MONITOR vom 03.03.2022

Aufrüstung im Westen: Abschreckung um jeden Preis?

Bericht: Ursel Sieber, Jochen Taßler

Aufrüstung im Westen: Abschreckung um jeden Preis? Monitor 03.03.2022 07:46 Min. UT Verfügbar bis 30.12.2099 Das Erste Von Ursel Sieber, Jochen Taßler

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Georg Restle: "Zur Wahrheit dieses Konflikts gehört natürlich auch, dass der Westen Putins Ambitionen jahrelang dramatisch unterschätzt hat. Als man sich noch als Sieger des Kalten Krieges wähnte, als Abrüstungsverträge reihenweise aufgekündigt wurden und Russland weder als Partner noch als Bedrohung ernst genommen wurde. Stattdessen gibt es jetzt die größte Aufrüstung in der jüngeren Geschichte dieses Landes. Dafür erhielt Olaf Scholz am Sonntag Standing Ovations im Bundestag. Wer hätte das bis vor kurzem noch für möglich gehalten? Allerdings – der Ukraine oder den NATO-Partnern wird diese gigantische Aufrüstung heute nichts bringen. Es sind Investitionen in eine ferne Zukunft. Fragt sich nur, in was für eine. Ursel Sieber und Jochen Taßler."

Französische Soldaten im Anflug auf Rumänien, Panzer auf dem Weg nach Osten. Die NATO verstärkt ihre Truppen an der sogenannten Ostflanke. Auch deutsche Soldaten sind dabei. Abschreckung gegen Putins imperiale Träume – und das Signal, dass die NATO ihre östlichen Partner verteidigen wird. Neue Entschlossenheit, auch im Deutschen Bundestag. Am Sonntag kam das Parlament zu einer Sitzung zusammen, die man wohl historisch nennen darf. Eine "Zeitenwende", sagen viele.

Olaf Scholz (SPD), Bundeskanzler, 27.02.2022: "Präsident Putin sollte unsere Entschlossenheit nicht unterschätzen, gemeinsam mit unseren Alliierten jeden Quadratmeter des Bündnisgebietes zu verteidigen."

Annalena Baerbock (B'90/Grüne), Bundesaußenministerin, 27.02.2022: "Wenn unsere Welt eine andere ist, dann muss auch unsere Politik eine andere sein."

Was vor kurzem noch unvorstellbar gewesen wäre, ist jetzt plötzlich Konsens. 100 Milliarden Euro Sondervermögen für die Bundeswehr, eine massive Anhebung des jährlichen Verteidigungsetats, die größte Rüstungsinvestition der jüngeren deutschen Geschichte. Beschlossen quasi über Nacht, bejubelt mit stehendem Applaus. Aber ist eine derart massive Aufrüstung wirklich die richtige Antwort auf den Krieg in der Ukraine heute?

Sabine Jaberg, Friedensforscherin: "Kurzfristig bringen diese Maßnahmen überhaupt nichts. Langfristig bringen sie uns mehr Konfrontation, mehr Unsicherheit, mehr Gefahr. Wir begeben uns in eine Rüstungsspirale hinein, die unter Umständen nicht beherrschbar ist, die eine Eigendynamik entwickelt und in der die Gefahr einer militärischen Konfrontation steigt."

Stimmen wie diese hört man selten in diesen Tagen. Auch in vielen Medien werden die Milliarden-Investitionen gefeiert. "Super, Scholz!" jubelt die Bild. Von einem "spektakulären Neuanfang" schreibt die Welt. Als es hätte es vorher keine Investitionen in die Bundeswehr gegeben. Dabei meldet die Bundesrepublik der NATO schon seit der Annexion der Krim Jahr für Jahr höhere Verteidigungsausgaben. Im Jahr 2020 waren es 51,6 Milliarden Euro. Wenn künftig – wie geplant – mehr als zwei Prozent der Wirtschaftsleistung für Verteidigung ausgegeben werden sollten, würde das einen Sprung auf mindestens 66 Milliarden jährlich bedeuten. Weit mehr als jedes andere Land in Europa.

