Sorry, liebe Briten: Wer nimmt Euch jetzt noch ernst?

Der Faktencheck zur Sendung vom 08.04.2019

Denn sie wissen nur, was sie nicht wollen – in vier Tagen droht den Briten der harte Brexit. Soll die EU noch einmal Zeitaufschub gewähren? Und gefährdet das britische Drama die ganze EU, weil die wichtigen Themen einfach liegenbleiben?

Eine Talkshow ist turbulent. Oft bleibt keine Zeit, Aussagen oder Einschätzungen der Gäste gründlich zu prüfen. Deshalb hakt hartaberfair nach und lässt einige Aussagen bewerten. Die Antworten gibt es hier im Faktencheck.

Anthony Glees über Brexit und wirtschaftliche Folgen

Der britische Politikwissenschaftler Anthony Glees sagt, den Briten werde erst jetzt klar, was der Brexit für sie eigentlich bedeutet. So seien seit dem Referendum beispielsweise bereits über eine Billion Pfund aus dem Land abgeflossen. Wie stark wirkt sich der bevorstehende Brexit auf die britische Wirtschaft aus?

Dr. Nicolai von Ondarza, Großbritannien- und EU-Experte bei der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP), erinnert daran, dass die britische Regierung und die “Remain-Kampagne“ schon vor dem EU-Referendum vor schwerwiegenden Konsequenzen im Falle eines Brexit-Votums gewarnt haben. “Dies wurde in der britischen Öffentlichkeit jedoch als Angst-Projekt (“Project Fear“) abgetan und hat die Bevölkerung nicht überzeugt, für den Verbleib zu stimmen.“ Die schlimmsten Prophezeiungen seien jedoch nicht eingetreten, sagt von Ondarza. “So hatte beispielsweise das britische Finanzministerium schon für die zwei Jahre nach einem Brexit-Votum (2016-2018) in einem ‚severe shock scenario‘ vor einer tiefen Rezession mit einem Rückgang des BIP von sechs Prozent und einem Verlust von 800.000 Arbeitsplätzen gewarnt.“ Zwar sei ein solch schwerer Schock ausgeblieben, sagt von Ondarza, dennoch hätten Wirtschaftswissenschaftler in Großbritannien eine deutliche Verlangsamung des Wachstums sowie einen starken Rückgang von Investitionen und die Verlagerung von Vermögenswerten beobachtet. Laut einer Studie des britischen “Centre for European Reform“ sei die britische Wirtschaft alleine durch das Brexit-Votum – ausgetreten aus EU und ihrem Binnenmarkt und Zollunion ist Großbritannien ja noch nicht – im Dezember 2018 bereits um 2,5 Prozent geschrumpft. Darüber hinaus seien pro Jahr 19 Mrd. Pfund weniger Steuern eingenommen worden.

“Die Wirtschaftsprüfungsgesellschaft EY schätzt, dass seit 2016 bereits 800 Mrd. Pfund an Vermögenswerten aus London in verschiedene Standorte in der EU übertragen wurden – dies entspricht ca. einer Billion US-Dollar“, sagt der Brexit-Experte. Das entspreche laut EY jedoch nur einem Bruchteil des gesamten britischen Finanzsektors. Angesichts der großen Unsicherheit würden die meisten britischen und internationalen Banken abwarten, wie sich der Brexit weiterentwickelt, so von Ondarza. “Bei einem geordneten Brexit würde zumindest für die Übergangsphase bis Ende 2020 der Zugang zum EU-Finanzmarkt aus London offenbleiben, bei einem harten No-Deal Brexit hingegen wäre mit mehr Verlagerungen zu rechnen“, so die Prognose des Experten. Die ökonomischen Folgen des Brexits seien bereits real und gravierend, so das Fazit des Experten. Noch aber stellen sie keine existentielle Gefahr für die britische Wirtschaft dar, sagt von Ondarza.

Norbert Röttgen über das Brexit-Referendum

Norbert Röttgen (CDU) sagt, das Ergebnis des Referendums, bei dem die Briten über den Brexit abgestimmt haben, sei rechtlich eigentlich gar nicht bindend. Vielmehr sei es ein Auftrag an die Regierung gewesen, das Ergebnis politisch umzusetzen. Stimmt seine Einschätzung?

“In der Tat war das Brexit-Referendum von Juni 2016 rechtlich nicht bindend“, sagt auch Dr. Nicolai von Ondarza. In Großbritannien gelte traditionell die Parlamentssouveränität. “Gemäß dem European Union Referendum Act von 2015 handelte es sich daher vielmehr um ein ‘beratendes Referendum‘ (advisory Referendum) ohne rechtliche Bindewirkung für das Parlament.“ Diese Sichtweise sei auch in einem Urteil des britischen Supreme Courts im November 2016 bestätigt worden, so von Ondarza.

Seiner Ansicht nach habe das Referendum jedoch aus zwei Gründen eine enorme demokratische Bindewirkung in der britischen Politik erzeugt: “Zum einen haben alle Beteiligten vor der Volksabstimmung fest zugesagt, das Ergebnis zu akzeptieren und umzusetzen. So hat die britische Regierung unter dem damaligen Premierminister David Cameron der britischen Bevölkerung versprochen ‘This is your decision. The government will implement what you decide‘ (‘Das ist eure Entscheidung. Die Regierung wird umsetzen, was ihr entscheidet.‘). Auch nach dem Referendum haben alle großen Parteien zugesagt, das Ergebnis zu respektieren“, erinnert von Ondarza. Darüber hinaus habe es mit 72,2 Prozent eine höhere Wahlbeteiligung gegeben als bei allen anderen britischen Wahlen seit 1992 und mit 17,4 Mio. Stimmen hätten mehr Briten für den Brexit gestimmt als für Tony Blair oder Margaret Thatcher auf dem jeweiligen Zenit ihrer Macht. Nach Ansicht des Experten trägt diese politische Bindewirkung auch zur aktuellen konstitutionellen Krise in Großbritannien bei. “Nachdem das Parlament bisher keinen Weg gefunden hat, den Brexit umzusetzen, werfen viele Brexit-Befürworter dem Parlament vor, sich gegen den Willen des Volkes zu stellen“, sagt von Ondarza.

Kühnerts Schlagzeilen-Wunsch in der englischen Übersetzung

Eine Schlagzeile, die sich Kevin Kühnert am kommenden Freitag in der britischen Presse wünscht, ist, “dass ein vernünftiges Mehr an Zeit gewonnen wurde, um die Briten noch einmal neu entscheiden zu lassen, mit einem zweiten Referendum.“

Der britische Journalist Grahame Lucas, vielen als Großbritannien-Experte auf "phoenix" bekannt, hätte diesen Satz für eine britische Zeitung wie folgt übersetzt: "A reasonable extra time has been gained to let the British decide once again, with a second referendum." Denkbar wäre auch: "Enough time has been gained for the British to hold a second referendum."

Da natürlich beide Sätze für eine Zeitungsschlagzeile zu lang sind, schlägt Lucas vor, Kühnerts Wunsch kürzer und prägnanter auszudrücken: "Time gained – new vote!" oder aber auch: "Time gained for a second vote".

Stand: 09.04.2019, 09:01 Uhr