MONITOR vom 19.08.2021

Scheitern mit Ansage: Die deutsche Afghanistan-Politik

Bericht: Nikolaus Steiner, Sandra Schmidt

Scheitern mit Ansage: Die deutsche Afghanistan-Politik Monitor 19.08.2021 08:24 Min. UT Verfügbar bis 30.12.2099 Das Erste Von Nikolaus Steiner, Sandra Schmidt

Kommentare zum Thema, weiterführende Links und der Beitragstext als PDF

Achim Pollmeier: "Chaos am Flughafen in Kabul. Ein Handyvideo, das offenbar zeigt, wie Taliban Angst und Schrecken verbreiten unter den Menschen, die noch irgendwie raus wollen aus Afghanistan, so wie die NATO und der Westen das Land nun auch verlassen. Auch wenn solche Videos aktuell schwer zu überprüfen sind, sie lassen die Verzweiflung der Menschen erahnen.

Willkommen zu dieser MONITOR-Ausgabe, die auch wir bis Sonntag noch etwas anders vorbereitet haben. Warum ging das am Ende so schnell mit dem Vormarsch der Taliban? Warum waren weder die Bundesregierung noch die Sicherheitsdienste darauf vorbereitet? Vielleicht hat man ja irgendwann einfach der eigenen Propaganda geglaubt, man sei in Afghanistan einmarschiert, um Frieden und Demokratie zu bringen, man würde dort einen demokratischen Staat mit funktionierenden Institutionen aufbauen, in dem die Menschen sicher sind. Doch darum ging es dem Westen nicht beim Einmarsch vor 20 Jahren – und erst recht nicht beim bedingungslosen Abzug in diesem Jahr, der den schnellen Vormarsch der Taliban überhaupt erst möglich gemacht hat. Die 20 Jahre in Afghanistan sind auch eine Geschichte von Vernebelung und Schönfärberei. Nikolaus Steiner."

Die Taliban erobern Afghanistan Tausende Menschen fliehen aus Angst um ihr Leben. Und die deutsche Politik gibt sich schockiert und ahnungslos.

Angela Merkel, 16.08.2021: "Bitter, dramatisch und furchtbar!"

Norbert Röttgen, 15.08.2021: "Das politische Scheitern des Westens nach 20 Jahren."

Heiko Maas, 16.08.2021: "Wir alle, die Bundesregierung, die Nachrichtendienste, die internationale Gemeinschaft – wir haben die Lage falsch eingeschätzt."

Falsch eingeschätzt? Die Machtergreifung der Taliban eine Überraschung? Afghanistan-Expert:innen widersprechen.

Prof. Ursula Schröder, Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik, Universität Hamburg: "Im Prinzip war spätestens seit Mai klar, wenn man sich die Karten anschaut und die Gebietsgewinne der Taliban anschaut, dass die Taliban auf dem Vormarsch sind, dass denen nichts entgegengestellt wird und dass die Regierung fallen wird. Und daher war es absehbar, dass das passieren würde – das Tempo war überraschend."

20 Jahre hieß es von verschiedenen Bundesregierungen, dass man viel erreicht habe in Afghanistan. Wie kann das sein? Rückblick: 2001. Nach den Anschlägen vom 11. September marschieren die USA in Afghanistan ein. Zentrale Ziele: Die Taliban stürzen und das Terrornetzwerk Al-Qaeda zerschlagen. Auch die Bundesregierung will sich nach dem Sturz der Islamisten beteiligen. Es wird der größte Militäreinsatz in der Geschichte der Bundesrepublik. Es gehe auch um den Aufbau von Demokratie, von Rechtsstaatlichkeit, um Frauenrechte – heißt es von der Bundesregierung immer wieder. Von der blutigen Realität spricht kaum ein Politiker. Auch nicht der damalige Verteidigungsminister.

Franz Josef Jung (CDU), Verteidigungsminister, 2008: Wir sind dort nicht in einem Krieg. Wir sind dort in einem Stabilisierungseinsatz."

Die Bundesregierung will offenbar den Begriff "Krieg" um jeden Preis vermeiden. Stattdessen positive Botschaften: Man sei stolz auf die erfolgreiche Vernetzung von Diplomatie, Militär und Entwicklungshilfe.

Angela Merkel (CDU), Bundeskanzlerin, 08.09.2009: "Das ist ein nachhaltiger Erfolg deutscher Afghanistan-Politik."

Ein nachhaltiger Erfolg! Schon 2009 verschlechtert sich die Sicherheitslage zunehmend. Die Taliban verüben zunehmend Angriffe und Anschläge. Immer mehr westliche Soldaten sterben.