Und auch der NATO dürfte es kaum an Geld fehlen. Finanziell ist sie schon jetzt deutlich stärker als Russland. Laut dem Friedensforschungsinstitut SIPRI lag das russische Verteidigungsbudget 2020 bei 61,7 Mrd. Dollar. Experten gehen davon aus, dass darin nicht alles erfasst ist. Tatsächlich dürften die Ausgaben zwei- bis dreimal so hoch sein. Aber auch dann ist Russland weit entfernt von NATO-Dimensionen. Schon ohne den größten Geldgeber USA addieren sich die Verteidigungsbudgets der NATO-Staaten auf rund 325 Milliarden Dollar. Rechnet man den riesigen Rüstungs-Etat der USA dazu, kommt die NATO rechnerisch auf ein Budget von über einer Billion Dollar. Und das dürfte jetzt noch weiter anwachsen.

Prof. Johannes Varwick, Politikwissenschaftler, Universität Halle-Wittenberg: "Das ist jetzt die politische Großwetterlage, dass alle Seiten aufrüsten werden, dass man sagt, wir müssen unsere Abschreckungsfähigkeit gegen Russland drastisch erhöhen. Das wird dazu führen, dass wir deutlich mehr Geld für Militär ausgeben. Das wird aber wiederum dazu führen, dass Russland das als Bedrohung empfindet. Und wir müssen raus aus dieser Eskalationsspirale. Und Außenpolitik hat die Aufgabe, auch an morgen und an übermorgen zu denken."

Eine neue Eskalationsspirale, befeuert durch immer höhere Rüstungsausgaben? Die Welt wäre schlecht darauf vorbereitet. Auch weil das Thema Rüstungskontrolle zuletzt kaum noch auf der internationalen Agenda stand. Anders als am Ende des Kalten Krieges. Damals wurde eine Reihe von Verträgen zur Abrüstung und Friedenssicherung entwickelt. Verträge, die auch Transparenz und Vertrauen geschaffen haben. Inzwischen wurden die meisten aber wieder aufgekündigt, vor allem von den USA. Der sogenannte KSE-Vertrag etwa. Er begrenzte die Zahl schwerer Waffen wie Panzer, Kampfflugzeuge und Artillerie. Nach dem Ende des Kalten Krieges wurden auf Basis dieses Vertrags mehr als 50.000 Waffensysteme zerstört. Nach dem Beitritt ehemaliger Warschauer-Pakt-Staaten zur NATO wurde ein Nachfolgeabkommen unterzeichnet. Russland ratifizierte es 2004, die NATO-Staaten nie. Ein schwerer Schlag für die Begrenzung konventioneller Waffen in Europa.

Oberst a. D. Wolfgang Richter, Stiftung Wissenschaft und Politik: "Für die Erosion der Rüstungskontrolle ist in erster Linie, glaube ich, die USA in die Verantwortung zu nehmen, denn es haben ja andere NATO-Staaten – gerade Deutschland – immer wieder versucht, die Rüstungskontrolle zu revitalisieren. Das ist uns aber nicht gelungen, weil die Blockade hier zu stark war. Und das ist jetzt natürlich – gerade aus heutiger Sicht – sehr bedauerlich, denn es sind viele Instrumente verlorengegangen, die die Sicherheitskooperation gefördert hätten, und die auch die Transparenz gefördert hätten. Wir haben sie nicht mehr."

Das gilt auch für die gefährlichste Waffenkategorie überhaupt: Atomwaffen. Russland hat das größte Arsenal weltweit. Und Machthaber Putin droht jetzt sogar damit, sie auch einzusetzen. Jahrzehntelang haben Ost und West versucht, die Zahl der Atomwaffen zu reduzieren. Heute werden nur noch die großen, sogenannten Strategischen Atomwaffen durch einen Vertrag begrenzt. Andere, wichtige Verträge wurden aufgegeben. Der INF-Vertrag etwa, ein historisches Abkommen. Mit ihm vereinbarten Russland und die USA schon 1987, einen großen Teil ihrer atomaren Mittelstreckenraketen abzuschaffen. 2019 traten die USA aus dem Vertrag aus, weil Russland dagegen verstoßen habe. Für atomare Mittelstreckenraketen gibt es seitdem keine Begrenzungen mehr. Und für neue Waffensysteme wurden bislang noch gar keine internationalen Regeln geschaffen. Hochgeschwindigkeits-Raketen, Cyber-Attacken, Drohnen, alles vollkommen unreguliert. Das mache die Lage derzeit vielleicht sogar gefährlicher als im Kalten Krieg, warnen Forschende. Erst recht, wenn jetzt global aufgerüstet werde.

