Warten zweiter Klasse – was bessert sich für Kassenpatienten, Herr Spahn?
Der Faktencheck zur Sendung vom 19.03.2018
Eine Grippewelle wie jetzt und schon laufen die Wartezimmer über - und die Fragen an Jens Spahn, den neuen Gesundheitsminister, werden drängender: Was tun gegen lange Wartezeiten, den Ärztemangel besonders auf dem Land, das Hinten-Anstellen bei Fachärzten?
Eine Talkshow ist turbulent. Oft bleibt keine Zeit, Aussagen oder Einschätzungen der Gäste gründlich zu prüfen. Deshalb hakt "hart aber fair" nach und lässt einige Aussagen bewerten. Die Antworten gibt es hier im Faktencheck.
Andreas Gassen über PKV, GKV und Absicherung
Andreas Gassen, Vorsitzender der Kassenärztlichen Bundesvereinigung, sagt, gesetzlich Versicherte seien für fast alle Risiken abgesichert. Dies gelte für Privatpatienten nicht. Ist die Absicherung in der GKV tatsächlich besser?
Prof. Stefan Greß, Gesundheitsökonom an der Hoschschule Fulda, stimmt der Aussage zumindest teilweise zu, differenziert aber zwischen den unterschiedlichen Versichertengruppen in der PKV: "Fast die Hälfte der Versicherten in der PKV sind Beamte. Das Leistungsspektrum der Beamten in der PKV orientiert sich an dem der GKV – insofern gibt es bei dieser Versichertengruppe wenig Unterschiede", erklärt der Gesundheitsökonom. Für alle anderen Versicherten – vor allem gutverdienende Angestellte und Selbständige – könnten sich die versicherten Leistungen tatsächlich erheblich unterscheiden. "Es gibt Hinweise darauf, dass vor allem ältere Versicherte und Selbständige zunehmend Versicherungsverträge mit niedrigeren Prämien abschließen. Dann ist aber natürlich der versicherte Leistungsumfang geringer und die Selbstbeteiligungen höher." Für einen erheblichen Teil der PKV-Versicherten sei die Absicherung in der Tat schlechter als in der GKV - genaue Zahlen hierzu seien allerdings nicht veröffentlicht, so der Experte.
Jens Spahn über Wartezeiten auf Arzttermine
Der neue Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) hält nichts von der Abschaffung der privaten Krankenkassen. Er sagt, wenn es nur noch eine Versicherung gäbe, würden alle Patienten länger auf einen Arzttermin warten. Ist das plausibel?
Das sieht Stefan Greß anders: "Die Einführung einer Bürgerversicherung würde dazu führen, dass es keine unterschiedlichen Vergütungsanreize für unterschiedliche Versichertengruppen mehr gäbe", sagt der Versorgungsforscher. Die Terminvergabe würde sich dann nach der Dringlichkeit der Behandlung und nicht nach der Antwort auf die Frage "Privat oder Kasse" richten, so Greß. "Das vom Minister angeführte Argument hat demzufolge keine empirische Grundlage."
Andreas Gassen über Wartezeiten im Vergleich
Andreas Gassen sagt, nirgendwo in Europa bekommen Patienten schneller einen Arzttermin als in Deutschland. Stimmt das?
Stefan Scholz, Gesundheitsökonom an der Universität Bielefeld, macht darauf aufmerksam, dass für die Wartezeiten im ambulanten Bereich kaum Ländervergleichsstudien existieren. Eine dieser wenigen Studien habe im Jahr 2004 die Wartezeiten für Personen über 50 Jahre auf einen Termin bei einem Facharzt verglichen. “Unter den neun untersuchten europäischen Ländern (Österreich, Deutschland, Dänemark, Spanien, Frankreich, Griechenland, Italien, Niederlande und Schweden) weist Deutschland mit durchschnittlich 1,84 Wochen die drittniedrigste Wartezeit hinter Österreich (1,83 Wochen) und Griechenland (0,86 Wochen) auf“, sagt Scholz.
Eine aktuellere Studie des Commonwealth Fund aus dem Jahr 2013 zeige, dass in Deutschland zwar der Anteil der Befragten, die innerhalb von 24 Stunden einen Termin bei einem Arzt bekommen, am höchsten ist, so der Experte. Die Patienten, die den Termin aber nicht innerhalb von 24 Stunden bekommen, warten in Deutschland demnach durchaus länger als in anderen Ländern. Auch bei den Wartezeiten auf einen Facharzttermin stehe Deutschland demnach nicht an erster Stelle: “72 Prozent aller Befragten bekommen einen Termin innerhalb von vier Wochen, zehn Prozent warten jedoch mehr als zwei Monate“, sagt Scholz. Im Vergleich zu den untersuchten Ländern (Schweiz, Großbritannien, den USA, den Niederlanden, Neuseeland, Schweden, Australien, Frankreich, Norwegen und Kanada) lande Deutschland damit jeweils auf dem fünften Platz, sagt der Gesundheitsökonom.
Anette Dowideit über Zweiklassenmedizin
Die Journalistin Anette Dowideit erkennt nicht nur bei den Wartezeiten eine Zweiklassenmedizin. Sie sagt, gesetzlich Versicherte bekommen zum Teil auch eine schlechtere medizinische Versorgung als Privatpatienten. Werden Kassenpatienten schlechter behandelt als Privatpatienten?
