Georg Restle: "Dieses Bild hier stammt aus einer Überwachungskamera eines Kiosks. Ein Mann an die Wand gestellt von schwer bewaffneten Polizeibeamten. Eine Razzia gegen die so genannte Clankriminalität. Über einhundertmal hat die Polizei die Geschäfte dieses Mannes in den letzten Jahren gestürmt. Und falls Sie sich jetzt wundern, warum wir das Gesicht dieses Mannes nicht unkenntlich gemacht haben. Die Erklärung ist ganz einfach, dieser Kioskbesitzer hat mit Clankriminalität nichts zu tun; und wie ihm geht es vielen im Land. "Politik der 1.000 Nadelstiche" nennen Innenminister das. Und meinen damit, möglichst viele Menschen überwachen, kontrollieren und drangsalieren, um vielleicht irgendwann mal fündig zu werden oder schlicht um die Öffentlichkeit zu beruhigen. Und dabei reicht es oft, nur den falschen Namen zu haben, um ins Visier der Polizei zu geraten. Eine gemeinsame Recherche mit der Süddeutschen Zeitung. Andreas Spinrath."
Großeinsatz in Frankfurt. Die Polizei stürmt einen Kiosk im Frankfurter Gallusviertel. Aufnahmen von Überwachungsvideos, die zahlreiche Polizeikontrollen dokumentieren, immer gegen dieselbe Person – über Jahre.
Ismail Sahan: "Das hat mit 2019 angefangen, jeden Tag … dreimal die Woche."
Ismail Sahan ist Familienvater, 39 Jahre alt. Er betreibt einen Kiosk mit Trinkhalle und eine Shishabar. Seit 2019 hat er 150 Polizeieinsätze in seinen Läden gezählt, manchmal an drei Tagen hintereinander. Warum sie kommen? Er habe keine Ahnung, erzählt er uns, als wir ihn das erste Mal treffen.
Ismail Sahan: "Seitdem habe ich ständig Polizeidurchsuchungen. Auch wenn ich Polizei frag ob, ob die dann Gerichtsbeschluss haben? Durchsuchungsbefehl? Die zeigen mir gar nicht. Die marschieren einfach rein."
Ismail Sahan ist Kurde, als Elfjähriger flüchtete er ohne seine Eltern nach Deutschland, hat sich hier etwas aufgebaut. Seine Geschäfte hätten durch die Kontrollen schwer gelitten:
Ismail Sahan: Ich hatte sehr guten Ruf gehabt. Und jeder Nachbar hat mich sehr gemocht. Ich habe Kasten, Bier, Kasten Wasser, so Getränke geliefert. Und ab 2019 hab ich nach und nach keine Lieferungen mehr."
Menschen wenden sich ab.
Ismail Sahan: "Die haben Angst. Die sagen, Polizei kommt nicht ohne Grund. Habe aber ich zwei, drei Nachbarinnen, die haben mir eiskalt Antwort gegeben. Was machen Sie da falsch? Polizei kommt nicht ohne Grund."
Nur was macht er falsch? Diese Frage hat er sich schon oft gestellt. Er ist Teil einer großen Familie. Natürlich könne er nicht für jeden Verwandten die Hand ins Feuer legen, aber er selbst sei nie strafbar geworden. Wird er also nur deshalb kontrolliert, weil entfernte Verwandte womöglich verdächtig sind? "Kriminelle Großfamilien" – seit Jahren eines der beherrschenden Themen in deutschen Medien.
Medien: "Die Razzien der letzten Monate machen das Ausmaß der Clankriminalität … Zoll, Finanzbehörden, das Ordnungsamt und Polizei arbeiten zusammen … in Duisburg oder Gelsenkirchen machen kriminelle Clans regelmäßig … immer Razzien, immer wieder Prozesse, Ermittlungen … türkisch-arabischen Familienclan … im September 15 kg unversteuerten Shisha-Tabak …“
Der Kampf gegen die so genannte "Clankriminalität" – Politiker wie NRW-Innenminister Herbert Reul zeigen sich hier besonders entschlossen.
Özgür Özvatan, Sozialwissenschaftler, Humboldt-Universität Berlin: "Die Politik reagiert in der medialen Darstellung auf Clankriminalität, indem Personen, Amtsinhaber wie Herbert Reul in NRW als … als heroische Figuren dargestellt werden, die endlich einmal gegen arabische Clans und Großfamilien durchgreifen. Und dieses Durchgreifen in Form von Großrazzien wird medial groß dargestellt und auch zelebriert."
Im Kampf gegen sogenannte Clankriminalität setzt die Politik auf ständige Kontrollen. NRW-Minister Reul nennt das eine "Politik der 1.000 Nadelstiche". Dabei begleitet die Polizei beispielsweise den Zoll oder das Ordnungsamt bei Kontrollen von Gastronomiebetrieben wie Shisha-Bars. Das erleichtert die Polizeiarbeit. Man braucht keinen Durchsuchungsbeschluss, keinen konkreten Tatvorwurf, keinen Anfangsverdacht. Der sogenannte "administrative Ansatz".
