Gottes Wille oder des Menschen Freiheit: Was zählt beim Wunsch zu sterben?
Der Faktencheck zur Sendung vom 23.11.2020
Nach dem Film "Gott" die Abstimmung und Diskussion zur Frage: Wie frei ist der Mensch im Wunsch zu sterben? Hat er dabei ein Recht auf ärztliche Hilfe, auf Zuteilung der tödlichen Arzneien? Oder hat die Kirche Recht, die ihren Gott als alleinigen Richter über Leben und Tod sieht?
Eine Talkshow ist turbulent. Oft bleibt während der Sendung keine Zeit, Aussagen oder Einschätzungen der Gäste gründlich zu prüfen. Deshalb hakt hartaberfair nach und lässt einige Aussagen bewerten. Die Antworten gibt es hier im Faktencheck.
Susanne Johna über Sterbehilfezahlen Niederlande/Deutschland
Susanne Johna sagt, würde man die Sterbehilfe-Fälle der Niederlande auf Deutschland übertragen, würden hierzulande rechnerisch täglich 90 Menschen durch Sterbehilfe aus dem Leben scheiden.
Susanne Johna
00:18 Min.. Verfügbar bis 23.11.2025.
Es gibt zwei Möglichkeiten, die Zahlen aus den Niederlanden heranzuziehen, um sie auf Deutschland hochzurechnen: Zum einen kann man sie ins Verhältnis zur Gesamtbevölkerung setzen. Ebenso können sie in Bezug zur Gesamtzahl der Todesfälle gesetzt werden.
Mit Bezug auf die Gesamtbevölkerung: In den Niederlanden mit ihren rund 17,3 Millionen Einwohnern haben im vergangenen Jahr etwa 6.300 Menschen Sterbehilfe in Anspruch genommen. Würde man diese Zahlen – ohne Berücksichtigung unterschiedlicher Todeszahlen insgesamt – einfach auf die Bevölkerungszahl Deutschlands hochrechnen, würden rein rechnerisch hierzulande im Jahr rund 30.000 Menschen Sterbehilfe in Anspruch nehmen. Das entspräche 82 pro Tag.
Mit Bezug auf die Todesfälle: 4,2 Prozent aller Todesfälle in den Niederlanden gingen im vergangenen Jahr auf Sterbehilfe zurück. In Deutschland sind im vergangenen Jahr insgesamt rund 940.000 Menschen verstorben. Wäre der Anteil an Todesfällen durch Sterbehilfe in Deutschland genauso hoch wie in den Niederlanden, hätten wir hier rund 39.500 Fälle von Sterbehilfe. Das wären 108 pro Tag.
Georg Bätzing über Sterbehilfe und gesellschaftlichen Druck
Der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz Georg Bätzing hat die Befürchtung, der Druck auf ältere oder kranke Menschen, sich das Leben zu nehmen, könne durch das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zunehmen.
Georg Bätzing
00:56 Min.. Verfügbar bis 23.11.2025.
Kritiker der geschäftsmäßigen – also auf Wiederholung angelegte - Sterbehilfe führen dieses Argument immer wieder an. Die Sorge, eine zunehmende Verbreitung des assistierten Suizids führe zu einem “fatalen Anschein einer Normalität“, war schon im Jahr 2015 eine Triebfeder für das Gesetz zur Strafbarkeit der geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung (§217 StGB). Fraktionsübergreifend teilte man die Befürchtung, Angebote der geschäftsmäßigen Beihilfe zum Suizid könnten “geradezu eine Art Erwartungsdruck erzeugen, diese Angebote auch wahrzunehmen, um die eigene Familie und die Gesellschaft als Ganzes von dieser `Last` zu befreien“, so die Begründung im Gesetzentwurf. Es bestand die Sorge, es könne schlimmstenfalls eine “soziale Gebotenheit entstehen und damit auch Menschen zur Selbsttötung verleitet werden, die dies ohne ein solches Angebot nicht täten.“
Diesem Argument folgte das Bundesverfassungsgericht im Februar dieses Jahres nicht, als es den Paragraf 217 StGB für nichtig erklärte. Dennoch räumte das BVerfG dem Gesetzgeber ein, einer Entwicklung entgegenzusteuern, “welche die Entstehung sozialer Pressionen befördert, sich unter bestimmten Bedingungen, etwa aus Nützlichkeitserwägungen, das Leben zu nehmen.“ Der Einzelne dürfe nicht der Gefahr gesellschaftlicher Erwartungshaltungen ausgesetzt sein, so die Verfassungsrichter.
Konkrete Zahlen, die “gesellschaftlichen Druck“ als Motiv für einen Suizid-Wunsch angeben, haben wir keine gefunden. Eine von Emnid für das Sozialwissenschaftliche Institut der Evangelischen Kirche Deutschlands (SIEKD) bundesweite repräsentative Umfrage machte es sich aber im Jahr 2015 zur Aufgabe, unter anderem diese Sorge abzufragen. Die Teilnehmer wurden gefragt, welche Folgen es ihrer Ansicht nach hätte, wenn es Ärzten erlaubt würde, Menschen am Lebensende beim Herbeiführen des eigenen Todes zu helfen. 36,1 Prozent befürchten demnach, es entstehe ein gesellschaftlicher Druck, sich für den selbst herbeigeführten Tod zu entscheiden. Unterscheidet man die Befragten in Befürworter und Gegner der Beihilfe zur Selbsttötung, so erwarten 48,4 Prozent der Gegner, dass der gesellschaftliche Druck wächst. Bei den Befürwortern sind es 31,5 Prozent. Die Erwartung, dass sich ganz allgemein mehr Menschen für einen vorzeitigen Tod entscheiden würden, teilen 62,7 Prozent der Befragten.
Bischof Bätzing über Niederländer in deutschen Altenheimen
Bischof Bätzing sagt, es gebe Niederländer im Grenzgebiet zu Deutschland, die aus Angst vor den niederländischen Regelungen zur Sterbehilfe lieber in einem Altenheim in Deutschland leben, „weil sie dort sicher sind“.
Georg Bätzing
00:56 Min.. Verfügbar bis 23.11.2025.
Wir haben noch einmal beim Sprecher von Bischof Bätzing nachgefragt, ob es Belege für diese These gibt. Er räumte ein, dass es sich eher um Einzelfälle als um einen echten Trend handelt. Die Aussage von Georg Bätzing sei in diesem Zusammenhang wenig präzise gewesen.
Mehrere kirchliche Träger von Alten- und Pflegeheimen konnten uns auf Nachfrage bis zum jetzigen Zeitpunkt keinen solchen Fall nennen, der ihnen bekannt wäre. Sowohl die Caritas als auch der Paritätische wollen sich aber in ihren Einrichtungen umhören und uns darüber informieren, wenn sie auf solche Fälle stoßen sollten. Den Faktencheck werden wir dann an dieser Stelle entsprechend ergänzen.
Stand: 24.11.2020, 10:04 Uhr