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Ein Land wird ärmer: Wer zahlt die Krisenrechnung 2023?

Der Faktencheck zur Sendung vom 09.01.2023

Das Jahr beginnt mit einer neuen Welle von Preiserhöhungen bei Strom und Heizung. Die Lebensmittelpreise klettern auf Rekordniveau. Geht das jetzt immer so weiter? Wie stark entlasten die Preisdeckel und Hilfen vom Staat? Oder droht vielen der Verlust von Wohlstand auf Dauer?

Eine Talkshow ist turbulent. Oft bleibt während der Sendung keine Zeit, Aussagen oder Einschätzungen der Gäste gründlich zu prüfen. Deshalb hakt hartaberfair nach und lässt einige Aussagen bewerten. Die Antworten gibt es hier im Faktencheck.

Melanie Amann über Mehrwertsteuersenkung in der Pandemie

Lars Klingbeil hat Zweifel, ob eine Senkung der Mehrwertsteuer auch bei den Verbrauchern ankommt. Melanie Amann hält dagegen und sagt, die Mehrwertsteuersenkung während der Pandemie sei zu 80 Prozent bei den Verbrauchern angekommen.

Als sich die Große Koalition im Jahr 2020 auf eine von Juli bis Ende des Jahres befristete Senkung der Mehrwertsteuer von 19 auf 16 Prozent geeinigt hatte, um die finanziellen Folgen der Corona-Pandemie abzufedern, waren sich weder Politik noch Wirtschaftswissenschaftler über den Sinn der Maßnahme einig. Die Senkung führe zu niedrigeren Preisen und damit zu einer Entlastung der Verbraucher, sagten die einen. Die anderen hatten Zweifel, da sie befürchteten, dass die Unternehmen die Senkung nicht an die Konsumenten weitergeben werden. Ein halbes Jahr nachdem die Mehrwertsteuersenkung endete, machten sich Forscher des Zentrums für Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW) ein genaueres Bild über die Wirkung der Steuermaßnahme. Die Wirtschaftswissenschaftler analysierten mehr als 100 Millionen Daten der Gesellschaft für Konsumforschung (GfK) zu gekauften Produkten, Mengen und gezahlten Preisen. Die ZEW-Forscher kommen zu dem Ergebnis, dass insgesamt 86 Prozent der Steuersenkungen an die Verbraucher weitergegeben wurden. Melanie Amann hat also Recht. Für die Wirtschaftswissenschaftler steht fest, dass die Senkung der Mehrwertsteuer unmittelbar zu deutlichen Preissenkungen geführt hat. “Somit hat die temporäre Steuersenkung die Haushalte entlastet – dies trifft auch auf ärmere Haushalte zu, die im Zuge der Krise potenziell besonders betroffen sind“, so die Autoren der Studie. Im Schnitt haben die Händler ihre Preise um 2,5 Prozent gesenkt.

Mit der Senkung der Mehrwertsteuer wollte die Große Koalition unter anderem auch den Binnenkonsum ankurbeln. Dieses Ziel wurde einer Analyse des Instituts für Makroökonomik und Konjunkturforschung (IKM) der Böckler-Stiftung zufolge allerdings kaum erreicht. Zwar sagen auch die Wissenschaftler des IKM, dass die Verbraucher die Preissenkungen wahrgenommen haben. Allerdings hätte nur ein kleiner Teil die Preissenkungen dazu genutzt, um Anschaffungen zu tätigen. Anders beim Kinderbonus, der während der Pandemie gezahlt wurde: Mehr als die Hälfte der ausgezahlten Summe dürfte in den Konsum geflossen sein, so die Autoren. Sie kommen zu dem Schluss, das gezielte Geldleistungen an Haushalte mit niedrigen und mittleren Einkommen besser geeignet sind, die Konjunktur zu stützen, als vorübergehende Steuersenkungen.

Jens Spahns Sorgen um das Vertrauen in den Staat

Jens Spahn beklagt eine schlechte Kommunikation im Zusammenhang mit den Entlastungsmaßnahmen der Bundesregierung, die zu einem Vertrauensverlust in Politik und Staat geführt habe.

