Aus Worten werden Schüsse: Wie gefährlich ist rechter Hass?

Der Faktencheck zur Sendung vom 01.07.2019

Der Fall Walter Lübcke zeigt: Hass auf Andersdenkende kann töten. Ist der Rechtsstaat wehrhaft genug gegen rechten Terror? Reichen rechte Netzwerke wirklich bis in Polizei und Bundeswehr? Und wer bereitet den Mördern das Feld mit Polemik und Hassbotschaften?

Eine Talkshow ist turbulent. Oft bleibt keine Zeit, Aussagen oder Einschätzungen der Gäste gründlich zu prüfen. Deshalb hakt hartaberfair nach und lässt einige Aussagen bewerten. Die Antworten gibt es hier im Faktencheck.

Herbert Reul über rechtsextreme Strukturen

Herbert Reul (CDU) sagt, für die Sicherheitsbehörden sei es schwieriger geworden, Rechtsextreme im Fokus zu behalten. Im Gegensatz zu früher, als Rechtsextreme ihre Gesinnung offen zeigten, agierten sie heute häufiger als Einzeltäter. Haben sich die rechtextremistischen Strukturen tatsächlich verändert?

“Ja und nein“, differenziert Dr. Matthias Quent, Direktor des Instituts für Demokratie und Zivilgesellschaft. “Einerseits ja, denn vor allem mit beschleunigten Radikalisierungsprozessen einzelner Gewalttäter in rechtsradikalen Internetsubkulturen hat ein neuer Tätertypus an Bedeutung gewonnen“, sagt der Experte für Rechtsextremismus. Beispielhaft hierfür stünden die rechten Attentäter Anders Breivik aus Norwegen, der Neuseeländer Brenton Tarrant und David Sonboly aus München, so Quent. “Diese sind durchaus in rechtsradikale Diskurse und Ideologien eingebunden, aber nicht in realweltliche Gruppenstrukturen“, sagt der Experte. Darüber hinaus seien insbesondere in den Jahren 2015 und 2016 Menschen zu flüchtlingsfeindlichen Gewalttätern geworden, die in keinem Zusammenhang mit rechtsradikalen Strukturen stehen – hierunter auch Beamte und Rentner, sagt Quent. Er erinnert daran, dass schon 2015 der damalige Bundesinnenminister de Maiziere darauf aufmerksam gemacht hatte, dass zwei Drittel der Tatverdächtigen bei Angriffen gegen Asylsuchende Bürger aus der Region seien, die sich bisher nichts zu Schulden kommen ließen. “Also keine organisierten Neonazis, sondern Extremisten aus der ‘Mitte' der Gesellschaft. Einstellungsstudien warnten schon seit Jahrzehnten vor der Verbreitung rechtsextremer Einstellungen in relevanten Teilen der Bevölkerung, so Quent. “Diese werden heute von der AfD mobilisiert, wobei die rechtsextremen Einstellungen insgesamt nicht zunehmen. Sie sind nur lauter geworden.“

Auf der anderen Seite gebe es nach wie vor neonazistische Netzwerke wie Combat 18, die nicht verschwunden seien, sondern sich derzeit im Schatten der Diskussion über den Rechtspopulismus radikalisieren, sagt der Rechtsextremismus-Experte. “Seit 2011 sind mehrere rechtsterroristische Gruppen aufgeflogen (Old School Society, Gruppe Freital, Revolution Chemnitz), die zum Teil offen auf Facebook ihre Gewaltaffinität dargestellt haben.“ Quent verweist außerdem auf die neonazistische, terroraffine Rechtsrockszene, die im Netz, auf T-Shirts, CD's und auf Demonstrationen keinen Hehl aus ihrer Gewaltbereitschaft mache. “Allerdings bleibt das ohne Folgen“, beklagt Quent und verweist beispielhaft auf ein Lied der Neonazi-Band mit dem bezeichnenden Namen “Erschießungskommando“, in dem detailliert die Tötung einer Politikerin der LINKEN und ihres Vaters beschrieben wird.

Nach Ansicht von Quent verstecken sich die Rechtsextremen aber generell nicht mehr. Das Gegenteil sei der Fall, so der Experte: “Vor dem Hintergrund der Erfolge der AfD fühlen sie sich bestärkt und werden mutiger und offener. Wir sehen, dass Rechtsextreme im Gemeinwesen mit der AfD im Rücken Oberhand gewinnen und Vereine und lokale Strukturen übernehmen.“ Es sei eher so, dass die Rechtsextremen früher vereinzelt waren, sich aber heute über das Internet und über neue Parteien und Organisationen zumindest lose zusammenschließen, sagt Quent. Die Situation sei tatsächlich differenzierter und angespannter geworden, was es für die Sicherheitsbehörden schwerer macht. Eine Reduzierung nur auf “Einzeltäter" greift nach Ansicht von Quent allerdings zu kurz.

