Spalten statt einen – Welche Folgen hat der Erdogan-Besuch?

Der Faktencheck zur Sendung vom 01.10.2018

Großes Staats-Tamtam für Präsident Erdoğan. Hatte er das wirklich verdient? Sind alle Beleidigungen vergessen, inhaftierte Deutsche egal? Oder brauchen wir gute Beziehungen zur Türkei,  wegen des Flüchtlingspakts mit Erdogan und der Türkischstämmigen hier?

Eine Talkshow ist turbulent. Oft bleibt keine Zeit, Aussagen oder Einschätzungen der Gäste gründlich zu prüfen. Deshalb hakt hartaberfair nach und lässt einige Aussagen bewerten. Die Antworten gibt es hier im Faktencheck.

Mustafa Yeneroğlu über den türkischen Rechtsstaat

Das AKP-Mitglied Mustafa Yeneroğlu will den Vorwurf der mangelnden Rechtsstaatlichkeit und der Willkür durch die türkischen Sicherheitsbehörden nicht hinnehmen. Er sagt, das türkische Verfassungsgericht habe in jüngster Vergangenheit die Exekutive immer wieder in ihre Schranken verwiesen. Ist das türkische Verfassungsgericht noch unabhängig genug, um die Rechtsstaatlichkeit in der Türkei zu gewährleisten?

Ob das türkische Verfassungsgericht noch unabhängig genug ist, betrachtet Christoph K. Neumann, Professor für türkische Studien an der Universität München, eher skeptisch. "Seit jeher ist die Türkei das Land, das die meisten Prozesse am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) verliert", sagt der Turkologe. Da beim EGMR nur Klagen eingereicht werden können, wenn die Rechtsmittel im eigenen Land ausgeschöpft sind, bedeute dies, dass das türkische Verfassungsgericht die Rechtsstaatlichkeit, zu der die Einhaltung der Menschenrechte gehört, nur sehr eingeschränkt garantiere, so Neumann. Für ihn aber noch wichtiger: "Das Verfassungsgericht der Türkei hat gar nicht die Aufgabe, die Exekutive zu kontrollieren, sondern beschäftigt sich neben Menschenrechtsfragen mit der Kontrolle der Gesetzgebung des Parlamentes, mit präsidialen Edikten sowie mit Fällen aus der Rechtsprechung, die verfassungsrechtliche Aspekte aufweisen." Präsidiale Edikte, die bis zum Ende des Ausnahmezustands seit dem Putsch im Jahr 2016 erlassen worden sind, könne das Gericht allerdings nicht kontrollieren, sagt Neumann.

Zuständig für verwaltungsrechtliche Probleme und damit auch für die Kontrolle der Exekutive sei in der Türkei das so genannte "Danıştay" als höchstes Verwaltungsgericht, erklärt Neumann. Ausgenommen seien Prozesse gegen Inhaber höchster staatlicher Ämter, die ebenfalls vor dem Verfassungsgericht verhandelt werden, seit vielen Jahren aber nicht mehr vorgekommen sind, so Neumann. Damit sei auch künftig kaum zu rechnen, befürchtet er: "Dadurch, dass Verfassungsrichter eine Amtszeit von zwölf Jahren haben, also relativ häufig wechseln, und der Staatspräsident bei der Auswahl und Ernennung der meisten Mitglieder des Gerichts eine entscheidende Rolle spielt, ist in Zukunft mit einem noch fügsameren Gericht zu rechnen, als das bisher schon der Fall ist." Von einer effizienten Kontrolle der Exekutive durch das türkische Verfassungsgericht könne daher keine Rede sein.

Untersuchungshaft in Deutschland

In den deutschen Vollzugsanstalten saßen zum Stichtag 31.03.18 insgesamt 14.066 Personen in Untersuchungshaft. Grundsätzlich darf die Dauer einer Untersuchungshaft in Deutschland nicht länger als sechs Monate andauern. Allerdings kann diese Frist unter bestimmten Voraussetzungen verlängert werden. Laut Paragraf 121 der Strafprozessordnung kann die U-Haft verlängert werden, „wenn die besondere Schwierigkeit oder der besondere Umfang der Ermittlungen oder ein anderer wichtiger Grund das Urteil noch nicht zulassen und die Fortdauer der Haft rechtfertigen.“ Über die Verlängerung der Untersuchungshaft entscheidet immer ein Oberlandesgericht.