Jens Struck Kriminologe, Deutsche Hochschule der Polizei: "Durch den administrativen Ansatz sind natürlich die Zugänge zu entsprechenden Orten oder Etablissements sehr viel leichter und man braucht weniger Verdachtsmomente als bei der herkömmlichen Strafverfolgung."
Wie verteidigt NRW-Innenminister Herbert Reul, dass hier auch immer wieder Unschuldige ins Visier geraten? Seit 2019 gab es allein in NRW fast 2.500 Kontrollaktionen. Wir treffen Reul in Düsseldorf:
Herbert Reul (CDU), Innenminister Nordrhein-Westfalen: "Das, was wir machen, ist nicht ohne Nebenwirkungen. Das, finde ich, muss man zu stehen. Kontrolle bedeutet immer, Sie werden viele Menschen auch belästigen, die sich gar nichts haben zuschulden kommen lassen."
Belästigen? Die Folgen im Fall von Ismail Sahan sehen so aus: Die Polizei, das Ordnungsamt, der Zoll, die Steuerfahndung, das Gesundheitsamt, das Bauamt. Alle interessieren sich seit Jahren für die Läden von Ismail Sahan. Bußgelder für angeblich fehlende Corona-Testnachweise, angebliche Lärmbelästigung. Geringfügige Verstöße, und die ganze Zeit wird ihm nicht mitgeteilt, warum er überhaupt so oft kontrolliert wird. Das erfährt er erst durch unsere Recherchen. Auf Anfrage schreibt das Landeskriminalamt Hessen uns schließlich, dass die Kontrollen tatsächlich im Zusammenhang mit "Clankriminalität" standen. Wir fragen nach bei der Staatsanwaltschaft: Ermittlungen gegen Ismail Sahan selbst gibt es nicht. Die Polizei schreibt, sie habe ihr Vorgehen immer transparent dargestellt. Ismail Sahan sagt, niemand habe mit ihm gesprochen.
Ismail Sahan: "Ich bin schockiert, ehrlich. Ich hab … Ich habe nicht geglaubt, dass in Deutschland so was passiert. Ich habe gedacht, wenn man Straftäter ist, dann hat man schwarz auf weiß Straftaten. Und dann kommen Sie. Strafanzeigen, Anhörungen. Und kommen Sie vor Gericht."
Bleibt das von der Politik der 1.000 Nadelstiche übrig? Ordnungswidrigkeiten und Bußgelder?
Herbert Reul (CDU), Innenminister Nordrhein-Westfalen: "Das ist der sogenannte Kleinkram. Das sind Verstöße, die nicht strafbar sind. Aber die entscheidenden Zahlen sind für uns natürlich die Zahlen, die mit Strafbarkeit zu tun haben, wissen Sie. Und das sind eigentlich die bedeutenden Dinge."
Schaut man ins "Lagebild Clankriminalität" findet man sofort die entscheidenden Zahlen. 5.462 mutmaßliche Straftaten zählt die Polizei in NRW im Jahr 2021. Aber, in der Polizeilichen Kriminalstatistik NRW finden sich für 2021 insgesamt mehr als 1,2 Millionen Straftaten. Die "Clankriminalität" macht nicht einmal 0,5 Prozent aus.
Prof. Tobias Singelnstein, Kriminologe, Goethe-Universität Frankfurt a. M.: "Das, was Polizei und Politik unter Clankriminalität verstehen, macht – wenn man sich die statistische Erfassung anguckt – nur einen sehr, sehr, sehr geringen Teil des insgesamt erfassten Kriminalitätsaufkommens aus. Und auch wenn man sich den Bereich der organisierten Kriminalität, der Wirtschaftskriminalität, also schwererer Kriminalitätsformen anguckt, ist das, was unter Clankriminalität gefasst wird, eben nur ein Teilbereich."
Ein Teilbereich, in dem Politik und Polizei wenig zimperlich sind. NRW setzt bei der Bekämpfung etwa auf den "namensbasierten Ansatz", ordnet die Straftaten also einfach bestimmten Familiennamen zu. Die sind hier anonymisiert, in der Presse fallen die Namen dennoch ständig. Was das bedeuten kann, zeigt die Geschichte von Herrn Omeirat. Er will nicht erkannt werden, denn sein Nachname ist hier im Ruhrgebiet geradezu berüchtigt, steht für einen kriminellen Clan. Der "namensbasierte Ansatz" führt bei ihm dazu, dass er sich im Alltag ständig rechtfertigen muss.
Omeirat: "Egal, wo Sie sind, wenn Sie in öffentlichen Gebäuden sind, in Ämtern. Oder wenn Sie irgendwo anrufen und sich als Omeirat vorstellen. Sie merken die Reaktionen."