Das geht dem Gesundheitsökonomen Stefan Greß zu weit. “Wir wissen wenig darüber, ob gesetzlich Versicherte auch medizinisch schlechter versorgt werden." Zwar gebe es für gesetzlich Versicherte tendenziell eher Anreize für eine Unterversorgung, während privat Versicherte eher überversorgt würden, so Greß. Dies sei problematisch, empirisch lasse sich die Behauptung jedoch nicht belegen. Anders sehe dies bei Arztterminen aus: “Es gibt viele empirische Belege dafür, dass es unterschiedlich lange Wartzeiten in der ambulanten ärztlichen Versorgung gibt – vor allem beim Facharzt“, sagt der Versorgungsforscher.
Auch nach Ansicht von Stefan Scholz ist die Behauptung wissenschaftlich nur schwer zu belegen. Es sei sehr schwer, die Behandlungsqualität objektiv zu messen, so der Gesundheitsökonom. “Es gibt jedoch Studien für Deutschland, die zeigen, dass privatversicherte Krebspatienten ihre behandelnden Ärzte als empathischer einschätzen als gesetzlich versicherte Krebspatienten und dass privat versicherte Migränepatienten schneller neu zugelassene Medikamente verschrieben bekommen als gesetzlich Versicherte.“ Ob diese Unterschiede aber allein auf den Versichertenstatus zurückzuführen sind, könne aufgrund der Studienlage nicht gesagt werden, so Scholz.
Zumindest für die Unterschiede bei der Medikamentenversorgung gebe es einen Erklärungsansatz, Scholz: “Neu zugelassene Medikamente kommen durch die Nutzenbewertung des Gemeinsamen Bundesausschusses für gesetzlich Versicherte tendenziell langsamer in die Versorgung GKV-Versicherter. Privat Versicherte bekommen neue Medikamente in der Regel schneller verordnet.“ Genauere Erkenntnisse gibt es nach Ansicht von Stefan Scholz auch deshalb nicht, weil die einzelnen Verbände ihre Daten nur dann herausgeben, wenn die Ergebnisse der Studien mit den eigenen Interessen in Einklang stehen. “Hier könnte die Politik durchaus für mehr Transparenz sorgen“, fordert der Experte.
Gerd Glaeske über Arztdichte und Privatpatienten
Der Gesundheitswissenschaftler Gerd Glaeske beobachtet den Trend, dass sich Ärzte lieber in wirtschaftlich stärkeren Regionen und Stadtteilen niederlassen. Dort könnten sie mehr Geld verdienen, weil die Dichte der Privatpatienten höher ist als in sozial schwächeren Gegenden. Gibt es diesen Trend?
"Generell ist zu beobachten, dass die Anzahl niedergelassener Ärzte pro Einwohner in Ballungsgebieten höher ist, als dies durch die Dichte der zu versorgenden Bevölkerung zu erwarten wäre“, sagt Stefan Scholz. Das gelte für Fachärzte in stärkerem Maße als für Hausärzte. Allerdings seien die Zahlen zur regionalen Verteilung von Privatversicherten nicht öffentlich zugänglich, sagt Scholz. Daher könne deren Zahl nur mit statistischen Verfahren abgeschätzt werden. “Mehrere Studien haben über eine solche Abschätzung einen positiven Zusammenhang zwischen der Zahl der Privatversicherten und der Anzahl der Ärzte in einem Kreis gefunden“, sagt Scholz. Um einen echten Trend zu bestätigen oder zu widerlegen, reichen die Daten allerdings nicht aus, erklärt Scholz. Zwar seien Privatversicherte tatsächlich vermehrt in urbaneren Gebieten zu finden, sagt Scholz. Ob dies jedoch der Grund für die Wahl des Praxisstandortes ist oder die Lebensumstände, lasse sich nicht eindeutig feststellen. “Studien zeigen, dass für eine Niederlassung neben dem 'harten Faktor' Einkommen oftmals das Umfeld für die Familie und andere 'weiche' Faktoren durchaus einen Einfluss ausüben“, sagt Scholz.
PKV - Risiko- oder Solidarversicherung?
Zwischen Jens Spahn, Gerd Glaeske und Christoph Lanzendörfer gab es Uneinigkeit darüber, ob man die PKV – ähnlich wie die GKV – als eine Solidarversicherung betrachten könne. „Natürlich“, sagt Spahn, während Glaeske und Lanzendörfer sie lediglich als eine „Risikoversicherung“ bezeichnen, die mit dem Solidargedanken der GKV nichts zu tun habe. Wer hat Recht?
Wie Gerd Glaeske und Christoph Lanzendörfer hält auch Stefan Greß die private Krankenversicherung für eine reine Risikoversicherung. “Natürlich haben auch Risikoversicherungen in beschränktem Umfang einen Solidarcharakter“, sagt Greß. Allerdings beschränke sich dieser auf die Versicherten im jeweils versicherten Tarif – dies sei bei allen Versicherungen so. “Der Solidarcharakter der gesetzlichen Krankenversicherungen (GKV) äußert sich darin, dass Kranke keinen höheren Beitrag zahlen als Gesunde“, sagt der Experte. Darüber hinaus gelte in der GKV der Grundsatz, dass einkommensstarke Personen höhere Beiträge bezahlen als einkommensschwache Personen. Nach Ansicht von Greß schwächt die private Krankenversicherung (PKV) sogar den Solidarcharakter der GKV, weil sich in der PKV vor allem einkommensstarke und gesunde Menschen versichern.
Stand: 20.03.2018, 07:54 Uhr