Beruf Niedriglöhner – Wirtschaftsboom auf Kosten der Ärmsten?

Der Faktencheck zur Sendung vom 30.04.2018

Hohes Wirtschaftswachstum, niedrige Arbeitslosigkeit – dem Land geht es gut. Aber gilt das auch für alle Bürger? Wieso boomen gleichzeitig Ausbeutung und Lohndrückerei? Die Diskussion nach der Dokumentation zum Thema.

Eine Talkshow ist turbulent. Oft bleibt keine Zeit, Aussagen oder Einschätzungen der Gäste gründlich zu prüfen. Deshalb hakt "hart aber fair" nach und lässt einige Aussagen bewerten. Die Antworten gibt es hier im Faktencheck.

Christian Lindner über befristete Beschäftigte im BMAS

Christian Lindner (FDP) sagt, das Bundesarbeitsministerium habe unter den Ministerien die höchste Quote an befristet Beschäftigten.

2016 waren 340 Menschen mit einem Zeitvertrag beim Bundesarbeitsministerium beschäftigt. Bei insgesamt 2710 Mitarbeitern lag die Quote der befristet Beschäftigten bei 12,5 Prozent. Im Vergleich zum Jahr 2013 war dies ein Anstieg um 2,4 Prozent. Das geht aus einer Antwort der Bundesregierung auf eine Anfrage der Linken hervor. Die Bundesregierung bezieht sich dabei auf die aktuellsten Zahlen der Personalstandstatistik des statistischen Bundesamtes aus dem Jahr 2017. Bei 125 Beschäftigten war die Befristung der Stelle sachgrundlos. Das sind rund 41 Prozent aller befristet Beschäftigter.

Das Bundesarbeitsministerium weist allerdings nicht die höchste Quote befristet Beschäftigter auf. Höher liegt sie beispielsweise im Bundesfamilienministerium. Hier waren 2016 22,6 Prozent der 1.940 Beschäftigten befristet angestellt. Und auch im Wirtschaftsministerium war die Quote höher. Von 9.970 Beschäftigten waren 1.765 mit einem Zeitvertrag ausgestattet. Das entspricht einer Quote von 17,7 Prozent.

Clemens Fuest über Mindestlohn und Arbeitsplätze

Der Chef des Ifo-Instituts Clemens Fuest sagt, seit Einführung des Mindestlohns seien wegen der Mehrkosten für die Unternehmern insgesamt 50.000 Arbeitsplätze verloren gegangen.

“Der direkte Einfluss des Mindestlohns auf die Entwicklung der Arbeitsplätze ist nicht unmittelbar auf dem Arbeitsmarkt ablesbar“, sagt Ulrike Stein, Arbeitsmarktexpertin bei der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung. Diese Effekte könnten immer nur mittels ökonometrischer Methoden geschätzt werden, so die Expertin. Da unklar sei, auf welche Untersuchungen sich Clemens Fuest bezieht, sei eine unmittelbare Überprüfung seiner Aussage schwierig. Das Ifo-Institut habe 2017 in einer Bilanz von 60.000 Arbeitsplätzen gesprochen, die der Mindestlohn gekostet habe, so Stein. Dabei handele es sich allerdings überwiegend aufgrund des Mindestlohns erst gar nicht geschaffene Arbeitsplätze. Das Ifo-Institut bezieht sich auf eine Untersuchung der Wirtschaftswissenschaftler Hans-Dieter Gerner und Mario Bossler für das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) aus dem Jahr 2015.

Das (IAB) untersuchte mit Daten seines "Betriebspanels“ außerdem, wie die Unternehmen mit Blick auf die Beschäftigung auf die Einführung des Mindestlohns reagiert haben. Nur 4,7 Prozent der vom Mindestlohn betroffenen Betriebe hätten sich demnach zu Entlassungen gezwungen gesehen, so die Autoren. Betroffen waren demnach rund 18.000 Mitarbeiter. Um die Belastungen des Mindestlohns zu bewältigen, reagierten die meisten Betriebe eher mit Zurückhaltung bei Neueinstellungen, so die Ergebnisse des IAB aus dem Jahr 2016.

Ukrike Stein verweist auf ein grundsätzliches Problem ökonometrscher Schätzungen. Diese würden immer in Verbindung mit bestimmten Annahmen abgegeben und kommen – je nach getroffener Annahme – zu unterschiedlichen Ergebnissen. “So wurden im Vorfeld der Einführung des gesetzlichen Mindestlohns unter Verwendung von fragwürdigen Annahmen, Analysen mit Horrorszenarien veröffentlichet, die den Verlust von 900.000 Arbeitsplätzen vorhersagten“, erinnert sich Stein. Inzwischen aber sei es ökonomischer Konsens, dass der Mindestlohn zu keinen merklichen Arbeitsplatzverlusten geführt habe. “In diesen Kontext passt auch Clemens Fuests Aussage, auch wenn er den Arbeitsplatzabbau betont. Gemessen an den knapp 40 Millionen Arbeitnehmern im Jahr 2017 entsprechen 50.000 Arbeitsplätze gerade einmal einem Anteil von 0,1 Prozent“, sagt Ulrike Stein.