Die Justiz ist nach dem Beschleunigungsgrundsatz verpflichtet, Verfahren gegen Beschuldigte so schnell wie möglich zu verhandeln. Gelingt dies nicht, können Untersuchungshäftlinge – auch wenn dringender Tatverdacht gegen sie besteht – aus der U-Haft entlassen werden. Nach Angaben des Deutschen Richterbundes (DRB) geschah dies im Jahr 2017 51mal. Diese Zahl hat uns der DRB auf Nachfrage bestätigt. Der Richterbund macht unter anderem den Personalmangel an deutschen Gerichten für die vorzeitigen Entlassungen verantwortlich.

Darüber hinaus hat jeder, dem die Dauer der U-Haft oder eines Verfahrens zu lange erscheint, die Möglichkeit sich juristisch zu wehren, bis hin zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte. Erst im Sommer dieses Jahres gab das Bundesverfassungsgericht einem Mann Recht, dem unter anderem die Bildung einer kriminellen Vereinigung vorgeworfen worden war. Das Oberlandesgericht Dresden hatte mehrmals die Verlängerung der Untersuchungshaft angeordnet. Der Prozess gegen den Beschuldigten begann erst gut ein Jahr nachdem er in U-Haft genommen wurde. Die Verfassungsrichter urteilten, dass die Überlastung eines Gerichts eine überlange Untersuchungshaft nicht rechtfertigt.

Über das gesamte Jahr 2016 saßen laut statistischem Bundesamt insgesamt rund 30.000 Personen in Untersuchungshaft. 20 Prozent aller Untersuchungshäftlinge waren weniger als einen Monat in U-Haft. 25 Prozent saßen zwischen einem und drei Monaten und 30 Prozent zwischen drei und sechs Monaten ein. 18 Prozent der Untersuchungsgefangenen mussten zwischen sechs Monaten und einem Jahr hinter Gitter. Bei fünf Prozent dauerte die Untersuchungshaft sogar länger als ein Jahr.

Cem Özdemir ist enttäuscht darüber, dass von dem türkischen Präsidenten Erdogan, der einmal für Aufbruch, Reformen und Liberalisierung stand, nichts mehr übriggeblieben sei. Gab es diesen extremen politischen Wandel des türkischen Staatspräsidenten?

"Ja, einen extremen Wandel gab es“, sagt auch Christoph K. Neumann. Der Wandel habe sich lange hingezogen. Allerdings existieren auch zwei Konstanten, sagt der Türkeiexperte: "Erstens, dass Recep Tayyıp Erdoğan und die AKP eine neoliberale Politik verfolgen, die die Türkei durch Wachstum entwickeln soll. Wegen des ständigen Zahlungsbilanzdefizites und anderer struktureller Schwächen ist diese Politik auf ständige Investitionen aus dem Ausland angewiesen.“ Andererseits führe diese Politik zu massiven sozialen Veränderungen im Land, die - und dies sei die zweite Konstante der Politik Erdoğans - durch eine nationalistisch-islamische Identitätspolitik aufgefangen und moderiert werden, sagt Neumann, der den Wandel so erklärt: “Diese Politik richtete sich ursprünglich an alle Bevölkerungsschichten, also zum Beispiel auch an Kurden, Aleviten und säkulare Kreise, und versuchte auch diese für die Zwecke der AKP zu mobilisieren. Dabei spielten der EU-Integrationsprozess und die Stärkung der zivilen Strukturen des Landes - durch die das Militär seine Dominanz in der türkischen Politik tatsächlich einbüßte - eine entscheidende Rolle."

Schon im Jahr 2011 habe ein Umschwung eingesetzt, der in der deutschen Öffentlichkeit erst bei den Gezi-Protesten 2013 ganz deutlich wahrgenommen worden sei, so Neumann. Nach Ansicht des Türkei-Experten gab es für diesen Kurswechsel zahlreiche außen- und innenpolitische Gründe. Zu den außenpolitischen Gründen zählen laut Neumann etwa das Stocken des EU-Aufnahmeprozess, der syrische Bürgerkrieg, der Sturz der Regierung der Muslimbrüder in Ägypten und der Staatsverfall im Irak. Innerhalb der Türkei seien der Konflikt der Kreise um Erdoğan mit den Gülenisten, der Aufstieg der links-kurdischen HDP und vor allem die Erkenntnis Erdogans, dass er innenpolitisch nicht mehr gefährdet ist, für den Kurswechsel verantwortlich. "In der Folge hat Erdoğan die Türkei so umgebaut, dass man von einer Diktatur reden kann, die von der Hälfte der Bevölkerung fest unterstützt wird", so das Fazit des Experten.

Stand: 02.10.2018, 10:49 Uhr