Im vergangenen Sommer soll Herr Omeirat eine Stelle als Führungskraft bei einem großen Einzelhändler antreten. Kurz vor dem Arbeitsantritt, so erzählt er, rufen ihn die Chefs zu sich, sie hätten etwas herausgefunden:
Omeirat: "Ja, das ist eine großer Vertrauensbruch gewesen, Sie hätten uns sagen müssen, dass Sie einem großen Familienclan angehören. Wir können uns nicht erlauben, dass Sie mit dem Namen Omeirat auf der Brust in unserem Unternehmen rumlaufen, das geht nicht. In jedem Fall haben die mir dann auch gesagt, dass ein sehr, sehr guter Freund von denen bei der Polizei arbeitet, und der ihm gesagt hat, hör mal, seid ihr eigentlich bekloppt, wen habt ihr da eingestellt? Kennt ihr die Familie eigentlich?"
Der Arbeitgeber bestreitet auf Anfrage die Anschuldigungen, aber Omeirat verklagt die Firma wegen Diskriminierung und scheitert vor dem Arbeitsgericht mit einer denkwürdigen Begründung:
Omeirat: "Der Richter hat dann schnell klar und deutlich gemacht, es handelt sich nicht um eine Diskriminierung – nach seiner Auffassung."
In der Urteilsbegründung steht, "benachteiligende Maßnahmen" wegen des Familiennamens entsprächen
Zitat: "(…) weder dem Merkmal der 'Rasse', noch dem Merkmal der 'ethnischen Herkunft'."
Keine Diskriminierung, obwohl der Name mit "Clankriminalität" verbunden wird?
Özgür Özvatan, Sozialwissenschaftler, Humboldt-Universität Berlin: "Namensbasierte Ansätze stellen Menschen unter Generalverdacht. Alle Menschen, die einen Familiennamen tragen, einen bestimmten Familiennamen tragen, werden unter Generalverdacht gestellt. Das stellt natürlich im alltäglichen Leben große Probleme für diese Menschen dar. Wenn sie beispielsweise ihre Kinder in Schulen anmelden oder einem Beruf nachgehen möchten und dabei direkt kriminalisiert werden aufgrund des Nachnamens."
Ist es das wert? Und: Wird die Bekämpfung der Clankriminalität für öffentlichkeitswirksame Symbolpolitik benutzt? Das gibt sogar Herbert Reul zu.
Herbert Reul (CDU), Innenminister Nordrhein-Westfalen: "Ich glaube, bei jeder Aktion die Polizei macht, will sie auch eine öffentlichkeitswirksame Wirkung erzielen. Halte ich übrigens für nicht ganz unwichtig, dass die Bürgerinnen und Bürger auch das Gefühl haben, der Staat ist nicht machtlos, sondern er kümmert sich."
Symbolpolitik, um die Bevölkerung zu beruhigen? Bewirkt werde häufig das Gegenteil, sagen Kritiker.
Prof. Tobias Singelnstein, Kriminologe, Goethe-Universität Frankfurt a. M.: "Das heißt, dass diese Kampagnen, diese kriminalpolitischen Kampagnen befördern auch rassistische Ressentiments in der Gesellschaft. Ja, also ich glaube, dass die Symbolpolitik, die, die dahinter steckt, die damit betrieben wird, ein wesentlicher Teil des Problems ist."
Opfer dieser Kampagnen, wie Ismail Sahan, erleiden die Folgen dieser Politik jeden Tag.
Ismail Sahan: "Ihre Ruf geht kaputt. Meine Kinder hatten Angst. Meine Kinder hatten Angst, dass sie nachts Tür kaputt geht und – wie heißt es … und dann Durchsuchungen geht. Das haben wir alles erlebt."
Seine Bar und seinen Kiosk will er weiterbetreiben, sagt er – und hofft, dass er endlich in Ruhe gelassen wird.
Georg Restle: "Man stelle sich nur mal vor, die Polizei würde regelmäßig Geschäftsräume von Menschen stürmen, nur weil die Schmitt, Müller oder Maier heißen. Wahrscheinlich wäre dann die halbe Republik im Aufruhr. Ich kann Sie beruhigen, das wird wohl nie vorkommen."
Kommentare zum Thema
Sehr einseitig, der Bericht ! Jede Polizeimaßnahme ist gerichtlich überprüfbar. Warum wird das nicht gemacht? Ich vermute, wegen Erfolglosigkeit. Eine objektive Berichterstattung hätte das geklärt!!!
Dass sich Namen wie Remmo, Al Zein und so weiter nicht für PR Aktionen eignen und sich Firmen, die Wert auf ihr Image legen, nicht von Mitarbeitern mit diesen Namen repräsentieren lassen wollen, haben wohl kaum Staat und Polizei zu verantworten. Höchstens insofern, dass man diese "Familien" viel zu lange gewähren lassen hat. Diese Sendung war sehr einseitig was die Ursachenrecherche betrifft. Einem rechtschaffenen Angehörigen einer solchen Familie bleibt wohl nur eine Namensänderung und komplette Distanzierung von der kriminellen Verwandtschaft anzuraten.
Dieser Kommentar wurde gesperrt, weil er gegen unsere Netiquette verstößt. (die Redaktion)