Fremde gegen Deutsche, Arme gegen Arme:  Was zeigt der Fall der Essener Tafel?

Der Faktencheck zur Sendung vom 05.03.2018

Lebensmittel nur für Deutsche – über die Entscheidung der Essener Tafel wird politisch gestritten: War das ein fremdenfeindliches Signal oder ein verständlicher Hilferuf? Werden ehrenamtliche Helfer bei uns allein gelassen, Arme gegen Arme ausgespielt?

Eine Talkshow ist turbulent. Oft bleibt keine Zeit, Aussagen oder Einschätzungen der Gäste gründlich zu prüfen. Deshalb hakt "hart aber fair" nach und lässt einige Aussagen bewerten. Die Antworten gibt es hier im Faktencheck.

Stephan Mayer über den Sozialstaat Deutchland

Stephan Mayer (CSU) verteidigt den deutschen Sozialstaat. Er sagt, ein Fünftel des Bruttosozialproduktes werde in Deutschland für Sozialausgaben verwendet . Stimmt das?

“Die Sozialleistungsquote – also der Anteil aller Ausgaben für Sozialleistungen – beträgt aktuell sogar fast 30 Prozent des Bruttoinlandsproduktes“, sagt Olaf Groh-Samberg, Professor für Soziologie an der Universität Bremen. Geschätzt seien dies im vergangenen Jahr 962 Milliarden Euro gewesen. Der Armutsexperte bezieht sich auf Zahlen des Sozialberichts des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales (2017). Demnach blieb die Sozialleistungsquote zwischen 2011 und 2016 bei rund 29 Prozent stabil. Für 2017 errechneten die Autoren einen Anstieg der Quote auf 29,8 Prozent. “Die größten Ausgabenbereiche der Sozialleistungen entfallen dabei auf die Kranken- und die Rentenversicherung“, erklärt Groh-Samberg. Der Anteil der Ausgaben für Leistungen nach dem SGB II (“Hartz IV“) mache mit 45,4 Mrd. Euro in 2017 nur einen geringen Anteil von 1,4 Prozent des BIP aus, so der Experte für ökonomische Ungleichheit.

Michael Hüther über Armut in Deutschland

Der Chef des Instituts der deutschen Wirtschaft, Michael Hüther, sagt, die Armut in Deutschland sei seit 2005 nicht weiter gestiegen. Hat er Recht?

“Die Armutsrisikoquote – also der Anteil der Wohnbevölkerung, der über weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens verfügt – ist in Deutschland zwischen 1999 und 2005 sehr stark angestiegen“, sagt Olaf Groh-Samberg. Zwar sei dieser Anstieg seit 2005 zunächst gestoppt worden, dennoch gäbe es auf Basis unterschiedlicher Datenquellen Anzeichen für eine erneute leichte Zunahme von Armut seit etwa 2010, sagt der Experte. Auf Grundlage des Mikrozensus zeige sich ein Anstieg von etwa 14,5 Prozent im Jahr 2010 und den Jahren zuvor auf etwa 15,5 Prozent in den Jahren 2013-2015. Auch die europäische Statistikbehörde Eurostat verzeichne eine Zunahme der Armutsrisikoquote von etwa 15,5 Prozent in 2009 auf 16,5 Prozent im Jahr 2016, so Groh-Samberg. Zahlen des Sozio-oekonomischen Panels (SOEP) ergeben einen noch deutlicheren Anstieg, so der Experte. Demnach stieg die Armutsrisikoquote von 14 bis 14,5 Prozent in den Jahren 2005-2007 auf über 16 Prozent in den Jahren 2014 und 2015. Der Armutsforscher weist allerdings darauf hin, dass sich die voneinander abweichenden Niveaus der Armutsrisikoquoten durch unterschiedliche Datenquellen erklären lassen. “Auch sind geringfügige Änderungen der Armutsquote aufgrund statistischer Unsicherheiten nicht immer auf die Kommastelle genau abzusichern. Insofern sind Aussagen wie die obigen stets mit Vorsicht zu interpretieren“, erklärt Groh-Samberg.

Sanktionen für Arbeitssuchende nach SGB II

Der Leiter der Wattenscheider Tafel, Manfred Baasner, beobachtet, dass sich besonders junge Menschen in seiner Umgebung nicht mehr um einen Arbeitsplatz bemühen müssen, weil ihnen Sozialleistungen sicher seien. Das kann Katja Kipping (Die Linke) nicht nachvollziehen. Denn besonders für die unter 25-jährigen gelten bei Pflichtverletzungen strengere Sanktionen. So stehe es im SGB II.

Katja Kipping hat mit Blick auf die Gesetzeslage Recht. Paragraf 31 des Sozialgesetzbuches II (SGB II) regelt, wann eine Pflichtverletzung vorliegt und wie sie sanktioniert wird. Eine Verletzung der Pflichten eines Beziehers von Hartz IV liegt beispielsweise dann vor, wenn er sich weigert, eine zumutbare Arbeit anzunehmen oder eine Eingliederungsmaßnahme in den Arbeitsmarkt nicht antritt oder abbricht. Während die Sanktionen bei über 25-jährigen in einer ersten Stufe mit der Kürzung des Hartz IV-Regelsatzes um 30 Prozent beginnen, müssen unter 25-jährige damit rechnen, dass nur noch ihre Kosten für Wohnung und Heizung übernommen werden. Bei wiederholter Pflichtverletzung droht den unter 25-jährigen sogar der Verlust des gesamten Anspruchs auf das ALG II (§ 31a SGB II). Für wiederholte Pflichtverletzungen bei über 25-jährigen ALG II-Empfängern droht zunächst eine weitere Kürzung des Regelbedarfs um 60 Prozent. Erst bei weiteren Verstößen müssen auch über 25-jährige mit dem vollständigen Entzug des ALG II rechnen. Junge Arbeitslose werden also schneller und härter sanktioniert, wenn sie nicht mit der Arbeitsagentur kooperieren. So steht es im Gesetz.

Stand: 06.03.2018, 08:00 Uhr