lohndumping nicht ausreichend bekämpfen. So weit, so Links; Löhne werden aber auch mit Ausländern im Inland oder mit Produktionsverlagerung in Billiglohnländer gedrückt. Das ist nicht neu, die Probleme werden aber jetzt deutlicher.

    • Squareman 21.04.2020, 08:33 Uhr

      Sie haben Recht. Bei Steinmeier denke ich auch immer "Not my President ". Der neoliberale Kurs wurde auch von Merkel weitergeführt. In der Krise werden wieder die Reichen reicher, und die Armen ärmer. Das ganze ist mal wieder eine gigantische Umverteilung von unten nach oben.