Noch kein Sieg: Wackelt der ewige Erdogan?
Der Faktencheck zur Sendung vom 15.05.2023
Die Machtfrage in der Türkei ist noch offen: Setzt sich Präsident Erdogan doch am Ende durch? Wird der zweite Wahlgang jetzt noch härter? Wie groß ist die Chance für einen Machtwechsel wirklich? Oder müssen sich Deutschland und Europa mit dem ewigen Erdogan arrangieren?
Eine Talkshow ist turbulent. Oft bleibt während der Sendung keine Zeit, Aussagen oder Einschätzungen der Gäste gründlich zu prüfen. Deshalb hakt hartaberfair nach und lässt einige Aussagen bewerten. Die Antworten gibt es hier im Faktencheck.
Alexander Graf Lambsdorff über Verluste der AKP
Alexander Graf Lambsdorff erinnert daran, dass die Regierungspartei AKP bei den Parlamentswahlen sieben Prozentpunkte verloren hat.
Es war das Duell um das Präsidentenamt zwischen Amtsinhaber Recep Tayyip Erdogan (AKP) und seinem Herausforderer Kemal Kilicdaroglu (CHP), das die Berichterstattung über die Wahlen in der Türkei in den vergangenen Wochen geprägt hat. Untergegangen ist dabei ein wenig, dass die 64 Millionen Wahlberechtigten auch ein neues Parlament gewählt haben. Tatsächlich büßte die Regierungspartei von Präsident Erdogan sieben Prozentpunkte im Vergleich zur Parlamentswahl 2018 ein. Die AKP kommt nur noch auf 35,58 Prozent der Stimmen. Es ist übrigens bereits das zweite Mal in Folge, dass die AKP bei Parlamentswahlen Verluste von sieben Prozentpunkten hinnehmen muss. Die CHP konnte leicht zulegen und erhielt 25,3 Prozent der Stimmen (plus 2,68 Prozent). Drittstärkste Kraft wurde die rechtsextreme MHP, die zum Wahlbündnis der AKP gehört, mit etwa zehn Prozent. Blickt man auf die verschiedenen Regionen in der Türkei, so wird deutlich, dass die Oppositionspartei von Kilicdaroglu besonders stark in den großen Städten und in den Küstenregionen im Südwesten des Landes abgeschnitten hat. In Ankara, Istanbul und Izmir wurde die CHP stärkste Kraft.
Deniz Yücel über Wahleinmischung von Grünen und Erdogan
Wirklich geschickt fand keiner unserer Gäste die – wenn auch indirekte - Aufforderung der Grünen an die wahlberechtigten Deutschtürken, gegen Erdogan zu stimmen. Deniz Yücel erinnerte in diesem Zusammenhang daran, dass sich auch Erdogan schon einmal in eine Bundestagswahl eingemischt hatte, als er dazu aufrief, weder CDU noch SPD und Grünen die Stimme zu geben.
In ihrem Beschluss bitten die Grünen die wahlberechtigten Deutsch-Türken die Chance zu ergreifen, um nach Jahren der autoritären Führung unter Präsident Erdogan zu Demokratie und Rechtsstaatlichkeit zurückzukehren. Eine eindeutige Aufforderung, dem amtierenden Präsidenten der Türkei die Stimme zu verweigern.
Noch deutlicher hatte sich 2017 der türkische Präsident Erdogan während des Bundestagswahlkampfs positioniert. Damals gab es einige Themen, die zu Spannungen zwischen Deutschland und der Türkei geführt hatten. Neben Streitigkeiten über eine Ausweitung der EU-Zollunion stritten die beiden Länder über die Inhaftierung von Deutschen in türkischen Gefängnissen – darunter auch unser Gast Deniz Yücel. Die Türkei wiederum warf Deutschland vor, am Putschversuch im Jahr 2016 beteiligten Personen Zuflucht zu gewähren. Vor dem Hintergrund dieser Spannungen rief Erdogan die türkischstämmigen Wähler in Deutschland dazu auf, CDU, SPD und Grüne nicht zu wählen. “Sie sind alle Feinde der Türkei“, schimpfte Erdogan damals. Sie sollten Parteien unterstützen, die keine Feinde der Türkei sind – welche das seiner Ansicht nach sind, sagte er damals nicht.
Die deutschen Reaktionen auf die wütende Wahlempfehlung Erdogans waren deutlich und einhellig: Bundeskanzlerin Merkel verbat sich jede Einmischung in den Bundestagswahlkampf. Auch aus den Reihen der SPD hagelte es scharfe Kritik. Der damalige Außenminister Sigmar Gabriel bezeichnete Erdogans Aufruf als „einmaligen Akt des Eingriffs in die Souveränität unseres Landes.“ Auch Martin Schulz – damals SPD-Kanzlerkandidat – reagierte empört und warf Erdogan auf Twitter vor, jedes Maß verloren zu haben.
Erstwähler in der Türkei und Wahlberechtigte in Deutschland
Ein wenig schien Unklarheit darüber zu herrschen, wie viele junge Türken denn nun wirklich zum ersten Mal an den Präsidentschaftswahlen teilnehmen durften. Hier noch einmal die Zahlen:
Von den 64,1 Millionen Wahlberechtigten konnten nach Angaben des türkischen Wahlausschusses rund 5,1 Millionen junge Türken zum ersten Mal ihre Stimme bei einer Präsidentschafts- und Parlamentswahl abgeben. 4,9 Millionen demnach in der Türkei und weitere rund 278.000 im Ausland. Insgesamt durften außerhalb der Türkei 3,4 Millionen Türken ihre Stimme abgeben. Der weitaus größte Teil der wahlberechtigten Türken außerhalb der Türkei lebt in Deutschland: Von den rund 2,8 Millionen Menschen mit türkischem Migrationshintergrund waren hierzulande 1,5 Millionen berechtigt, bei der Präsidentschaftswahl ihre Stimme abzugeben. Das waren 100.000 mehr als bei den Wahlen vor fünf Jahren. Nach Angaben der staatlichen Nachrichtenagentur Anadolu stimmten - wie schon 2018 - etwa 65 Prozent der Deutschtürken für Amtsinhaber Erdogan. Sein Herausforderer Kilicdaroglu kam nur auf 33 Prozent.
Stand: 16.05.2023, 10:21 Uhr