“Dieser Aussage ist so nicht zuzustimmen“, sagt Dr. Alexander Yendell. Der Soziologe ist Mitglied des Vorstands des Kompetenzzentrums für Rechtsextremismus- und Demokratieforschung an der Uni Leipzig. “Rechtsextreme sind - wie der aktuelle Verfassungsschutzbericht zeigt - sehr häufig organisiert, zum Beispiel in neueren rechtsextremen Organisationen wie der Identitären Bewegung oder den Reichsbürgern“, sagt der Experte. Darüber hinaus stellten er und seine Forscherkollegen eine zunehmende nationenübergreifende Vernetzung von militanten neonazistischen Rechtsextremen fest, die in Europa aktiv sind. “Und auch Personen, die als Einzeltäter gelten, sind nicht immer ‘Lonely Wolves‘, sondern diskutieren ihre politischen Einstellungen und ihren Fremdenhass mit anderen im Internet“, sagt der Rechtsextremismus-Experte. Änderungen in Bezug auf den Rechtsextremismus habe es vor allem durch das Internet mit seinen Diskussions- und Vernetzungsmöglichkeiten gegeben, so Yendell. “Rechtsextreme haben es leicht, Gleichgesinnte zu treffen, sich zu vernetzen und sind nicht unbedingt auf eine lokale Organisation angewiesen.“ Zudem würden gerade im Internet rechtsextreme Gesinnungen sehr offen gezeigt, stellt Yendell klar. Seiner Ansicht nach entstehe vielmehr der Eindruck, dass rechtsextreme Gesinnungen viel offener als früher gezeigt werden.

Irene Mihalic über wachsenden Rechtsextremimus

Irene Mihalic (BD.90/Grüne) sagt, das Problem des gewaltbereiten Rechtsextremismus sei nicht erst in jüngster Zeit gewachsen. Schon vor den NSU-Morden seien rechtsextreme Tendenzen in Deutschland gestiegen. Hat sie Recht?

Auch diese Entwicklung betrachtet der Experte für Rechtsextremismus, Dr. Matthias Quent, von zwei Seiten. “Rechtsextremismus war in der Bundesrepublik immer ein Problem. Schon in den 1980er Jahren gab es in Westdeutschland zahlreiche Todesopfer rechter Gewalt.“ Nach Angaben der Amadeu Antonio Stiftung seien seit 1990 in Deutschland mehr als 190 Menschen durch rechte Gewalt ums Leben gekommen. Je nach Art der Zählung können die Zahlen variieren. Die Bundesregierung sprach im vergangenen Jahr von insgesamt 83 Todesopfern rechtsextremer Gewalt seit der Wiedervereinigung. Quent beklagt, diese Zahlen würden in Politik und öffentlicher Debatte nicht zur Kenntnis genommen und relativiert. Eine Steigerung der tödlichen Gewalt sei seit dem Jahrtausendwechsel dagegen nicht festzustellen, stellt Quent auch klar. “Im Gegenteil ist die Zahl rechter Gewalttaten mit Todesfolge seit dem Beginn des ‘Aufstands der Anständigen‘ und der Stärkung der Zivilgesellschaft ab dem Jahr 2000 massiv zurückgegangen.“ Dennoch habe die Gewalt von Rechts insgesamt seit 2015 wieder sehr stark zugenommen, so Quent.

“Ja, da hat Irene Mihalic Recht“, sagt Dr. Alexander Yendell. Auch er verweist darauf, dass Anfang der 90er Jahre rechtsextreme Straftaten angestiegen sind. Ihren Höhepunkt erreichten sie nach Angaben von Yendell zunächst im Jahr 1993, lagen dann für ein paar Jahre auf einem leicht niedrigeren Niveau. “Aber im Jahr 2000, dem Beginn der NSU-Morde, lagen sie tatsächlich auf einem viel höheren Niveau als im Jahr 1990“, sagt Yendell. Danach habe sich die Zählweise der Polizeistatistik verändert, was einen Vergleich zwischen heute und den neunziger Jahren erschwere, sagt der Experte. “Einen Sprung sehen wir vor allem vom Jahr 2014 auf 2015, also in dem Zeitraum als die meisten Flüchtlinge nach Deutschland kamen. In diesem Zeitraum verzeichnen wir eine Verdoppelung der fremdenfeindlich motivierten Hasskriminalität“, sagt der Religionssoziologe. Auch im Jahr 2018 seien immer noch mehr rechtsextreme Straftaten begangen worden als im Jahr 2014.