Es gebe sogar eine Verschiebung weg von den Minijobs hin zur sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung, „die infolge der Mindestlohneinführung wieder an Attraktivität gewonnen hat und die durch ihre Sozialversicherungsbeiträge entscheidend zur Finanzierung unseres Sozialstaates beitragen“, so die Expertin. „Die Zahl der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung entwickelte sich zwischen den Jahren 2015 und 2017 sehr dynamisch und nahm um ungefähr 2.016.000 Stellen zu, ein Anstieg der deutlich größer war als in den drei Jahren vor der Einführung des Mindestlohns“, sagt Stein. Der Zuwachs der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung überkompensiere somit den Rückgang bei den Minijobs.

Offene Stellen in Deutschland

Wie viele Stellen offene Stellen gibt es derzeit in Deutschland?

Bei der Bundesagentur für Arbeit sind aktuell 784.000 offene Stellen gemeldet. Das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) – das BA-eigene wissenschaftliche Institut - meldet dagegen mit 1,2 Millionen offenen Stellen einen neuen Rekordwert.

Die Differenz lässt sich leicht erklären: Während die Bundesagentur lediglich die Zahl der Stellen angibt, die auch bei der BA gemeldet sind, berücksichtigt das IAB auch jene Jobs, die von den Betrieben nicht bei den Arbeitsagenturen gemeldet wurden. Hierfür erhebt und analysiert das IAB einmal pro Quartal Daten, die sie durch repräsentative Umfragen unter den Betrieben erhält.

Unterschiedliche Zahlen zu Mindestlohn

Wie viele Menschen bekommen weniger als den ihnen zustehenden gesetzlichen Mindestlohn? Clemens Fuest hält die Zahlen des DIW (bis zu 2,6 Millionen) für übertrieben. Er hält sich lieber an die Daten des statistischen Bundesamtes und spricht von etwa 850.000.

Clemens Fuest bezieht sich auf die aktuellste Verdiensterhebung des statistischen Bundesamtes (Destatis) aus dem vergangenen Jahr. Die Größenordnung, die er nennt, stimmt mit den Daten des Destatis überein: Demnach bekamen im Jahr 2016 rund 750.000 Menschen weniger als den Mindestlohn. Dagegen schätzt das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW), dass im gleichen Jahr – je nach Berücksichtigung der tatsächlichen Arbeitszeit - zwischen 1,8 und 2,6 Millionen Menschen weniger als den damals gültigen Mindestlohn von 8,50 Euro bekommen haben.

Das statistische Bundesamt erhebt seine Daten durch Befragungen der Betriebe. Für die Verdiensterhebung 2016 sammelten die Statistiker Daten von 7.862 Betrieben. Angefragt aber wurden 125.000 Betriebe. Diese geringe Antwortquote (6,3 Prozent) ist für die Autoren des DIW einer der Gründe für die abweichenden Zahlen. Das DIW selbst wiederum erhebt seine Daten über das Sozioökonomische Panel, für das einmal jährlich in einer repräsentativen Umfrage 30.000 Befragte Angaben zu Einkommen, Erwerbstätigkeit, Bildung und Gesundheit machen. Aber auch diese Befragungsdaten können Messfehler enthalten, räumt das DIW ein.

Clemens Fuest über Verstöße gegen Mindestlohn

Clemens Fuest sagt, nachdem sich die Unternehmen an die Einführung und Umsetzung des Mindestlohns gewöhnt haben, seien die Verstöße gegen den Mindestlohn zurückgegangen.

Betrachtet man nur die Ermittlungsverfahren, ist das Gegenteil der Fall. Nach Angaben der Bundesregierung hat die “Finanzkontrolle Schwarzabeit“ (FKS) des Zolls im vergangenen Jahr 2.518 Ermittlungsverfahren wegen Nichtgewährung des gesetzlichen Mindestlohns eingeleitet. Das war im Vergleich zum Vorjahr (1.651) ein deutlicher Anstieg. 2015 lag die Zahl der Ermittlungsverfahren in diesem Bereich noch bei 705. Bei der Nichtgewährung branchenspezifischer Mindestlöhne sank die Zahl aus dem Jahr 2015 (2.061) zunächst auf 1.782, ehe sie im vergangenen Jahr wieder über 2.100 anstieg.

Rückläufig sind dagegen die Freiheitsstrafen, die wegen Verstößen gegen das Mindestlohngesetz verhängt wurden: 2015 wurden noch insgesamt 812 Jahre Freiheitsstrafe verhängt. 2016 gingen sie leicht auf 805 Jahre zurück. Deutlicher war der Rückgang im Jahr 2017, als Verstöße nur noch mit 733 Jahren Gefängnis bestraft wurden. Die Geldstrafen bewegen sich seit drei Jahren zwischen 7,9 (2015) und 7,6 (2017) Millionen Euro.

Stand: 01.05.2018, 09:28 Uhr