Karl-Theodor zu Guttenberg (CSU), Verteidigungsminister, 12.11.2009: "Ich muss die Dinge beim Namen nennen und einfach die Wahrheit aussprechen, und das sind kriegsähnliche Zustände in Teilen Afghanistans."

Von "kriegsähnlichen Zustände” spricht die Bundesregierung jetzt – knapp sieben Jahre nach dem Beginn des Einsatzes. Ihr Rezept, mehr deutsche Soldat:innen an den Hindukusch. 2010 veröffentlicht die Bundesregierung dann zum ersten Mal einen Fortschrittsbericht, der optimistisch klingt. Man könne von einem "Wendepunkt" sprechen, heißt es. Die Truppenaufstockung und die erfolgreiche Ausbildung der Sicherheitskräfte …

Zitat: "haben (…) die Voraussetzungen dafür geschaffen, den Abwärtstrend zu stoppen.”

Es sei eine "spürbare Trendwende im Jahr 2011" möglich.

Thomas Ruttig, Afghanistan Analysts Network: "Die Schönfärberei bestand darin, dass die Bundesregierung über Jahre die Lage in den Berichten, die sie vorgelegt hat, viel rosiger dargestellt hat, als sie in Afghanistan selbst war. Das geht mit den sogenannten Fortschrittsberichten der Bundesregierung los, die dann 2014 völlig eingestellt worden sind. Und es geht weiter mit den sogenannten Asyl-Lageberichten, wo auch die Sicherheitssituation total schöngeredet worden ist, damit man Leute nach Afghanistan abschieben kann."

Denn ab 2015 fliehen hunderttausende Menschen vor dem Krieg in Afghanistan nach Deutschland. Die Bundesregierung reagiert – und beginnt mit Abschiebungen. Schließlich sorge die Bundeswehr mit ihrer Ausbildungsmission ja für die nötige Sicherheit, so der damalige Innenminister.

Thomas de Maizière (CDU), Bundesinnenminister, 16.03.2016: "Wir wollen in Afghanistan bleiben mit deutschen Soldaten und Polizisten, um die Sicherheit in diesen Land zu verbessern. Und deswegen können wir erwarten, dass die Menschen in Afghanistan auch in diesem Land bleiben und selbst dieses Land aufbauen."

Thomas Ruttig, Afghanistan Analysts Network: "Ich glaube, das war nur noch eine rhetorische Kehrtwende und diese Behauptung hat ja mit der Realität überhaupt nichts mehr zu tun gehabt. Allein vieles von dem, was die Bundesregierung berichtet hat und dann auch in ihren Statements in die Bevölkerung getragen hat, war nur noch innenpolitisch motiviert, um halt zu verhindern, dass mehr Flüchtlinge aus Afghanistan nach Deutschland kommen."

2020 dann eine Zäsur. Die USA machen einen Deal mit den Taliban in Doha, Katar: Die NATO zieht ab und die Taliban verpflichten sich, keine US-Truppen und Verbündeten anzugreifen und keinen Terrorismus mehr zu unterstützen. Die afghanische Regierung ist nicht dabei – und auch von Menschenrechten ist auch keine Rede.

Prof. Ursula Schröder, Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik, Universität Hamburg: "Es ging nicht um Rechtsfragen wie Menschenrechte, Frauenrechte, die Aufrechterhaltung von Freiheitsrechten wie Pressefreiheit, sondern es ging darum, einen Weg zu finden, wie die internationalen Truppen aus Afghanistan abziehen können."

Ein fast bedingungsloser Abzug. Dennoch unterstützt auch die Bundesregierung die Verhandlungen. Im Februar 2020 heißt es vom Auswärtigen Amt, der Deal von Doha gebe "Hoffnung auf Frieden für Afghanistan". Spätestens zu diesem Zeitpunkt hätte Deutschland, als zweitgrößtes NATO-Land und zeitweise zweitgrößter Truppensteller, protestieren müssen, sagt der ehemalige Wehrbeauftragte.

Hans-Peter Bartels (SPD), Wehrbeauftragter des Bundestags 2015-2020: "Deutschland hat den Spielraum, diplomatisch einzuwirken auf die USA, offensichtlich nicht genutzt. Ja, man hätte darauf beharren sollen, dass dieses gemeinsam Rausgehen der NATO aus Afghanistan nur dann erfolgen kann, wenn vorher die Bedingungen klar sind. Also wenn ein Frieden mit den Konfliktparteien ausverhandelt ist und nicht sozusagen erst rausgehen in der Hoffnung, dass dann vielleicht netterweise noch ein Frieden verhandelt wird."

Ein Frieden in weiter Ferne. Das weiß auch der US-Präsident und stuft öffentlich zugängliche Informationen über den Einsatz kurzerhand als geheim ein. So wurde vor drei Jahren von der NATO noch aufgezeigt, welche Gebiete in Afghanistan von den Aufständischen kontrolliert werden. Doch diese und andere wichtige Informationen wurden plötzlich als "geheim" eingestuft.