Prof. Johannes Varwick, Politikwissenschaftler, Universität Halle-Wittenberg: "Wir werden Vertrauen wieder aufbauen müssen. Dafür ist die Konstellation in Europa zu kompliziert, und Russland wird ja nicht von der Landkarte verschwinden. Das heißt, es gibt mittelfristig keine Alternative zu Ausgleich und Rüstungskontrolle, und Aufrüstung und Abschreckung kann nicht die alleinige Antwort jetzt in dieser Situation sein."

Aufrüstung ist schnell beschlossen. Der Weg zurück zu Ausgleich und Rüstungskontrolle dürfte schwerer werden.

Kommentare zum Thema

  • Taube 21.03.2022, 10:28 Uhr

    Heute gibt es eine EU-Außenministerkonferenz. In dieser Konferenz wird in einer Art „Chorgesang“ beschlossen den Ukraine-Krieg „durch noch mehr Krieg“, durch noch mehr Waffenlieferung zu beenden (durch Benzin aufgießen das Feuer zu löschen). Denkbar wird es keine gegenteilige Meinung in der Konferenz geben. Der polnische Außenminister wirbt sogar für eine „Friedensmission“. Schon das Wort alleine wird als Lüge benutzt. Er will dass Soldaten der EU, NATO-Soldaten in die Ukraine einmarschieren und die Russen bekämpfen (mit Weltkriegfolge). Offenbar will niemand den Krieg beenden wollen wollen, obwohl das so einfach wäre. Einfach keine Waffen liefern und dem ukrainischen Präsidenten jegliche Unterstützung untersagen wenn er nicht den drei russischen Bedingungen zustimmt (Krim, Donbass, Neutralität). So könnte schon morgen das kriegerische Sterben in der Ukraine beendet sein. Auch der über Jahre dauernden Krieg der ukrainischen Regierung gegen die eigenen Ostukrainer wäre somit beendet.

  • Anonym 21.03.2022, 09:21 Uhr

    Linke dt. Politiker, Merkelianer und ihre Lautsprecher im Staatsfunk belügen uns bereits seit 1990 mit ihrer Propaganda,ihrem US-Bashing, ihrer Russenverehrung und ruinieren damit die gesamte EU !

  • Bürger 20.03.2022, 21:21 Uhr

    Warum ist eine Nichtanerkennung der Krim, des Donbass sowie die Ablehnung eines neutralen Status der Ukraine wichtiger als das Leben tausender Menschen. Wenn dieser Krieg nun vorsätzlich zum Weltkrieg gesteigert wird, als viele hunderte Millionen Menschen, Tiere und Naturschäden? Nicht nur Putin hat die Macht den Krieg zu beenden, auch Selensky, und der US-Präsident. Die Donbass-Bevölkerung wird nun schon acht Jahre von der ukrainischen Armee im Auftrag von derer Präsidenten Poroschenko und Selensky bekriegt. Aus diesem Krieg heraus ist nun der russische Krieg gegen die Ukraine entstanden und folgend wird es wahrscheinlich noch zu einem Weltkrieg kommen. Wann endlich stimmt der ukrainische Präsident eine Verselbsständigung der Donbassbevölkerung und der Krimbevölkerung (zu Russland gehörig) zu. Warum lassen heutzutage noch Politiker mithilfe ihrer journalistischen Meinungsmacher wegen verwaltungsmäßigen Landeszugehörigkeit Menschen sterben und Staaten zerstören? Wir brauchen Frieden!