Für Yendell muss in Bezug auf rechtsextreme Tendenzen allerdings sozialpsychologisch zwischen der Ebene der Einstellungen und der Ebene des Verhaltens unterschieden werden: “Seit der Messung rechtsextremer Einstellungen in der Leipziger Autoritarismusstudie im Jahr 2002 sind manifest rechtsextreme Einstellungen in der deutschen Bevölkerung in der Gesamttendenz sogar etwas rückläufig, vor allem im Westen Deutschlands, im Osten Deutschlands sind sie etwa gleich geblieben. Im Jahr 2016, also im Jahr nach dem höchsten Anstieg der Zuwanderung durch Flüchtlinge und der kontroversen Debatte darüber, haben wir in der Studie sogar eine Zunahme an Demokratiebefürwortung in der deutschen Bevölkerung festgestellt.“ Gleichzeitig hätten sich allerdings die Rechtsextremen radikalisiert, stellt Yendell fest. “Sie befürworten häufiger die Anwendung von Gewalt und würden Gewalt auch selbst anwenden. Deshalb verwundert das hohe Maß an rechtsextremen Straftaten nicht.“ Rechtsextreme Einstellungen seien also nichts Neues, es habe sie schon lange gegeben, stellt Yendell klar. “Neu ist, dass rechtsextrem eingestellte Personen sich jetzt häufiger rechtsextrem verhalten, also dementsprechend wählen und auch selbst häufiger Gewalt anwenden“, so der Experte.

Irene Mihakic über enthemmte Sprache und Gewalt

Für Irene Mihalic steht fest, dass die zum Teil enthemmte Sprache der AfD den Nährboden für Gewalt bereitet. Wie groß ist der Zusammenhang zwischen enthemmter Sprache und Gewalt tatsächlich?

“Generell sind rechte Radikalisierungsprozesse und ihre Einflüsse in Deutschland noch viel zu wenig erforscht“, stellt Dr. Matthias Quent fest. Hier sei die Politik gefordert, sagt der Politikwissenschaftler. Es gebe aber deutliche Hinweise, die die These von Frau Mihalic bestätigen, sagt Quent: “Erstens zeigen Radikalisierungsstudien aus allen Bereichen, dass die rhetorische Entmenschlichung der Anderen notwendig ist, um Gewalt zu legitimieren. Beispielsweise wenn Polizisten als ‘Schweine‘, Flüchtlinge als ‘Invasoren‘ oder Politiker als ‘Volksverräter‘ bezeichnet werden. Darüber hinaus radikalisierten sich Gewalttäter in einem wahrgenommenen kollektiven Abwehrkampf gegen angeblich existentielle Bedrohungen der eigenen Gruppe, so Quent. “Diese Sprech- und Denkweisen werden von der AfD popularisiert und bis in den Bundestag getragen“, sagt Quent. Zwar führten sie nicht automatisch zu Gewalt, machten sie aber wahrscheinlicher, sagt der Experte. Er verweist auf eine aufwändige Studie der Universität Warwick (Großbritannien), die einen kausalen Zusammenhang zwischen der Aktivität auf Kreisverbandsseiten der AfD und Gewalttaten in den entsprechenden Regionen herstellt.

“Die Sprache der AfD, wie sie sich in einigen öffentlichen Äußerungen von AfD-Politkern darstellt, ist durch das Denken in Freund-Feind-Bildern, das Schüren von Ängsten, das Benennen von Sündenböcken, Hass auf Fremde und Andersdenkende, autoritäre Forderungen nach Bestrafungen, Racheäußerungen und mangelndes Mitgefühl gekennzeichnet“, sagt Dr. Alexander Yendell. Das alleine sei bereits eine Form von (verbaler) Gewalt. Rechtsextreme Straftäter fühlen sich laut Yendell durch eine solche Sprache in ihren Einstellungen und in ihrem Verhalten bestätigt, glauben sogar mit ihrem Verhalten die wahre Stimme des Volkes zu vertreten. Sie seien aber schon vor den hasserfüllten Äußerungen beispielsweise von AfD-Politikern gewaltaffin und nicht erst durch die Sprache so geworden, so Yendell, der viele Ursachen für Rechtsextremismus ausmacht: “Rechtsextremismus entsteht durch eine Kombination von dysfunktionalem Familienhintergrund, Problemen in der Persönlichkeitsreifung und ungünstigen Sozialisationsbedingungen sowie spezifischen gesellschaftlichen Kontextbedingungen. Weil aber Rechtsextreme durch Sprache Bestätigung erfahren, sollten einer solchen Rhetorik Grenzen gesetzt werden, zum Beispiel wenn Politiker gemäßigter Parteien von der AfD als ‘Volkverräter‘ bezeichnet werden und ihnen mit Rache wegen ihrer angeblich falschen Politik gedroht wird.“