Blickt man auf aktuelle Meinungsumfragen, so ist die Sorge von Jens Spahn berechtigt. Erst vor wenigen Tagen erschien eine Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Forsa im Auftrag von RTL und NTV, in der die Befragten nach ihrem Vertrauen in politische Institutionen befragt wurden. Alle Institutionen – vom Bundespräsidenten, der Bundesregierung, dem Bundestag bis hin zu Landesregierungen und Stadtverwaltungen – mussten im Vergleich zum Vorjahr deutliche Einbußen hinnehmen. Besonders stark war der Rückgang in das Vertrauen in den Bundeskanzler: Nur noch 33 Prozent vertrauten ihm. Das waren 24 Prozent weniger als noch ein Jahr zuvor. Deutliche Vertrauenseinbußen mussten auch die Bundesregierung (34 Prozent/minus 22 Prozent im Vorjahresvergleich) und der Deutsche Bundestag (37 Prozent/ minus 13) hinnehmen. Das größte Vertrauen setzten die Befragten in den Bundespräsidenten (63 Prozent). Am schlechtesten schnitten die politischen Parteien mit 17 Prozent ab.

Eine Bürgerbefragung des Deutschen Beamtenbundes (dbb) aus dem Herbst vergangenen Jahres zeichnet ein ähnlich trübes Bild. Der dbb kommt gar zu dem Schluss, dass das Vertrauen der Bevölkerung in den Staat nie geringer war. Nur noch 29 Prozent der Befragten sind demnach der Ansicht, der Staat sei in der Lage, seine Aufgaben zu erfüllen. Damit liege das Vertrauen in den Staat und seine Institutionen auf einem historischen Tiefstand, so der dbb.

Und auch der ARD-Deutschlandtrend verzeichnete bereits im Oktober vergangenen Jahres einen deutlichen Anstieg der Unzufriedenheit mit der deutschen Bundesregierung. Nur noch 29 Prozent der Befragten waren mit der Arbeit der Bundesregierung zufrieden oder sehr zufrieden. 68 Prozent dagegen zeigten sich weniger oder gar nicht zufrieden. Das waren die schlechtesten Werte seit Beginn der Ampelkoalition.

Melanie Amann über Wartezeiten beim Wohngeld

Melanie Amann beklagt die bürokratischen Hürden, die Menschen mit Anspruch auf Hilfen und Sozialleistungen überwinden müssen. So dauere die Bearbeitung von Wohngeldanträgen in Berlin ganze 16 Wochen.

Mit der Wohngeldreform setzte die Regierungskoalition eines ihrer zentralen Vorhaben um. Am 01. Januar dieses Jahres wurde das “Wohngeld Plus“ von vorher durchschnittlich 180 Euro monatlich auf rund 370 Euro mehr als verdoppelt. Gleichzeitig steigt nach Angaben der Bundesregierung die Zahl der wohngeldberechtigten Haushalte von 600.000 auf zwei Millionen an. Die Kommunen stellt diese Steigerung vor große Herausforderungen. Sie befürchten einen regelrechten Ansturm von Wohngeldanträgen und längere Bearbeitungszeiten. Schon heute müssen Antragsteller nicht selten mehrere Monate auf einen Wohngeldbescheid warten.

In Berlin etwa warteten Antragsteller im September 22 durchschnittlich 8,37 Wochen auf einen Bescheid. Am geduldigsten mussten Antragsteller in Berlin-Neukölln sein: Hier benötigte die Behörde für die Bearbeitung im Schnitt über 18 Wochen. Das geht aus einer Antwort des Berliner Senats auf eine Anfrage aus dem Abgeordnetenhaus hervor. Damit liegt Melanie Amann nur für einen Teil Berlins richtig. Mit dem Problem langer Bearbeitungszeiten steht Berlin aber nicht alleine da. Viele Kommunen in Deutschland hinken hier hinterher. So ergab etwa eine Recherche des WDR, dass Betroffene schon vor der Wohngeldreform in jeder fünften Kommune in NRW mehr als zwei Monate warten mussten. In jeder zehnten Kommune dauerte es sogar länger als drei Monate.

Stand: 10.01.2023, 09:57 Uhr