Thomas Ruttig, Afghanistan Analysts Network: "Man hat auch versucht, Afghanistan aus der öffentlichen Diskussion rauszunehmen. Und das ist vor allen Dingen im politischen Feld auch gelungen. Im Bundestag gab es ja zum Schluss nur noch sehr wenige Abgeordnete, die sich wirklich für Afghanistan interessiert haben und dem Thema gefolgt sind."

Raus aus der öffentlichen Diskussion, während die Taliban immer weiter vorrücken. Seit April dieses Jahres kontrollieren sie immer mehr Provinzen und Distrikte. Für eine baldige Machtergreifung gebe es aber keine Hinweise, beteuerte der Außenminister noch im Juni.

Heiko Maas (SPD), Außenminister, 09.06.2021: "Ich will mal sagen, all diese Fragen haben ja die Grundlage, dass in wenigen Wochen die Taliban in Afghanistan das Zepter in der Hand haben. Das ist nicht die Grundlage meiner Annahmen. Aber gleichzeitig gibt es einen Friedensprozess zwischen den Taliban und der afghanischen Regierung, der ja nicht ausgesetzt worden ist und den ich auch nicht für unerreichbar halte."

Wieder beschönigende Worte der Bundesregierung. Für die deutsch-afghanische Journalistin Waslat Hasrat-Nazimi ist klar: Die Afghan:innen wurden im Stich gelassen.

Waslat Hasrat-Nazimi, Deutsche Welle, Leiterin Dari/Paschtu Redaktion: "Um das Gesicht zu wahren, hat man gesagt, ja, es läuft gut in Afghanistan, Afghanistan ist sicher. Wir arbeiten dran und es wird noch viel sicherer werden. Die afghanische Armee ist bald soweit. Dementsprechend finde ich, es ist einfach heuchlerisch jetzt so zu tun, als wäre alles gut gelaufen und als hätte man keine Verantwortung. Als würde man keine Verantwortung daran tragen und die Afghanen wären jetzt selber schuld und sollen das unter sich austragen."

20 Jahre hatte die Bundesregierung immer wieder von einem erfolgreichen Militäreinsatz in Afghanistan gesprochen. Ein Einsatz, der im Desaster endete.

Achim Pollmeier: "Heuchelei und Schönfärberei also, auch um den zynischen Umgang mit afghanischen Hilfskräften zu rechtfertigen, von denen man von Anfang an möglichst wenige nach Deutschland holen wollte. Und natürlich, um sich die Menschen vom Hals zu halten, die seit Jahren aus dem Land fliehen."

Kommentare zum Thema

  • Jörg 04.10.2021, 10:06 Uhr

    Ein ganz wichtiges Thema fehlt auch jetzt wieder in den aktuellen dt. Koalitionssondierungen der Ampel SPD/Grünen,FDP) : die Begrenzung der Kanzlerschaft in D auf 2 Legislaturperioden nach Vorbild in USA : Wäre das bereits in D geschehen, wären uns 8 Jahre massiver illegaler Massenmigrationspolitik mit gesellschaftlicher Spaltung in ganz Europa erspart geblieben ! Schon allein deswegen ist das US-Demokratiemodell dem noch jungem deutschen weit überlegen !

    • Anonym 06.10.2021, 05:08 Uhr

      Volle Zustimmung: In US müssen sich zudem die Kandidaten in einem aufreibenden Vorwahlkampf offentlich duellieren". In Deutschland werden hingegen die Kandidaten in allen Parteien in kleinsten Zirkeln der Alt-Granden undemokratisch unsichtbar ausgewürfelt getreu dem hier unisono praktiziertem Motto: Wer garantiert mir am besten meine Privilegie und Fleischtöpfe ? Genauso ist Laschet zum Kandidaten und ebenso Politstudiumabbrecherin und Apparatschick Baerbock auserkoren worden, im Wahlkampf gewogen, für zu leicht befunden worden und schließlich gescheitert !

  • Gerald Wilfried 29.09.2021, 20:19 Uhr

    Welch ein Gejammer in der freiheitlich demokratischen BR. Dieses kapitalistische „Produkt“ BR suggeriert doch eifriger denn je , seit Anschluß Mitteldeutschlands auch hier, dass NUR sie in Wirtschaft, Politik und Umwelt Alles, aber auch alles besser und klüger im Griff hätte. Also, wer da noch solche Vereine von Schwarz bis Grün diese alle Disaster mit einem Wahlkreuz kürt, dem ist tatsächlich nicht zu helfen. Aufwachen…..

  • Bert 17.09.2021, 04:34 Uhr

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