Aus Sicht des Extremismusforschers ist es problematisch, dass viele AfD-Wähler weitaus autoritärer als Wähler anderer Parteien eingestellt sind und in einem höheren Maß Gewalt befürworten. Die AfD sei also bereits auf einem Nährboden von Autoritarismus und Gewalt in der Bevölkerung entstanden, so Yendell. “Allerdings hat Georg Mascolo Recht: Verantwortlich für eine Straftat ist immer der Täter bzw. der Mörder. Es wäre fatal, wenn Straftäter nicht die volle Verantwortung für ihre Straftat übernehmen müssen“, sagt Yendell. Denn sonst bestärke man sie möglicherweise in ihrem angeblichen politischen Freiheitskampf, der allerdings nicht altruistischer, sondern egoistischer Natur ist, so der Experte.

Rechtsbruch in der Flüchtlingskrise?

Wie der Rest seiner Partei wirft auch Uwe Junge (AfD) der Bundesregierung vor, im Zuge der Flüchtlingskrise Rechtsbruch begangen zu haben.

Die Diskussion über einen vermeintlichen Rechtsbruch der Bundesregierung nahm 2015 Fahrt auf, als täglich tausende Flüchtlinge aus Österreich nach Deutschland gekommen waren. Besonders die AfD erhebt seither immer wieder den Vorwurf, die Bundesregierung habe gegen geltendes Recht verstoßen, indem sie die Grenzen geöffnet habe. Der ARD-Rechtsexperte Kolja Schwartz stellte hierzu schon 2016 für tagesschau.de fest, dass es grundfalsch sei, davon zu sprechen, Merkel habe die Grenzen geöffnet. Denn innerhalb des Schengen-Raums habe es gar keine Grenzen mehr gegeben, die man hätte öffnen können.

Allerdings ist die Frage auch unter Juristen umstritten. Im Jahr 2016 warf der ehemalige Verfassungsrichter Hans-Jürgen Papier der Bundesregierung in einem Interview mit dem Handelsblatt Politikerversagen vor. Papier will eine noch nie dagewesene Kluft zwischen Recht und Wirklichkeit in der rechtsstaatlichen Ordnung ausgemacht haben. Auch der ehemalige Verfassungsrichter Udo di Fabio hatte bei der Frage der Grenzsicherung zu Österreich juristische Bedenken. In einem Gutachten für die bayerische Landesregierung kommt di Fabio unter anderem zu dem Schluss, dass der Bund verpflichtet sei, eine „funktionsfähige, vertragsgemäße Grenzsicherung (wieder)herzustellen.“ Di Fabio sah für Bayern sogar Erfolgsaussichten, sollte der Freistaat vor dem Bundesverfassungsgericht klagen.

Kritik an dem Gutachten kam unter anderem von Jürgen Bast. Nach Ansicht des Europarechtlers nutzt das Gutachten “fragwürdige staatstheoretische Argumente, um den Bund zu europarechtswidrigen Alleingängen anzuhalten, die dieser den Ländern angeblich verfassungsrechtlich schuldet. Das ist steil“, schreibt Bast auf verfassungsblog.de. Bast wirft di Fabio vor, einer demokratischen Regierung Rechtsbruch zu unterstellen, ohne diesen konkret benennen zu können. Auch der Völkerrechtler Daniel Thym kann in dem Vorgehen der Bundesregierung keinen Verstoß gegen geltendes Recht erkennen. Er schreibt auf verfassungsblog.de: “Man kann die deutschen Behörden mit guten Gründen dafür kritisieren, dass sie die Dublin-Verfahren damals wie heute nicht effektiv handhaben, aber es ist dies kein Rechtsbruch. Im Gegenteil: Der Zuständigkeitsübergang wurde mit deutscher Zustimmung in die Dublin-Regeln aufgenommen.“

Stand: 02.07.2019, 12:49 Uhr